Max Eyth
Madonna
Max Eyth

Max Eyth

Madonna

Aus: Feierstunden

Und da lag er, der prachtvolle See! Leise schlugen die grünen Wellen gegen die Hafenmauern von Colico; sengend strahlte die Mittagssonne auf die herrliche Fläche; da und dort schlich, halb eingeschlummert, ein einsames Segel an dem schattigen Gestade von Gravedona hin. Mein Reisegefährte, der Privatgelehrte Dr. Würmle, hatte sich, einen Sonnenstich befürchtend, in das Wirtshaus gegenüber geflüchtet; ich spannte mit deutscher Gemütsruhe meinen Schirm aus, legte mein Skizzenbuch auf die Brüstung und zeichnete – nichts!

Dort gegen Süden, über der waldigen Landzunge, wiegte sich eine Pinie; drüben bei Domaso entdeckte ich hinter einer blendend weißen Kirche die ersten Zypressen. Mein Herz klopfte schneller. Ich hatte so oft von Pinien geträumt; träumte ich wieder? Ich riß meine Augen auf, so weit es ging, ich atmete tiefer. Die Pinie blieb stehen, der Balsam der Luft durchdrang mir alle Glieder; es war Wirklichkeit, ich war am Comersee, ich war in Italien!

Das Dampfschiff, das etwas abseits lag, sollte um ein Uhr abgehen und fing eben erst zu rauchen an, als ein Herr langsam über den Damm auf mich zugeschritten kam und sich schweigend über die Brüstung hinausbeugte. Wir sprachen wohl eine Viertelstunde lang kein Wort; ich vergaß ihn fast. Ob ich mir laut etwas vordeklamierte – ich kann es nicht mit Bestimmtheit leugnen; es kommt bei jungen Leuten vor, die Italien zum erstenmal begrüßen. Plötzlich wandte sich der Fremde gegen mich. Ein schwarzes, brennendes Auge war eigentlich das einzige, was ich von ihm sah. Er sagte auf Französisch: »Sie sehen den See zum erstenmal, mein Herr?«

Das Französische paßte nicht zu diesem Auge. Ich erwiderte daher, ohne ihn eigentlich anzublicken, in meinem besten Italienisch: »Sie sind wohl nicht so fremd hier wie ich?«

Ich weiß nicht, was es war, es blitzte etwas über das Gesicht, das mich unbehaglich berührte. Der Fremde warf dann einen Blick rückwärts. Dreißig Schritte von uns lag auf der Brüstung ein Schifferjunge und schlief; sonst waren wir allein.

»Und wie gefällt Ihnen dieser Winkel der Welt?« sagte er leiser und die schönsten italienischen Laute, die ich jemals gehört, wiegten mich wieder in meine Träume zurück. Ich schaute hinab in die herrliche, smaragdgrüne Flut und gab unartigerweise lange keine Antwort.

»Es muß eine unnennbare Wollust sein«, sagte ich endlich mehr vor mich hin, als gegen den Herrn gewendet, »in diesen Wellen zu versinken!« –

»Ach, Sie sind ein Deutscher!« rief er plötzlich.

Ich sah ihn zum erstenmal fest an. Feine, scharf markierte Züge, braune Wangen, ein schwarzer Bart und eine elegante, lose Kleidung, die einen gewissen phantastischen Geschmack verriet, gaben ihm eine Schönheit, die fast zu ausgeprägt war, um jugendlich und, ich möchte sagen, zu unruhig, um wirklich schön zu sein. Ich war im Addatal schon ein paar derartigen Gestalten begegnet; sie hatten immer den gleichen Eindruck auf mich gemacht; in der Ferne zogen sie mich an; in ihrer Nähe wurde mir ein wenig bange.

Bei meinen Worten zuckte ein stolzes, bitteres Lächeln über das Gesicht des Fremden, ehe er fortfuhr: »Ich bin ein Provenzale und verstehe die deutschen Träumereien nicht ganz. Es ist überhaupt etwas Wunderliches um die Deutschen. Sie träumen Tag und Nacht und haben doch in dem Lande, das sie so oft das Land ihrer Träume nennen, gar manchen schönen Traum zerstört!«

»Wie verstehen Sie das?«

»Haben Sie im Sinn, länger in Oberitalien zu bleiben?«

»Ich denke, ja!«

»So werden Sie mich vielleicht verstehen.«

Mir schien's, der Provenzale spreche von den italienischen Zuständen nicht so gleichgültig, wie es von einem Provenzalen zu erwarten war. Ich glaubte, das Italienische zu verstehen, aber ich merkte, daß die Provenzalen auch mit den Augen und mit den Gesichtsmuskeln italienisch sprechen, und entzifferte die merkwürdigsten Vermutungen auf diese Weise. Übrigens schien der Fremde etwas verstimmt zu sein und wir schauten wieder schweigend über den See.

Es wurde lebhafter um den Hafen. Der Dampfer qualmte mit aller Macht. Seine Glocke gab jetzt ein erstes Zeichen. Da stürzte wie rasend Würmle, mein treuer Genosse und Freund, aus dem Hotel, schwer beladen mit meinem und seinem eigenen Gepäck, hinter ihm drein die nach Bezahlung einer Kotelette schreiende Kellnerin, beiden voran ein heulender Pudel, der auf der Schwelle des Gasthofs geschlafen hatte. Vergebens riefen ihm mehrere Leute zu: er habe noch über eine Viertelstunde Zeit. Das Geschrei verdoppelte seine Eile, seine Eile verzehnfachte das Geschrei, namentlich bei der beleibten Kellnerin, die bereits nach seinem weitflatternden Rockzipfel haschte. Der ganze Hafen kam in Aufregung; böse Buben setzten sich in Bewegung, meinen armen Doktor zu verfolgen, der unter schallendem Gelächter mit Anstrengung seiner letzten Kräfte sich den Händen der keuchenden Nymphe entriß und über das Brett des Dampfboots setzte.

Auch über die finsteren Züge des Provenzalen flog der Schatten jenes Lächelns, das mich schon einmal, um es ehrlich zu gestehen, stechend berührt hatte. Ich sagte daher geärgert: »Sie finden diese Szene mit Recht komisch, mein Herr, und doch versichere ich Ihnen, daß dieser Herr durch sein tiefgehendes Wissen, seine ausdauernden Studien auf dem Gebiete der Naturwissenschaften die Bewunderung eines Jeden verdient«.

»Sie tun mir unrecht«, versetzte der Fremde mit einer Höflichkeit, die mich schnell versöhnte; denn sie schien nicht bloße Form zu sein, »aber das ist auch eine der Eigentümlichkeiten Ihrer Landsleute: sie sind in einem Atem erhaben und lächerlich. Hie und da vergißt ein Fremder das eine über dem andern. Sie müssen das verzeihen! Doch gehen wir jetzt selbst zum Dampfschiff, um Ihren Freund zu beruhigen!«

Wir fanden nichts mehr zu beruhigen. Die Kellnerin kam uns mit freudestrahlendem Gesicht entgegen. Ich kannte die Ursache aus früheren Erfahrungen. Würmle war bei Trinkgeldern, die er immer mit einem gewissen schüchternen Erröten gab, freigebig, als ob er ein kleiner Krösus wäre. Aus dem Gelächter machte er sich nichts.

»Aber, Doktor, ich bitte Sie, was ist Ihnen eingefallen?« rief ich ihm von weitem entgegen.

»Besser zu früh, als zu spät!« sagte er lakonisch und öffnete mit peinlicher Vorsicht eine der Schachteln, die er auf den Tisch des Verdecks gestellt hatte, ohne sich weiter um seine Umgebung zu kümmern. Ich ging auf das Vorderteil des Schiffs und vergaß über den blitzenden Schneebergen, dem tiefen Blau des Addatals und dem Grün des Sees, was um mich her vorging.

Mittlerweile hatte sich das Schiff gefüllt und stieß vom Lande. Die Reisegesellschaft zog mich nicht an. Vier Engländer, welche auf dem Bänkchen beim Steuerbord sofort einschliefen, eine kleine Gesellschaft lebhafter Franzosen, die sich unter fortwährendem Gelächter vermittelst der Blumen-, Augen- und Fingersprache mit ein paar Italienerinnen in Verbindung setzten, einige Norddeutsche, die auch unter sich immer nur eine Mischung von Italienisch, Französisch und Englisch sprachen, und eine Anzahl stummer Personen, – das war alles.

Würmle hatte, als ihm das Getriebe auf dem Schiff zu stark wurde, seine Schachteln zusammengepackt und saß etwas wehmütig auf einem Feldstuhle zwischen den Radkästen. Mein Provenzale stand mit übereinandergeschlagenen Armen auf der äußersten Spitze des Schiffs und schaute, den Hut tief in das Gesicht gedrückt, schweigend nach Süden; ich desgleichen. Es war, wie es schien, keinem von uns ums Sprechen zu tun.

Das Schiff kreuzte zwischen den herrlichen Gestaden hin und her. Bei jeder Hauptstation nahte eine Barke und brachte neue Reisende. Gravedona, Dervio, Varenna lagen hinter uns. Wie an den Toren eines Paradieses fuhren wir am Lago di Lecco vorüber, Bellaccio zu. Immer voller atmete uns die Luft des Südens entgegen, immer üppiger umrankten die waldigen Berge die Ufer, immer seltener mahnten die blitzenden Schneefelder auf den Höhen an die rauhe Heimat. Es wäre mir unmöglich gewesen, auszudrücken, was mich bewegte. Ich war betäubt und dankte es im stillen dem Provenzalen, daß er mich nicht zur Besinnung brachte.

Unberufen! Denn eben, als ich meiner stillen Dankbarkeit den Lauf ließ und daß Schiff eine Wendung gegen Bellaccio machte, von wo bereits die Gondel abgestoßen war, die auf uns zusteuern sollte, wandte sich der Fremde um. Ich erschrak über ihn. Wie konnten sich diese schönen Züge ändern! Die Röte, die sonst durch das Braun der Wangen schimmerte, war verschwunden, das blitzende Auge starr, die Lippen zusammengepreßt, als sollten sie das Knirschen der Zähne ersticken; so ging er an mir vorüber und verschwand hinter dem Gepäckhaufen auf dem ersten Platze. Aber ich war aus meiner glücklichen Stimmung gerissen und wandte mich jetzt auch der Mitte des Schiffs zu.

Ich hatte die Treppe, die von unten auf das Verdeck führt, eben erreicht, als die Barke von Bellaccio anlangte. Sie war ziemlich nahe an die Räder geraten und schwankte heftig. Man warf ihr das Seil zu. Vorn auf dem Schnabel des Schiffchens stand ein alter, eisgrauer Mann. Seinen unsicheren Händen entglitt das Tau; er haschte noch einmal danach, – mit einem dumpfen Fall lag er im Wasser und sank. Am Steuer saß ein junger Bursche, der fast gleichzeitig mit einem gellenden Schrei aus dem Innern der Barke über Bord flog und untertauchte. Das Schiffchen, völlig ohne Führer, schaukelte entsetzlich und begann vom Dampfer abzutreiben. Es war die höchste Zeit, der Sache ein Ende zu machen.

Ich verließ mich auf meine Schwimmkunst, oder vielmehr ich dachte in diesem Augenblicke an gar nichts, stieg blitzschnell die Treppe hinab und war mit einem Sprunge in der Barke, fiel zu Boden, raffte mich wieder auf, bot dem jungen Schiffer, der eben mit dem alten auftauchte, das Ruder hinaus und brachte beide wohlbehalten ins Trockene; dann fing ich, etwas glücklicher, das fatale Tau auf, zog die Barke an die Treppe und sah mich jetzt erst nach dem weiteren Inhalt derselben um. Die beiden Schiffer schüttelten sich ein wenig und taten dann, als wäre nichts vorgefallen. Ich trat auf die Treppe und bot zuerst einer kleinen, beleibten, und dann einer schlanken, sichtlich jüngeren Dame die Hand. Die letztere ließ, wie ich bemerkte, ein Goldstück in die Hand des Alten gleiten, ehe sie ihre weißen Finger in die meinigen legte. Beide waren tief verschleiert.

Vom Verdeck aus mußte mein Sprung heroisch ausgesehen haben. Drei Minuten lang wurde mein Lob in fünf oder sechs Sprachen gesungen und ich spielte den Bescheidenen auf musterhafte Weise. Die jüngere der Damen schien von dem Ereignis kaum berührt, während die altere, einer Ohnmacht nahe, sich von mir einer Bank zuführen ließ, dort zusammensank und kaum noch lispelte: »Gracia, Signore, Gracia!«

»Bitte recht sehr!« – sagte ich in der Aufregung des Augenblicks auf Deutsch. »Ach, Sie sind ein Deutscher!« – rief sie plötzlich auflebend, schlug den Schleier zurück, und das gemütliche Gesichtchen eines schwäbischen Hausmütterleins, nur ein wenig lebhafter und sonnverbrannter, schaute mir entgegen. »Am Ende gar ein Landsmann, ein Schwabe?« – fragte sie herzlich.

Ich war viel zu überrascht, als daß ich hätte sogleich Antwort geben können. Schwäbisch sprach die Dame überdies gerade nicht. Würmle zog mich aus der Verlegenheit, um sich selbst dreinzustürzen.

»Ein Schwabe ist er nicht, gnädige Frau, oder was Sie sind! (sagte er freudestrahlend und voll Zutrauen), aber wenn Sie eine besondere, Passion für Schwaben haben: ich bin ein Grundschwab'. Sie verzeihen doch, gnädige Frau! Im ganzen ist's ein ordentlicher Mensch; nur (fügte er mit einem seltsamen Gemisch von Ernst und Scherz hinzu), nur würdigt er die Spinnen nicht derjenigen Aufmerksamkeit, die ihnen nach meinen neuesten Forschungen...«

Die Dame warf einen so erstaunt fragenden Blick auf mich, daß Würmle, den ich heute von einer ganz neuen Seite kennen lernte, verstummte und ich ihn möglichst schnell vorzustellen für schicklich fand.

»Mein Freund und Reisegefährte, Privatdozent Doktor Würmle, ein Grundschwabe, wie er soeben selbst gestanden hat«, sagte ich. »Im ganzen ist's ein ordentlicher Mensch, nur daß ...«

Es fiel mir wirklich nichts ein, was ich an Würmle aussetzen könnte, der bereits seine Kühnheit bitter bereute und, nach all seinen Bewegungen zu schließen, ernstliche Rückzugspläne schmiedete. Mit bewundernswerter Gewandtheit half die Dame mir und meiner stockenden Periode ins Geleise, indem sie in den heiteren Ton einstimmte, den wir angeschlagen hatten.

Nichtsdestoweniger war Würmle in Bälde verschwunden, und ich gewahrte ihn zu meinem Erstaunen eine Viertelstunde später mit dem Provenzalen, der wieder am Schnabel des Schiffes stand, in ein ernstliches Gespräch verwickelt.

Endlich schlug auch die Tochter der Dame den Schleier zurück; denn als solche wurde mir die jüngere vorgestellt. Aber welcher Gegensatz! Ich traute meinen Augen kaum, die sich immer wieder in diesen weichen, warmen und doch so fein und bestimmt geschnittenen Zügen einer italienischen Madonna verloren. Welche Energie, fast, mußte man sagen: welcher Trotz in diesem Munde, welche Kühnheit in den Konturen dieser Nase, welcher Unternehmungsgeist um diese Augenbrauen, welche Glut in diesen Augen selbst, – und doch welche hingebende Zartheit im ganzen Oval des schwarz umrahmten Gesichts! Lucia sprach wenig und das wenige italienisch. Aber das war ein Italienisch! Und welcher Adel in jeder Bewegung des schlanken, vollen Körpers! Mir wurde allmählich recht südlich schwül zumut; ich spürte meine nordische Natur nur noch sekundenlang an einem eigentümlichen Gefühl einer unklaren, unbeschreiblichen Wehmut, die mich wie ein Blitz durchzuckte, wenn mein Auge in einem unbeachteten Moment über das herrliche Profil hinschlich. So fängt es bei jungen Teutonen an, wenn sie lieben.

Wir sprachen meist von der Gegend, durch die wir hinglitten. Jetzt erst glaubte ich Italien zu verstehen. Die Zunge war mir wie durch ein Wunder gelöst und was von Colico bis Bellaccio nur dunkel in mir gebrütet, wurde mir plötzlich klar wie die Sonne. Ich habe in jenen Stunden wohl manche Torheit in geflügelte Worte gekleidet, aber ich war glücklich dabei, wie ich es nachher und vorher mit den sinnigsten Betrachtungen nur selten gewesen bin.

Der See erhält von Bellaccio an einen etwas anderen Charakter. Er wird schmäler; die Berge steigen jäher an seinen Ufern empor und werfen ihre grünen Schatten dunkler in die grünen Wellen. Jeder Winkel am Ufer ist ein reizend heimliches Bildchen. Dort, im schattigen Laub der Nußbäume, ein Dörfchen mit dunkeln, wunderlich übereinandergehäuften Häusern; hier eine Kirche, hell und freundlich wie die Luft Italiens; drüben eine Kapelle oder eine alte Ruine. Dort, in die Schlucht sich einfressend, ein schäumender Wasserfall, der unter Felsen und Gebüsch abwechselnd verschwindet und durchblitzt; hier ein langer Silberfaden, der die ferne, bläuliche Bergwand vom First bis zum See herab durchschneidet. Dort eine Villa, leicht, glänzend, wie ein versteinertes Märchen des Morgenlandes, hier eine andere, dunkel, träumerisch, als hätte man sie aus den Phantasien eines Nordländers gestohlen. Die Villen, die immer, zahlreicher werden, je mehr man sich Como nähert, boten ein reiches, reizendes Feld der Unterhaltung. Die Namen schienen in der Geographie des Comersees sehr bewandert. Sie kannten das Innere fast eines jeden der freundlichen Landhäuser und gaben mir alle erdenkliche Auskunft.

Man bog gerade wieder um eine Landzunge. Eine kleine Bucht bot das reizendste Bild dar, das uns noch aufgestoßen war. Fast von den Wellen des Sees berührt, erhob sich am Ufer eine Villa. Sie schien älteren Ursprungs. Der Stil des Gebäudes war mehr romanisch und paßte vorzüglich zu der stillen Abgeschlossenheit der Umgebung. Ein hoher Fels überragte den Bau. Auf demselben stand eine von Zypressen umgebene Kapelle; aus dem dunkeln Laubwerk schimmerte das lebensgroße Marmorbild einer Madonna. Hinter dem Felsen stürzte eine rauschende Kaskade in die Tiefe, deren Wasser durch eine alte Brücke in den See abfloß.

»Aber, Madame, wem gehört dieses Stückchen Himmel?« rief ich lebhaft, auf die Villa deutend. »Sagen Sie mir's noch nicht! Zuvor will ich mir ausmalen, wie ich mir die Bewohner denke. Wenn das Glück, – nein, das Glück hat zu wenig Gemütlichkeit, aber wenn die Zufriedenheit einmal eine Sommerwohnung bezieht, so denke ich mir diese hier!«

Jetzt erst bemerkte ich den Unmut, der über die Züge der Müller und, sah ich recht, die schnelle Träne, die über die Wange Lucias herabglitt, welche aufstand und langsam gegen das Steuer zuging.

»Es ist die Villa d'Estalozzi«, sagte die Dame, dem Mädchen nachsehend; »Ihre Zufriedenheitsphantasien treffen nicht zu. Sie steht gegenwärtig unter Verwaltung. Sie gehört einem Flüchtling. Aber, mein Herr, Sie gehen nach Como und wohnen, wie Sie mir sagen, im Hotel Angelo?«

»Einem Flüchtling?« wiederholte ich langsam.

»Sie haben uns heute schon einen so großen Dienst geleistet; darf ich Sie um den zweiten bitten?«

»Einem Flüchtling?« – Und eine Reihe düsterer Bilder des Elends und der Not voll Weh, Haß und Verzweiflung zog an mir vorbei, während wir an dem wunderlichen Felsen vorüberfuhren.

Mittlerweile zog die Dame eine Brieftasche hervor, schrieb ein paar Zeilen, und gab mir ein zusammengefaltetes, adressiertes Billett.

»Bitte« – sagte sie –, »geben Sie dies an seine Adresse. Der Herr wohnt in Ihrem Gasthof. Ich habe hier weder Siegellack, noch Oblaten; aber, mein Herr, Sie sind ja ein Deutscher. Es ist von einiger Bedeutung; vergessen Sie mir's nicht! Auch das sage ich nur einem Deutschen!«

»Wie? Sie verlassen uns? Aber noch eins, Madame, – was ist jenes graziöse Bildchen, das sich eben hinter dem Felsen hervorschiebt?«

»Gefällt es Ihnen? Nun, das ist unsere Villa, die Villa della Casa.«

Und bereits flog eine Barke auf das Dampfschiff zu, der Lucia mit dem Taschentuche winkte. Ich nahm Abschied und versprach, das Billett aufs beste zu besorgen. Auch Würmle zeigte sich wieder. Seit einer Viertelstunde stand der Provenzale starr und allein, wie eine Statue, auf dem Schnabel des Schiffes. Lucia bot mir die Hand, soviel ich mich erinnere. Sie sah mich freundlicher an als im Anfange, aber sie schien bleicher geworden zu sein. Die Mutter blieb die gemütliche Deutsche vom Anfang bis zum Ende. Der Kahn stieß ab, das Schiff brauste weiter. Mein Auge verfolgte mechanisch die Gestalten, bis sie unter dem Marmorportale der Villa della Casa verschwanden.

Ich rieb die Stirne, warf die Haare zurück, schüttelte mich, – es wollte nichts recht fruchten. Es war mir, als müßte ich aufwachen. Ich träumte fort! O Italien!

Würmle weckte mich. Er berührte mich leise und als ich herumsah, schaute ich in das ängstlichste Gesicht, das der gute Mann auftreiben konnte. Er befürchtete ernstlich, zu Como in Paßverlegenheiten zu kommen; der Doktor war die ehrlichste, unschuldigste Kreatur, die der Schöpfer in die Welt gesetzt hat, seit er Spinnen schuf, hatte aber vor jeglicher Obrigkeit einen entsetzlichen Respekt und hatte uns dadurch im Addatal bereits einmal in keine kleine Not versetzt.

Das kam nämlich folgendermaßen. Bei der Ausstellung unserer Pässe hatte Würmle auf die Frage: Reisezweck? lakonisch erwidert: »Spinnen!« Er beabsichtigte nämliche die italienischen Spinnen der genauesten Beobachtung zu unterwerfen. Sie sollten einen Abschnitt des großen Werkes »Die Weberei in der Tierwelt« bilden, an dem er seit zehn Jahren arbeitete. Man machte ihm begreiflich, daß dies eine für jede Polizeibehörde unverständliche und Verdacht erregende Angabe sei, und ich bewog den Beamten, in die betreffende Rubrik, wie auf meinem Paß, einfach »Vergnügen« zu setzen, da wir doch zusammen reisten. Es geschah. So oft nun aber unser Paß untersucht wurde, fing Würmle eine lange Erörterung an und erklärte: »Es sei eine Unrichtigkeit auf seinem Paß. Das Wort ›Vergnügen!‹ solle ›Spinnen‹ heißen.«

In Deutschland belustigten wir dadurch manche langweilige Polizeibehörde; in Italien zuckte man aber bedenklich die Achseln und um ein Haar hätte uns in der Nähe von Morbegno ein böhmischer Unteroffizier nach Sondrio zurücktransportieren lassen.

Ich beruhigte den Doktor, soviel es in meinen Kräften stand, und bat ihn dringend, doch ja die Spinnen künftig aus dem Spiele zu lassen. Er versprach es und ging seine Schachteln zu überzählen; denn man war bereits an der Villa Pliniana vorüber und konnte in einer halben Stunde Como erreichen.

Der Provenzale hatte seinen Standpunkt verlassen und kam, ohne mich zu beachten, auf mich zu. Seine Züge waren wieder ruhig und schön wie anfangs. Ich redete ihn an.

»Mein Herr, Sie sagten, Sie seien nicht ganz fremd hier. Ist wohl die Villa d'Estalozzi einem Reisenden zugänglich?«

»Was wünschen Sie dort?«

»Sie würde mir eine reizende Skizze geben. Ich möchte sie besuchen.«

Ein kaltes Lächeln flog über das Gesicht des Provenzalen.

»Ich denke wohl«, sagte er nach einer kurzen Pause; »der Besitzer ist abwesend. Die Verwaltung wird nicht so strenge sein!«

»Sie kennen die Villa demnach!« fuhr ich mutiger fort. »Dann werden Sie mir vielleicht auch über ihre Nachbarin einige Auskunft geben, die Villa della Casa und ihre Bewohner?«

»Nun, Sie haben denselben vor einer Stunde durch Ihre Geistesgegenwart einen Dienst geleistet, den ich Ihnen nie ... der alle Anerkennung verdient. Die eine der Damen war Clara della Casa, eine geborene Deutsche, die der alte Graf della Casa seinerzeit in Wien kennen lernte. Die andere war ihre Tochter.« Der Franzose drehte sich auf dem Absatze herum, wandte mir den Rücken und fing an, eine Zigarre anzuzünden. Ich wurde allmählich das Wunderliche in seinem Benehmen gewohnt und sah eben Würmle mit großen Schritten, ein Papier in der Hand, auf mich zukommen.

»Aber was schleifen Sie da für mystischen Unsinn herum?« rief er mir von weitem entgegen. »Hören Sie doch!« Und lachend las er folgende Zeilen in seinem Spinnenitalienisch.

»Lieber Carlo! Lucia ist das alte Trotzköpfchen. Sie will absolut diesen Abend noch die Vesper im Dome besuchen und zwar allein. Heute ist wieder der traurige Jahrestag. Du kennst sie. Laß ihr die trübe Freude, ein Totenamt mitansehen zu dürfen. Aber, wenn Dir's möglich ist, sei in der Nähe. Morgen erwarten wir Dich bestimmt. Herzlich grüßend

Clara della Casa.

Nachschrift. Sage Lucia nichts von dem Billett und sprich sie wo möglich nicht an. Sie würde mir meine Vorsicht so bald nicht verzeihen.«

Erst an der Unterschrift merkte ich, was Würmle angestellt hatte. Um eine Flasche Spiritus zu verpacken, hatte er in meiner Reisetasche nach Papieren gesucht und das Billett gefunden. Ich entriß es ihm und wollte mit einer Flut von Vorwürfen über ihn herfallen. Aber der Atem stockte mir, als ich dem Auge des Provenzalen begegnete, der sich uns rasch zugekehrt hatte. Es schien plötzlich ein anderer Geist aus den schwarzen, freudestrahlenden Pupillen zu schauen; das Glück hauchte einen Augenblick über die so leicht sich faltende Stirne.

»Und die Adresse, die Adresse?« flüsterte er, wie unwillkürlich mit fliegendem Atem.

»Sie kann wohl wenig Interesse für Sie haben, mein Herr!« versetzte ich, doppelt ärgerlich, »ich habe selbst noch nicht darnach gesehen; Carlo de Montefieri im Hotel Angelo.«

Der Fremde hörte den Namen kaum zu Ende und ging, den Rauch seiner Zigarette lebhaft in die Luft blasend, wieder dem Vorderteile des Schiffes zu. Wir hatten über dem Billett die äußere Umgebung einen Augenblick vergessen. Como lag vor uns, prachtvoll und lieblich, großartig und reizend, unbeschreiblich für den Deutschen, den zum ersten Male italienische Luft berauscht.

Man landete. Ich glaubte durch den Ton, in dem ich die Adresse mitgeteilt hatte, den Franzosen beleidigt zu haben und sagte es ihm. Er gab mir freundlich die Hand, als wir zugleich über das Brett gingen, das ans Ufer führte.

»Vielleicht treffen wir uns wieder!« sagte er, indem er mir seine Karte überreichte.

Einen Augenblick später verlor ich ihn im Gedränge. Auf der Karte stand in einfachen Buchstaben: »César d'Epinay, Marquis«.

Das schöne Hotel Angelo lag unmittelbar am Hafen. Wir wären in fünf Minuten einquartiert gewesen, hätte nicht Würmle, der ein Zimmer neben dem meinigen bezog, seine Spinnenbehälter mit besonderer Vorsicht behandeln müssen. Herr von Montefieri, nach dem ich sogleich fragte, war abwesend. Ich übergab daher, da man denselben im Gasthof zu kennen vorgab, das Billett wohlversiegelt dem Kellner, der es zu besorgen versprach, ehe wir das Haus verließen, um uns in der Stadt umzusehen.

Es war sechs Uhr. Ich erfuhr, daß um halb acht eine Vesper im Dom gehalten werde. Ich hatte mir zwar vorgenommen, den Inhalt des Billetts, den ich nun leider einmal wußte, völlig zu ignorieren, und doch fühlte ich den dämonischen Einfluß, den dasselbe auf mich ausübte, immer deutlicher. Wir wollten natürlich ohnehin den Dom besuchen. Zweimal lief ich auf den Platz zu und bog immer wieder ab, den Doktor auf später vertröstend, wo die Dämmerung den Eindruck des Gebäudes erhöhen mußte, wie ich weise erklärte.

Würmle, der gute Mensch, folgte mir willenlos, wie immer, und erzählte unterwegs, daß er auf dem Schiff ein großes Exemplar der Aranca scenica stundenlang am Radkasten beobachtet und glücklich gefangen habe. Das Gewebe dieser Tiere sei dem der deutschen Hausspinne ziemlich ähnlich. Möglich, daß sie schon mit den Zimbern nach Italien gekommen seien. Auch habe – dies interessierte mich etwas mehr – Herr von Epinay sich sehr eifrig nach mir erkundigt.

Jetzt schlug's sieben. Wir wandten um. Würmle selbst drang darauf, in den Dom zu kommen. Als wir über den etwas düsteren, mittelalterlichen Platz gingen, schlugen über uns die Glocken an, die zur Vesper riefen.

Der Gegensatz zwischen dem lebhaften Treiben in den Straßen und der düsteren Stille, in die man durch das mächtige Portal eintritt, macht einen tiefen Eindruck. Noch geblendet von dem Lichte des Tages sieht man im ersten Augenblicke nichts als die beiden steinernen Löwen am Eingang, welche die Becken für das Weihwasser tragen, eine ungeheure Nacht voll wunderlicher, dämmernder Gestalten und da und dort ein einsam flimmerndes Licht ohne Schein und Schatten. Allmählich treten die reichen Formen deutlicher hervor. Man gewahrt die wuchtigen Pfeiler und Säulen, die sich oben zu einem mächtigen Gewölbe auseinanderblättern, die Kuppeln, die Seitenkapellen und Nischen, die Altäre, vor denen da und dort eine betende Gestalt kniet, während ein Geistlicher in lautloser Stille seines Amtes wartet. Man fühlt sich unwillkürlich hineingezogen in die Rätsel einer andern Welt, und ehe man's ahnt, ist man dem Treiben außen entführt. Man sieht sich um in der neuen, ungewohnten Umgebung und weiß nicht, soll man anbeten oder schaudern.

Ich vergaß fast, was ich selbst unter dem Portal noch gesucht; ich vergaß vor allem den Doktor, der sich unversehens von, meiner Seite verloren hatte, und gab mich ganz der düsteren Träumerei des Ortes hin, die mein erhitztes Blut allmählich einzuschläfern schien.

Die Räume füllten sich. Stille, ohne Ordnung, um die einzelnen Altäre malerisch gruppiert, kniete die Menge in dem Schiff der Kirche. Lautlos schlich ich auf den Zehen dem Hochaltare zu, an Säulen und Gittern mich hinstehlend, um die Andacht der Betenden nicht zu stören. Ein Glöckchen tönte. Sechs Geistliche in ihrer glänzenden Kleidung kamen mit der Monstranz aus der Sakristei. Ich trat in eine kleine Seitenkapelle und ließ sie an mir vorüberziehen; dann erst gewahrte ich, wo ich hingeraten war..

Im Hintergrunde des von dem Hauptschiff fast ganz abgeschlossenen Raumes stand ein Altar, einfach, nur durch ein Marienbild geschmückt. Sieben Kerzen brannten darauf. Ein Geistlicher in schwarzem Gewande murmelte aus einem umflorten Meßbuche unverständliche Worte.

Ich glaubte zuerst, der einzige Anwesende zu sein, bis ich im Schatten eines Pfeilers einen Betschemel entdeckte, auf dem eine weibliche Gestalt in langen, schwarzen Gewändern kniete. Meine aufgeregte Phantasie war heute bereit, an alles zu glauben. Es konnte niemand anders sein als Lucia.

Ich drückte mich gegen die Wand und stand regungslos wie eine Bildsäule. Die Messe begann. Die Ereignisse des Tages, die düstere Stille in meiner unmittelbaren Nähe, das Spiel der herrlichen Orgel, das monotone Auf- und Absteigen des Gesanges, der Weihrauch, der immer stärker auch die Kapelle durchatmete, Lucias Nähe, die italienische Luft, – alles war mir noch zu ungewohnt, als daß ich nicht halb betäubt und willenlos mich einem süßen Traume überlassen hätte, der mich zu umgaukeln schien. Minute verging um Minute. Der Priester murmelte ruhig weiter; ich glaubte, Lucia schluchze zuweilen fast unhörbar; ich atmete kaum mehr. Es schlug acht Uhr.

Da zeigte sich plötzlich eine andere Gestalt. Leise und rasch trat sie auf den Altar zu, wandte sich gegen die Dame, beugte sich zu ihr hinab. Ich zitterte, mit vorgestrecktem Leibe. Ein Schrei, – Getümmel von außen – Lucia lag ohnmächtig in meinen Armen.

Ich war wieder in der Wirklichkeit und schüttelte in einem Moment das Traumnetz ab, das mich umgarnt hatte. Zwei Frauen brachten die Dame schnell zur Besinnung. Sie war bleich wie der Tod und zitterte heftig. Ich bot ihr meine Begleitung an. Sie sah mich einen Augenblick starr an und brach dann – wohl eine Folge der Aufregung – in ein heftiges Weinen aus. Ich gab mir keine Mühe zu trösten, wo ich nur leere Worte gehabt hätte, und richtete sie sanft auf. Sie faßte sich, ließ ihren Schleier fallen und wir gingen durch das Seitenschiff des Doms dem Tore zu.

Als die frische Luft ihren Schleier bewegte, machte sie sichtlich einen Versuch, sich zu fassen. Himmel und Erde verschwammen mir vor den Augen. Wir standen unter dem Portal. Sie atmete tief, wie wenn sie jetzt erst das Leben wieder begrüßte. Ein Herr bog eben um die nächste Straßenecke und trat rasch auf uns zu.

»Carlo! Carlo!« rief Lucia halblaut, ihren Schleier zurückschlagend, und suchte sich vergebens aus meinen, sie unterstützenden Arme aufzurichten. Erstaunt prallte der Fremde zurück und flog im nächsten Moment auf uns zu.

»Mein Herr!« rief er mit glühenden Wangen.

»Der Dame wurde unwohl«, versetzte ich und verbeugte mich.

»Ach, Sie verzeihen! Meine Braut ist Ihnen vielen Dank schuldig.«

Lucia lag in den Armen ihres Bräutigams; das war wohl Montefieri, der sein Billett bekommen haben mußte.

Ich war in den Dom zurückgetreten, ungebührlich verstimmt durch diese Begegnung, ohne weiter auf den Ruf des Italieners zu achten, ohne einen Blick zurückzuwerfen.

Die Vesper war zu Ende. Vergebens suchte ich in dem mir entgegenströmenden Gewirre meinen Würmle. Er war nirgends zu entdecken. Ich ging das Kirchenschiff hinauf und trat in die Seitenkapelle, wo nur noch eine der sieben Kerzen düster brannte; ich lehnte mich wieder an die Wand, von wo aus ich Lucia beobachtet hatte. Aber ich wachte; mit dem Träumen war's aus.

Es wurde förmlich Nacht. Man wollte den Dom schließen. Endlich, endlich fand ich den Doktor in dem finstersten Winkel hinter dem Hochaltar. Ein widerlicher Schwefelgeruch führte mich auf seine Spur. Da stand er, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vergessend, zündete ein Streichholz um das andere an und beobachtete bei dem grellen Schein des Lichts eine ungeheure Kreuzspinne, die regungslos an einem langen Faden in der Luft hing.

»Ich finde Sie doch noch einmal in einem Spinngewebe zappeln wie eine Fliege!« sagte ich ärgerlich, riß trotz seiner kläglichen Protestationen die Spinne herab, die er sorgfältig aufhob, und zog ihn ins Freie. Vom Dom, von der Vesper, von meiner Begegnung mit Lucia wußte er kein Wort.

Wir sprachen wenig. Ich fühlte, daß ich mich unter dem Portal, Montefieri gegenüber, ungeschickt benommen hatte, und schämte mich ordentlich. Mein Unmut verschwand allmählich und das Bild Lucias trat wieder lebhafter vor meine Augen. Die dämmerige Gestalt jenes Fremden, ihre Ohnmacht, meine Begleitung durch die Kirche: es war ein wahres Märchen, in das ich mich nicht finden konnte und das mich dämonisch in seinen Zauberkreis gezogen hatte. Würmle fing eine Abhandlung über die Stellung der Kreuzspinnen im Haushalt der Natur an, ehe wir den Angelo erreichten.

Luft! Luft! war mein Gedanke, als wir in unser Zimmer traten. Würmle, dieser beste der Menschen, machte sich mit der größten Ruhe daran, die gefangene Kreuzspinne aufs schrecklichste zu massakrieren. Ich riß das Fenster auf, legte mich weit hinaus über die niedere Brüstung und schaute über den See, in dem sich tausend Sterne spiegelten. Nur noch eine einzige Gondel ruderte über die glatte Fläche gegen Norden.

»Luft! Luft!« rief ich laut in die Nacht hinaus. Aber der Himmel lächelte herab, der See lächelte herauf, und wie der Atem des Samums wehte es über meine glühende Stirne.

Und ein Kellner, der unten vor dem Tore gestanden hatte, stürzte eilends die Treppe herauf, fragte höflich, was wir wünschten und erklärte uns den Gebrauch der Zimmerklingel: »einmal für den Oberkellner, zweimal für das Stubenmädchen, dreimal für den Hausknecht«. – – –

Munter, mit beiden Füßen zugleich, sprang ich am andern Morgen in den jungen Tag. Würmle schlief noch in beglückenden Träumen von einer amerikanischen Buschspinne und war etwas verstimmt, als ich ihn dem interessantesten Fang seines Lebens entriß. Wir frühstückten und gingen hinunter an den Hafen. Morgenstille; fünf bis sechs Barken lagen am Ufer. Da und dort sah man einen Schiffer, welcher Mast und Ruder zurechtlegte. Wir musterten die Fahrzeuge, um eines zu mieten.

»Ach, mein Herr, Sie suchen wohl eine Barke, um diesen Morgen zu genießen?« redete mich vom Rücken eine Stimme an, die mir eigentümlich fremd und bekannt zugleich vorkam. Ich wendete mich um und erkannte mit einiger Mühe Carlo de Montefieri, dessen Gestalt und Gesicht mir jetzt erst auffielen. Ein hoher, geschmeidiger Wuchs, blonde Haare, ein weicher, fast ins rötliche spielender Bart, tiefblaue Augen und eine Gesichtsfarbe, der sich kein Engländer hätte schämen dürfen, gaben ihm ein Aussehen, das mich nachher mehrmals verführte, auf italienische Fragen deutsch zu antworten. Dabei hatte sein ganzes Wesen eine zurückhaltende Freundlichkeit, die unwiderstehlich Achtung und Zutrauen erweckte. Ich war einigermaßen betroffen und erwiderte:

»Wir fahren nach der Villa d'Estalozzi!« Pliniana hatte ich sagen wollen, aber jene war mir über die Lippen, ehe ich mir's versah, und das Erstaunen Montefieris ließ mich meine Voreiligkeit doppelt bereuen.

»Da haben wir denselben Weg. Ich bin Ihnen ohnedies wegen gestern eine Erklärung und vielen Dank schuldig. Wenn es Ihnen gefällig ist, nehmen wir eine Barke zusammen. Halten Sie .mich nicht für zudringlich, mein Herr«, fuhr er nach einer Pause mit gewinnender Herzlichkeit fort, »aber wenn es Ihnen nicht ganz unangenehm ist, kann ich mir das Vergnügen kaum versagen, einen Herrn kennen zu lernen, von dem mir meine Braut soviel Schmeichelhaftes gesagt hat. Sie (fügte er lachend hinzu) sind der erste Deutsche, den sie einiger Aufmerksamkeit würdigt.« Was konnte ich machen und was wollte ich machen, da Lucia seine Verbündete war? Wir stiegen ein; drei Schiffer legten die Ruder zurecht. Wir setzten uns in das Vorderteil, während Würmle, der sich sehr still verhielt, beim Steuermann, einem alten, schwarzbärtigen Kerl, Platz nahm. Die Gondel flog zum Hafen hinaus in den frischen, duftigen Morgen.

Das Rauschen der Wasser, der Schlag der Ruder und der Klang der Morgenglocken, die da und dort von den grünen Halden des Ufers ertönten, war das einzige, was man auf der weiten, stillen Fläche hörte. Das Auge flog trunken von Bild zu Bild und blieb zuletzt, müde von der mannigfaltigen Pracht, die sich im frischen Morgenkleide lächelnd entfaltete, im dunkeln Blau des Himmels, im satten Grün des Wassers hängen, um zu ruhen, um zu träumen.

Montefieri war dieses Schauspiel nichts Neues; aber auch er schwieg lange. Die Natur ist immer neu, wenn das Auge frisch bleibt.

»Wie sind Sie auf den Gedanken gekommen, die Villa d'Estalozzi aufzusuchen?« fragte er mich nach einer Weile.

»Ich bin ein halber Maler und die Villa hat mich in dieser Beziehung besonders angesprochen«, war meine Antwort.

Das Gleiche hatte ich Würmle erwidert, als er mir dieselbe Frage vorgelegt hatte. Außerdem sagte ich dem Italiener, was ich Würmle nicht gesagt hatte, ich habe gehört, die Villa gehöre einem Flüchtling. Es habe mich dies eigentümlich ergriffen und sei ein Grund weiter geworden, diese Morgenfahrt anzutreten. Im übrigen gedächte ich auch die Villa Pliniana zu besuchen.

»Lassen Sie die Villa Pliniana fahren!« rief Montefieri, indem er mit südlicher Lebendigkeit meine Hand drückte, »und kommen Sie den Mittag oder Abend in die Villa della Casa, wo Sie mich finden werden und vielleicht ein paar heitere Stunden. Die Villa d'Estalozzi, nebenbei gesagt, gehört jedoch keinem Flüchtling«, fügte er plötzlich in ernstem Tone hinzu, »der Flüchtling ist tot!«

»Tot?«

»Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen. Ich weiß nicht, was mich Ihnen gegenüber so schnell offenherzig macht. Aber ich glaube nicht, daß mich mein Vertrauen täuscht. Außerdem hängt dieselbe mit Ihren Erlebnissen von gestern zusammen, so daß Sie gewissermaßen ein Recht darauf haben.«

Seine Stimme wurde leiser, vielleicht der Schiffer wegen. Er erzählte, fast bis wir die Villa della Casa erreichten, so lebhaft, so anziehend, daß es der tote Buchstabe nicht wiederzugeben vermag, vollends, da mir's oft war, als ob unsere ganze Umgebung, das murmelnde, Wasser, die Berge, die Villen und Kirchen ringsum, und die laue, leise bewegte Luft mitflüsterten und miterzählten. Trotz der Dissonanz, mit der seine Erzählung endete, lag eine wunderbare Harmonie in allem, was ich an diesem Morgen sah und hörte.

»Ich bin der Sohn einer veronesischen Familie (begann er) und lernte d'Estalozzi, der ein Mailänder ist oder war, auf der Universität Padua kennen. Wir beide besuchten dieselbe mehr der allgemeinen Bildung wegen, als um uns einem Brotstudium zu widmen. Wenn ich Ihnen sage, daß sich zwischen uns bald die glühendste Freundschaft entspann, so sind das eben Worte. Ich war älter als er. Aber oft sah ich staunend an ihm empor, wenn ihn seine edle, flammende Leidenschaftlichkeit über alle Schranken der Verhältnisse hinaushob. Man konnte äußerlich keine größeren Gegensätze finden als uns. Ich sehe ein wenig deutsch drein – nicht wahr? Das macht das alte longobardische Blut. Cäsar war das Ideal einer italienischen männlichen Schönheit. Auch innerlich machte sich, wenn auch nicht so schroff, derselbe Gegensatz fühlbar, und gerade auf diesem Gegensatze beruhte unsere Freundschaft.

Geschichte, die Geschichte Italiens, war sein einziges Studium, in das er auch mich hineinzog. Ein fanatischer Patriotismus war das Resultat dieser Studien. Cäsar fing an, äußerst einfach zu leben. Hätten Sie ihn gesehen, wie er gegen die innere Verderbnis, gegen die Feinde und Unterdrücker seines Vaterlandes eiferte. Sie hätten nie geglaubt, daß dieses Auge, in welchem eine ganze Hölle der Entrüstung, des Schmerzes gefangen lag, dasselbe sei, das Sie eine halbe Stunde vorher mit so naiver, so kindlicher Freundlichkeit angeblickt hatte.

Neben der Villa d'Estalozzi liegt die Villa della Casa, welche einem Mailänder gehört, der eine Deutsche geheiratet hatte und ein einziges Kind besaß. Das Kind hieß Lucia und war die erste Jugendgespielin Cäsars. Wir, ich und Cäsar, brachten die Sommerferien gewöhnlich auf seiner Villa zu, und ich begriff bald eine zweite Leidenschaft, die in der Mitte unserer Universitätszeit alles doppelt aus ihm zu machen schien, was er zuvor gewesen war. Sie kennen Lucia. Das heißt, Sie kennen sie nicht. Man kennt Lucia erst, wenn man sie monatelang beobachtet hat.

Es waren damals sonnige Tage auf der Villa d'Estalozzi. Cäsar war verlobt; ich war glücklich in dem Glücke dieses Paares. Sie hatten sich in dem Dome zu Como, in einer kleinen Seitenkapelle, Treue geschworen. Cäsar war von jeher ein Phantast. Ich denke, selbst die kalten Deutschen verzeihen ihm das. Einen Umstand darf ich nicht unerwähnt lassen, hinter der Villa della Casa, auf der Grenze zwischen den beiden Gärten, steht ein Marienbild, unter, dem wir manche Abendstunde zubrachten. Dort saßen wir auch am Abend vor Cäsars Geburtstag, dem letzten, den er zu Hause erlebte. Cäsar war am Morgen, namentlich von seiner Braut, mit mancher schönen Gabe erfreut worden. Wir waren allein und, ich weiß nicht mehr, wodurch!? ernst gestimmt. Da stand Lucia plötzlich auf, ging die Stufen zum Marienbilde hinauf, zog hinter demselben einen prachtvollen Dolch, ein Familienstück der Casa's, hervor, zu dem sie ein Gehänge gestickt hatte, und überreichte ihn schweigend ihrem Bräutigam. Cäsar wurde bleich. Wir hatten von Italien gesprochen. Er murmelte ein paar wilde, abgerissene Worte, die wohl nur Lucia verstand. Dann zog er die Waffe aus der Scheide und reichte sie mir. Ich sah in seinen Augen, was er dachte, legte die Hand darauf und hob die andere zum Himmel. Ob ich geweint habe, weiß ich nicht mehr. Cäsar schluchzte an dem Halse seiner Braut.

Indessen stieg die revolutionäre Gärung in Italien mit jedem Tage. Im Februar wurde die Universität Padua geschlossen, in Mailand das Standrecht publiziert. Im März zog sich Radetzky aus Mailand zurück. Das weite, herrliche Land atmete auf in der neuen, ungewohnten Luft der Freiheit.

Es war ein schöner Traum. Erlassen Sie mir die bekannten Tatsachen der traurigen Wirklichkeit. Vicenza, Padua, Verona fielen. Die Schlacht von Custozza entschied über Mailand. Die Lombardei war verloren.

Cäsar hatte als Chef eines meist aus Studenten und Arbeitern bestehenden Freikorps, ich als sein Adjutant, jeden Hauptschlag mitgemacht. Seine blinde Kühnheit erwarb uns die Bewunderung der Piemontesen, die Achtung der Feinde, führte uns aber auch in manche dringende Gefahr. Er ließ sich nicht warnen. Am Abende nach der Schlacht von Custozza war das Korps fast ganz umringt und Cäsar lag mit blutendem Kopfe, halbtot, unter einer Zypresse. Nur durch ein festes Zusammenhalten aller unserem Kräfte konnten wir uns retten. Man drang heftig in mich, das Kommando zu übernehmen. Es war mir ebenso unmöglich, Cäsar zu verlassen, als ihn wegzuschleppen. Denn die geringste Bewegung hätte ihn vollends töten können. Eine buschige Niederung schützte uns wenigstens für den Augenblick vor der Entdeckung. In dumpfer, banger Stille erwarteten wir die Nacht.

Es ist schwer zu beschreiben, was man nach einer verlorenen Schlacht todesmatt am Sterbelager eines ohnmächtigen Freundes empfindet. Ich habe an jenem Abende alle Qualen nagender Gedanken und stummer Erschöpfung durchgekostet bis auf die Hefe. Wir hatten ein paar Monate lang ein Vaterland gehabt; jetzt war es dahin! Das war das bitterste.

Endlich kam Cäsar zu sich. Es war das letzte Aufflackern seiner schönen Seele, ehe sie erlosch. Wir sprachen lange. Es schien ihn wenig anzugreifen; er klagte nicht. Selbst die Vernichtung aller Hoffnung ließ ihn ruhig, freundlich; vielleicht hoffte er noch. Mir waren seine Worte wie Dolchstiche. Er starb für sein Vaterland! Der Gedanke trieb das Rot in seine eingesunkenen Wangen, die Glut in die ermatteten Augen. Ich habe die Freiheit, um die man mit Schwert und Wort so viel ringt, nie gesehen. Aber in jenem Augenblicke, wo er die Augenlider zum letzten Male aufschlug, schaute die göttliche aus den schwarzen Sternen zu den goldenen empor, jubelnd, siegestrunken – aus einem Antlitz, welches das Blut, die Wunden, der Schmerz, die Schmach in ein Marterbild verwandelt hatten. Und ich fiel nieder und betete.

Cäsar war tot. Ich berührte ihn nicht mehr, sah nicht mehr um mich. Die Kraft der Verzweiflung riß mich empor. Zwei Männer, soviel ich mich erinnere, zwei Arbeiter aus Como, blieben zurück, um die Leiche unter einer Zypresse zu begraben. Ehe der folgende Tag dämmerte, war unser Korps aus der gefährlichen Lage gerettet und löste sich auf. An dem Feldzuge des folgenden Jahres nahm ich keinen Anteil. Ich ahnte sein Ende; wir hatten nichts mehr zu gewinnen.

Eine Amnestie, die ich verschiedenen Freunden verdanke, rief mich aus der Schweiz zurück. Ich nahm sie an, weil ich Lucia nicht vergessen konnte, die mir seit dem Tode Cäsars in einem andern, mir selbst anfänglich unklaren Lichte erschien. Ich besuchte die Villa della Casa, erzählte ihr von den letzten Stunden Cäsars, brachte ihr seine letzten Grüße, sein letztes Andenken, ein blutbeflecktes Taschentuch. Ihren Dolch hat er ins Grab genommen. d'Estalozzi wurde als vermißter Flüchtling zum Tode verurteilt und da sein Vater, wahrscheinlich aus Kummer, starb, so wurden die Güter der Familie von der Regierung mit Beschlag belegt.

Das übrige ahnen Sie. Der Schmerz führte uns zusammen; Jahre gingen darüber hin. Lucia liebt mich nicht, wie sie Cäsar, ich sie nicht in der Weise, wie er sie geliebt hat. Morgen soll die feierliche Verlobung in der Villa della Casa begangen werden. O, sie liebt mich doch!«

Und Montefieris Auge strahlte, daß ich ihm fast nicht glauben konnte, daß seine Liebe eine ernstere und ruhigere war. Dann fuhr er fort:

»Fast hätte ich den Schluß vergessen! Gestern war der Todestag meines Freundes! Lucia verehrt ihn wie einen Heiligen. Sie wohnte der Totenmesse bei, die wir an diesem Tage immer für d'Estalozzi lesen lassen und da – Sie wissen, Damen haben oft eine etwas zu lebhafte Phantasie –. Nun, es ist vorüber und Ihnen gebührt mein und ihr Dank. Nicht wahr, Sie holen ihn selber ab?«

Ich wollte Montefieri Glück wünschen, aber die gewöhnlichen Formeln blieben mir im Halse stecken. Ich drückte seine Hand. Wir saßen einander schweigend gegenüber. Hinter den Zypressen auf dem nächsten Felsen trat das Madonnenbild der Villa d'Estalozzi hervor.

»Da wären wir ja!« sagte Montefieri, auf den Felsen deutend.

Am Steuerruder, wo es bereits seit einer halben Stunde ziemlich lebhaft hergegangen war, entstand plötzlich ein heftiger Wortwechsel, so daß wir uns beide erschrocken umsahen. Würmle, mein guter Würmle, war nahe daran, mit dem riesigen Steuermann handgemein zu werden, der ihn mit einer Flut von Schimpfworten überschüttete, welchen der Doktor, dessen ganzer Körper mit der Sprache zu ringen schien, durch eine Unzahl von Zitaten aus allen erdenklichen Naturgeschichten die Stirne bot. Kaum waren die Streitenden zu beruhigen. Würmle sank erschöpft zusammen und beklagte sich auf deutsch bitter über die Unwissenheit des gemeinen Volkes; der Schiffer habe behauptet, in Como gebe es Taranteln, die doch über Neapel nie herauf kämen! Er werde – wendete er sich an den Schiffer – sogleich nach Como zurückfahren und alles anwenden, um die Sache aufzuklären. Wenn er ein Exemplar entdecke, komme es ihm nicht darauf an, dem Alten fünf Maß Wein zu bezahlen, worauf der Schiffer, wie umgewandelt, alle Schmeicheleien an Würmle verschwendete, die er aufzutreiben vermochte. Dieser Zwischenfall tat seine Wirkung. Als wir an den Stufen der Villa della Casa anfuhren, sprang Montefieri lachend aus dem Boot, drückte mir noch einmal die Hand und lud mich nebst Würmle aufs neue ein. Würmle lehnte es entschieden ab. Ich sagte zu und mein Herz klopfte etwas stärker, als ich die glänzenden Fenster überschaute, hinter denen Lucia uns vielleicht beobachtete.

Die Villa d'Estalozzi war noch etliche hundert Schritte entfernt. Ein Kahn, in welchem sich zwei Schiffer und ein Herr befanden, näherte sich zu gleicher Zeit dem Ufer. Wir durchschnitten die stille Bucht und landeten. Ich stieg aus und als ich mich umwandte, um Würmle zu unterstützen, welcher wirklich bleich und erregt aussah, begegnete ich dem stechenden Auge des Provenzalen, des Marquis d'Epinay.

»Was führt Sie her?« – fragte er fast unhöflich erstaunt.

»Derselbe Grund, der wohl auch Sie bewegt: die Schönheit des Orts.«

»Ach, Sie haben recht! Suchen wir den Verwalter auf!«

Er ging voran. Unser Verlangen fand keinen Anstand. Der Verwalter, ein griesgrämlicher unterösterreichischer Feldwebel, ward schnell von Würmle in Beschlag genommen, der ihn über die Taranteln in Como examinierte. Der Marquis und ich waren daher bald allein und suchten uns so gut als möglich durch Gebäude und Garten durchzufinden, wobei ich mehrmals den richtigen Instinkt des Franzosen bewunderte.

Der Zustand des Ganzen schien derselbe geblieben zu sein wie vordem. Der Franzose schien bei manchen Partien in dem altertümlich eingerichteten Hause sowohl als in dem Garten, dessen verwilderte Schönheit alle meine Erwartungen übertraf, überrascht, ja fast ergriffen zu sein. Wir kamen, ohne viel zu sprechen, allmählich bis zu dem Marienbilde auf dem Felsen, von dem man eine wunderbare Aussicht auf den See genießt.

Ich kann vor einem solchen Anblick stundenlang stehen, ohne zu merken, daß die Zeit vergeht. Aber d'Epinay, der, mir den Rücken zuwendend, den Blick unverwandt auf die Madonna richtete, machte mir's am Ende doch zu lang. Ich setzte mich auf ein Bänkchen und sagte:

»Sie scheinen großes Interesse an diesem Platze zu haben. Er ist mir selbst seit einer Stunde doppelt so interessant, als er es ohne eine Erzählung wäre, die sich an ihn knüpft.«

Der Franzose sah mich starr an. Sein Auge kam mir heute noch unerträglicher vor als gestern. Es fielen mir die Schlangen ein, die durch ihren Blick Tiere bannen. Im nächsten Moment schalt ich mich wieder, und recht eigentlich aus Opposition gegen das tiefe, innere Gefühl, das mich zu beherrschen drohte, fing ich an, offen, doch ohne die Namen Lucia und Montefieri zu nennen, ihm die Geschichte des toten Flüchtlings zu erzählen.

d'Epinay mußte, obgleich er sich meistens abwandte, doch aufmerksam zugehört haben; denn als ich an den Schluß kam und ihm sagte: daß sich Lucia und Montefieri morgen verloben würden, wandte er sich plötzlich um und sagte kaum hörbar, mit einem Interesse, das mich nahezu erschreckte:

»Sie liebt ihn, mein Herr? Sagten Sie, sie liebt ihn?«

»So sagte ich, ein Glück, das niemand mehr zu verdienen scheint als er.«

Langsam drehte sich der Marquis wieder herum und sah, mir abermals den Rücken zuwendend, seine Maria an. Dann ging er plötzlich, ohne ein Wort zu sprechen, den Weg zum See hinab und ich folgte ihm, erstaunt über dieses wunderliche Benehmen, schweigend wie er.

Wir trafen Würmle sehr niedergeschlagen. Auch der Verwalter war der Ansicht, daß sich bei Como Taranteln auftreiben ließen. Und er selbst, Dr. Würmle, Privatgelehrter zu Tübingen in Schwaben, hatte erst vor einem halben Jahre in einem allgemein bewunderten kleinen Werke die Nordgrenze der Taranteln durch Neapel gezogen. Er schien Quecksilber in den Stiefeln zu haben. Er mußte ohne Verzug nach Como zurück, um so bald als möglich seine Forschungen antreten zu können, und war nicht zu bewegen, mich in die Villa della Casa zu begleiten. Wir stiegen ein. Der Marquis mit seinem Kahn flog uns weit voraus. Ich nahm von Würmle Abschied, versprach, am Abend im Hotel Angelo einzutreffen, und stieg an der Villa wieder aus.

Es war ringsum still; die Mittagssonne brütete auf dem See. Als ich die breiten Marmortreppen hinaufstieg, schien mir die Luft womöglich drückender als gestern. Es wurde mir enger und schwüler, ja, es reute mich fast, daß ich Würmle allein hatte ziehen lassen und ihm nicht lieber im Tarantelsuchen behilflich war.

Im Schatten der Rebengelände, in die ich nach wenigen Schritten eintrat, wurde es etwas kühler, indem ich das Thema: »daß ich ein Narr sei!« nach allen Seiten beleuchtete, bis mich ein Geflüster in der Laube, auf die ich zuging, wieder aus aller Fassung brachte. Doch ich bin von Natur nicht feig: ich drückte meine geistigen Augen zu und stürzte mich keck der Gefahr entgegen.

Und wo soll ich anfangen, diesen Mittag zu beschreiben? Über Sturm und Regen, Wetter und Wind kann man viele Worte machen; ein reiner, wolkenloser Himmel ist mit einem Worte beschrieben. Und doch, wenn ich das Auge von diesem hellen, unendlich tiefen Blau abwandte und in mich hineinsah, war mir's, als blitzte es in weiter Ferne. Aber ich machte mir nichts daraus und sah wieder links durch die Rebengirlanden, wo der Spiegel des Sees und die gegenüberliegenden Berge, rechts, wo das edle, treuherzige Auge Carlos, geradeaus, wo der schwarze, strahlende Blick Lucias mich trafen. Etwas abseits saß die Mutter, so recht mütterlich freundlich, wie man's in Deutschland kennt. An der schattigsten Stelle ruhte halbschlummernd der Vater Lucias, welcher sich nur selten in das Gespräch mischte.

Lucia dankte mir für meinen Dienst von gestern mit einer bezaubernden Schüchternheit.

»Ich betete, da wurde es mir auf einmal eng. Nein!« unterbrach sie sich plötzlich, »Sie kennen, wie ich von Carlo weiß, die Geschichte Cäsar d'Estalozzis. Sie sollen wissen, was sich zutrug. Es war mir gestern auf einmal, wie wenn sich etwas über mich hereinbeugte, und wie ich aufsah, da war's ....«

»Eine Phantasie!« lächelte Carlo und küßte ihre bleich werdende Wange.

»Nein, nein!« sagte sie leise; »er war's! Aber ich fürchte mich nicht mehr. Er war ja immer so gut, als er noch lebte. Er muß ein schöner, starker Engel geworden sein. Den Engeln ist ja wohl manches möglich. Und warum die Engel fürchten? Und dich hat er geliebt, Carlo, und mich! Nein, ich fürchte ihn nicht und wenn er auch wiederkäme!«

Montefieri ließ sie plaudern. Mich überlief ein leiser Schauder, aber ich hütete mich wohl, die dunkle Gestalt zu erwähnen, die auch ich gesehen hatte.

Die Mutter fragte nach Würmle und bedauerte seine Abwesenheit. Ich schilderte deren Ursache. Das Gespräch wurde heiter; man trank, man scherzte. Lucia löste mit ihrer zauberhaften Macht leise meine Befangenheit, daß ich es selbst nicht merkte. Es war mir so leicht, so froh zumute. Sie sang ein mir unbekanntes romanisches Volkslied; die Melodie war einfach, zutraulich und doch schien ein eigentümlicher schwermütiger Stolz drin zu liegen. Der Refrain reimte sich auf – estra; mehr hab' ich davon nicht behalten. Aber wochenlang habe ich von diesem – estra geträumt. Ein Naturlaut ohne Sinn. Ich bin ihn heute noch nicht los geworden.

Ehe ich mich's versah, hauchte der Abendwind durch die Laube. Man schalt, daß ich Würmle versprochen hatte, so bald zurückzukehren. Montefieri bot mir Lucias Gondel an, um mich nach Como bringen zu lassen; ich nahm dies dankbar an. Als er ging, um das nötige einzuleiten, sagte Lucia zu mir:

»Wollen Sie nicht morgen zu einem kleinen Feste wiederkommen, das sonst keine Fremden auf die Villa führen wird? Es wird Carlo gewiß freuen und meine Eltern auch.«

Ich antwortete nicht. Mit einem Male stieg mir wieder alles Blut gegen das Herz; ich war so beklommen, daß ich kein Wort hervorbringen konnte. Wie ich Abschied genommen, ist mir nicht mehr erinnerlich. Ich saß in der Gondel und fühlte noch, daß sie mir die Hand gegeben, sah noch ihren letzten Blick, hörte noch durch das einförmige Schlagen der Ruder jenes – estra über ihre Lippen stießen und fing nun selbst an, »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten –«.

Im Hotel Angelo, welches ich bei sinkender Dämmerung erreichte, war von Würmle keine Spur zu entdecken. Er sei nicht dagewesen, sagten die Kellner. Ich begab mich auf mein Zimmer und wartete. Es währte eine Stunde. Das Licht, das das Zimmermädchen brachte, hatte ich ausgelöscht. Ich hätte noch Stunden lang warten können, ohne Langeweile zu bekommen.

Plötzlich stolperte etwas stöhnend die Treppe herauf. Meine Zimmertüre flog auf; Würmle taumelte herein, verstört, ohne Hut, und sank erschöpft auf das Sofa.

»Hat Sie eine Tarantel gestochen, Würmle?« rief ich wirklich erschrocken und machte hurtig Licht.

»O Gott! – Franzbranntwein!« – stöhnte es, wie aus dem Grabe.

»Was? Würmle, ich bitte Sie, fassen Sie sich! Was wollen Sie?«

»Franzbranntwein! Nur ein paar Tropfen! Dort links hinter der Schachtel! Werfen Sie die Schachtel nicht um! O Gott! Ich sterbe, wenn ich noch nicht tot bin!«

»Aber – so sagen Sie doch!«

»Geben Sie mir das Fläschchen! Nein ... nicht ... nicht den Spiritus!«

»Wollen Sie reden?«

»Wenn ich dürfte, wohl! Aber sie haben mir einen furchtbaren Eid eingeprügelt ... Ich bitte Sie, geben Sie den Franzbranntwein! ... Geben Sie her!«

Ich bin Würmle viel Dank schuldig. Wenn ich mich in dem Meere meiner Phantasie verlieren wollte, hat er mich immer wieder glücklich auf den festen Ankergrund der Wirklichkeit zurückgeschleppt. Auch diesmal gelang es ihm. Indessen war ich nicht ganz befriedigt. Denn aus seinen kläglichen Berichten erfuhr ich nur soviel, daß er, in Como angekommen, sich nach der Weisung des Schiffers nach der Vorstadt gewendet und dort bis gegen Abend Haus für Haus durchstöbert hatte, um eine Spur von Taranteln zu entdecken. Endlich sei er fast hoffnungslos in ein halbverfallenes turmartiges Gebäude an der Stadtmauer geraten, ohne bemerkt zu werden, und habe in einem Winkel desselben wirklich ein kleines Exemplar der Tarantel entdeckt. Durch die Wand habe er hierbei in eine Kammer gesehen, in der sich drei Männer unterhielten. Einen derselben habe er erkannt; dieser habe nach kurzer Zeit das Haus verlassen, worauf die zwei zurückkehrenden Banditen ihn bei der Tarantel gefunden hätten. Ob er einem österreichischen Spionen gleichsehe? Ob Taranteln mit der Politik in Wien etwas zu tun hätten? Trotzdem habe man ihm unter gröblichen, die Ehre eines freien Mannes schwer kränkenden Mißhandlungeneinen Eid aufgedrungen, der ihn aber nicht hindern werde, morgen nach der Villa della Casa zu gehen.

Ich verzweifelte, mehr aus ihm herauszubringen. Die Sache hatte ihre ernste Seite und doch mußte ich lachen, wenn der fromme Dulder mit der kläglichsten Miene seinen Franzbranntwein anwendete, um die Schwielen, die nicht unbedeutend waren, nach den Regeln der Wissenschaft, für die er litt, zu behandeln. Ich riet ihm, sich zu Bett zu legen, was er auch unter vielen Seufzern über seine schwierige und gefährliche, aber doch schöne Lebensaufgabe geduldig tat.

Ich war wieder allein. Mit Würmle verschwand die heitere Seite des Daseins. Es wurde mir unheimlich zumute in diesem Lande der Abenteurer. Ich fühlte zum erstenmal deutlich, daß ich nicht mehr von unsern guten, sicheren deutschen Verhältnissen umgeben war.

Wer konnte wohl jener Dritte der Männer sein, den Würmle kennen wollte? Wen kannte der Doktor in Como? Was brachte diese Leute in Verbindung mit der Villa della Casa? Auf die erste Frage trat mir mehr als einmal das Bild des Provenzalen vor die Augen. Wen sonst konnte Würmle kennen? Auf die zweite hatte ich nur ein dunkles Gefühl der Antwort, das mir unheimlich den Rücken hinauflief.

Nachsinnen half hier nichts. Es war sehr spät. Ich beschloß, zu Bette zu gehen und zu schlafen, wenn es möglich wäre. Da klopfte es leise an der Türe. Ein Kellner trat ein und erkundigte sich mit verlegener Miene, ob ich noch einen Besuch annehmen würde? Ich fragte hastig nach dem Namen des Fremden.

»Marquis d'Epinay!« versetzte der Kellner geheimnisvoll.

Ich fühlte mich von einem dämonischen Schauder erfaßt und trank ein Glas Wein aus, welches noch auf meinem Tische stand. Ganz wie Don Juan im letzten Akte; ich, der unschuldigste der Don Juans! Die Türe öffnete sich zum zweitenmal. Der Angemeldete trat ein. Ich sah ihn an. Machte es die matte Beleuchtung, hatten wenige Stunden ein Gesicht so verändern können: ich weiß es nicht. Eine breite Wunde, die mir bisher sein Hut verborgen hatte, lief fast über die ganze Stirne; sein Haar flatterte wirr um das Haupt, in den tiefen Augenhöhlen glüht« – mir fiel Montefieris Ausdruck ein – eine ganze Hölle von Leidenschaften. Die Wangen waren eingefallen, die Lippen bebten, seine Brust arbeitete krampfhaft. Er mußte sehr stark gegangen sein und suchte sich vergebens den Anschein einer kalten Gemessenheit zu geben.

»Verzeihen Sie, mein Herr!« begann er, »meine gegenwärtige Lage durchbricht alle konventionellen Schranken. Betrachten Sie mein Betragen, wie Sie wollen, aber schenken Sie mir ein paar Minuten!«

Der Kellner ging. Ich bot dem Marquis schweigend die Sofaeck an und setzte mich, das Licht zwischen uns, ihm gegenüber, ohne ein Wort zu sagen. Er musterte mit langsamem Blick das Zimmer.

Nach einer Pause fragte mein unheimlicher Gast mit halblauter Stimme:

»Ihr Reisegefährte ist noch nicht zurückgekehrt?«

»Er schläft hier neben uns.«

»So kennen Sie wohl den Unfall, der ihn betroffen hat. Sie sind der einzige Mensch, dem er sich anvertrauen konnte. Er kennt, soviel ich weiß, niemand außer Ihnen in der Stadt.«

»Und das hat für Sie einige Bedeutung?«

»Welche Frage! Das müssen Sie doch wissen!«

»Ich weiß nur, daß er in einem Hause, wo er durch einen übeln Zufall in den Verdacht kam, Spion zu sein, einen Eid schwören mußte, welcher ihm jede weitere Entdeckung, selbst gegen seinen besten Freund, unmöglich macht.«

»Ah pah!« Der Italiener lachte, daß es mir durch Mark und Bein ging. Plötzlich in einen ganz andern Ton überspringend bot er mir die Hand und sagte: »Ich habe schon längst aufgehört, Menschen zu lieben und zu achten. Sie haben mich einigemal daran erinnert, daß ich es einmal konnte. Geben Sie mir Ihre Hand!«

Unsere Hände berührten sich. Die seine war kalt wie Eis, die meinige feucht. Mir war, als hätte ich einem Gespenste die Hand gereicht.

»Sie haben«, fuhr er fort, »mir heute eine Geschichte erzählt und dabei für einen Flüchtling ein Mitleid an den Tag gelegt, das mich der Seltenheit wegen fast ergriffen hätte. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen den Dienst zurückgebe und Ihnen auch eine Geschichte, – eine ganz andere – erzähle.«

Er legte sich in die Sofaecke zurück, schloß die Augen und begann mit einförmiger, leiser Stimme, die, ich gestehe es, auf die Länge etwas Grauenerregendes hatte, eine Erzählung, welche mir anfangs eine reine Wiederholung der Geschichte d'Estalozzis schien, nur daß die Namen verändert waren. Ich wagte nicht, ihn zu unterbrechen, und glaubte allmählich, es mit einem Wahnsinnigen zu tun zu haben.

Er war bis zum Tode d'Estalozzis gekommen, als seine Stimme zum Flüstern herabsank und in seinem Gesichte eine lebhafte Erregtheit sichtbar wurde. Er fuhr fort:

»Als die beiden einzigen, die ihm treu geblieben waren, das Grab gegraben hatten, um ihn zu verscharren, lag der Ohnmächtige mit offenen Augen da und verlangte zu trinken. Die treuen Burschen freuten sich und trugen ihn mit Lebensgefahr aus der gefährlichen Gegend, in der sie sich befanden, in eine arme Hütte im Gebirge. Wochenlang lag er bewußtlos, von rauhen Händen gepflegt. Das erste, was er wieder las, war sein Todesurteil und die Konfiskation seiner Güter. Flucht war die einzige Rettung. Er ist geflohen. Jahrelang ist er umhergeirrt, in der Schweiz, in Frankreich, in England, in Amerika. Nirgends fand er Ruhe, nirgends konnte er vergessen, daß er einen Freund, eine Braut, ein Vaterland verlassen hatte. Einmal wenigstens mußte er wieder suchen, was ihm einzig noch teuer war in seinem verlorenen Leben. Und als er kam und als er mit Freudentränen die Berge der Heimat wieder begrüßte, da hat der treue Freund ihm die Braut gestohlen und das Vaterland verleugnet; da hatte die Braut ihn und das Vaterland vergessen über der Liebe zu einem Verräter. Und da wischte er sich die Tränen aus den Augen und entblößte seine letzte Waffe, die einmal eine feierliche Stunde gefeit hatte, und betete zu dem Gott seines Vaterlandes, der noch lebt im Verborgenen: Herr Gott, gib mir ein steinern Herz und laß mich ihn treffen!«

Wir sprangen zu gleicher Zeit auf. Ich fiel ihm in die Arme, »halten Sie ein!« rief ich, ihn mit all meiner Kraft niederdrückend, »Sie sind wahnsinnig!«

»Ich weiß es wohl!« sagte er kalt und wischte sich den Schweiß von der Stirne. »Aber ich will Ihnen etwas sagen. Machen Sie Lärm, rufen Sie die Polizei! In drei Tagen bin ich erschossen oder gehenkt! Das ist sehr einfach. Doch wenn Gott mein Gebet erhört, dann dürfen Sie nicht der erste sein, der den Stein auf mich wirft und sagt: Gott sei Dank, ein Mörder bin ich nicht!«

»Das Unglück ist der Mörder!« sagte ich, vom Mitleid und vom Fieber der Aufregung geschüttelt.

»Was sagten Sie? Sagen Sie das noch einmal! Cäsar ist tot! Nicht wahr!« wiederholte der Marquis, plötzlich zur schrecklichsten Ruhe übergehend. »Nicht wahr, er ist tot? Cäsar d'Estalozzi ist tot!«

Ich sah zur Erde. Als ich wieder aufblickte, schloß sich die Zimmertüre lautlos hinter seiner düstern Gestalt.

»Ja, Cäsar ist tot!« rief ich und warf mich auf mein Bett. – – –

Geräusch und Stimmen in Würmles Zimmer weckten mich. Es war heller Morgen. Ich lauschte.

»Mein Herr, die Polizei kennt nur ihre Pflicht. Darf ich, Sie um Ihren Paß bitten?«

»O Herr Polizeikommissär, gewiß, mein Paß hat zwar eine kleine – ich hoffe nicht, daß es mir Widerwärtigkeiten macht–, eine kleine – Unrichtigkeit.«

»S–o–o! – Zeigen Sie!«

»Dort in meiner Rocktasche, rechts oben! Aber, Herr Kommissär, Sie werden doch soviel Einsicht haben und einen Mann der Wissenschaft – ich bin Doktor Würmle.« »Ich seh's.« – Und er las Würmles Paß mit feierlicher Stimme ab, bis er an die Stelle kam: Reisezweck – Vergnügen.

»Sehen Sie«, rief Würmle rasch einfallend, »da ist's! Es sollte nicht heißen ›Vergnügen‹; ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, es ist dies unrichtig. Aber ich bin unschuldig, ganz unschuldig!«

»Und das Wahre?«

»Spinnen.«

Eine lange, schauerliche Pause trat ein. Endlich fuhr der Polizeikommissär fort:

»Derartige Verhöhnungen der Behörde, mein Herr, könnten ihre sehr übeln Folgen haben, wenn nicht bereits anderweitig ein viel schwererer Verdacht auf Ihnen lastete. Ich muß bitten, sich zu erheben und mir zu folgen.«

»Aber – ums Himmels willen, teurer Herr Ober-Polizeikommissär, wohin denn? Es ist noch sehr früh. Ich fürchte mich zu erkälten. Die Morgenluft –«

»Die Polizeidirektion ist vor der Morgenluft gut geschützt. Stehen Sie auf!«

»Ich kann wirklich nicht. Sie werden doch ein Einsehen haben! Seitdem Sie da sind, bin ich in einen überaus nachteiligen Schweiß verfallen. Man kann unmöglich wünschen, daß Männer der Wissenschaft durch polizeiliche Maßregeln –«

»Mein Herr, machen Sie keine Umstände! Meine Zeit ist kostbar. Sagen Sie einfach, was Sie gestern in ein verrufenes Haus der Vorstadt führte, wo Sie mehrere Stunden einer Unterredung beiwohnten, über die Sie uns näheren Aufschluß geben werden. Nun?«

»Spinnen!«

Der Ton war so dumpf, so kläglich, daß ich vermutete, Würmle habe sich vollends unter der Decke verkrochen.

»Folgen Sie mir!« donnerte der Kommissär. Ich hörte die Türe aufgehen, Tritte, Stimmen, Säbelklirren. Würmle schrie um Hilfe. Dem Geräusche nach zu urteilen, rang er verzweifelt um seine Bettdecke.

Jetzt wurde mir's zu bunt. Ich warf mich in meine Kleider, ging hinaus und wollte dem Doktor zu Hilfe kommen. Zwei Gendarmen standen vor seiner Türe und wiesen mich barsch hinweg. In mein Zimmer zurückgekehrt, stieß ich die Türe, die mich von Würmle trennte und die von innen verriegelt war, mit einem Fußtritt auf.

»Was soll das!?« rief ich entrüstet. Mein Doktor stand zitternd im Hemde da, um ihn herum vier Polizeisoldaten, seine Kleider in den Händen. Halb weinend weigerte er sich, sich anzukleiden. Höflicher als ich erwartet hatte, wandte sich der Polizeikommissär an mich und sagte:

»Es tut mir leid, daß die Sache so viel Skandal macht. Aber ich muß Sie bitten, das Zimmer zu verlassen. Wir haben es hier mit einem sehr gefährlichen Individuum, einem mazzinistischen Spion zu tun, der gestern –«

»Nein, Spinnen hab' ich gefangen! Helfen Sie mir! Freund, teurer Freund! Man will mich offenbar erschießen! Das geht zu weit! Ich kann mir das unmöglich gefallen lassen!«

Meine Gegenwart gab ihm neuen Mut. Ich brauchte meine ganze Beredtsamkeit, um ihn zunächst in seine Beinkleider hineinzudisputieren.

Der Kommissär dankte mir mit etwas zweideutiger Miene. Ich hatte selbst durch diese Handlung einigen Verdacht erregt. Würmle ergab sich, seit er die Hosen anhatte, in sein Geschick. Der Abschied rührte mich. Er weinte an meinem Halse, als ginge es zum Schafott. Ich versprach, alles zu tun, um die Sache so bald als möglich aufzuklären. Er dankte mir nicht; er drückte mir nur noch die Hand und empfahl mir seine Spinnensammlung, wie man auf dem Sterbebette seine Kinder empfiehlt.

Wir schieden. Die Polizeisoldaten sahen der komischen Szene mit fürchterlich ernsten Blicken zu. Sie war ihnen ein neuer Beweis von der Schuld des Doktors. Eine Droschke entführte meinen Freund, der mir noch bis zum letzten Hause, das ich sah, mit dem Taschentuche winkte.

Kaum nahm ich mir Zeit, ein wenig zu frühstücken. An die Villa della Casa dachte ich nur entfernt. Ich konnte meinen unglücklichen Würmle unmöglich hilflos in dieser verwickelten Situation stecken lassen und wandte alles an, was in solchen Fällen ratsam und tunlich ist. Aber der Morgen verging ohne das geringste Resultat. Von einem Gesandten war in Como keine Rede. Man schickte mich von der Polizeidirektion auf das Bezirksgouvernement, von da zu diesem und jenem Beamten. Überall Achselzucken, vielsagende Blicke, leerer Trost. Den Doktor selbst bekam ich nicht zu sehen.

Müd und mißmutig ging ich – es mochte etwa drei Uhr sein – dem Hotel Angelo zu. Jetzt erwartete man mich ohne Zweifel in der Villa, jetzt wäre ich wohl schon dort gewesen, wenn mir diese dumme Geschichte nicht dazwischengekommen wäre. Als ich eben um die Domecke bog und überlegte, ob es nicht das klügste sei, eine Barke zu nehmen, davonzufahren und Würmle die Sache selbst auszappeln zu lassen, stieß ich auf d'Estalozzi. Er war sehr sorgfältig gekleidet; von der gestrigen Nacht war kaum noch eine Spur auf seinem Gesichte zu entdecken. Ich wollte grüßend an ihm vorübergehen. Da fiel mir ein, daß der Marquis mir wohl am ehesten Auskunft geben dürfte, was für Würmle geschehen könne. Ich erzählte ihm daher im Weitergehen den Verlauf, soweit ich ihn kannte. Er schien etwas betroffen und sah nach der Uhr. Wir gingen langsam dem Stadttore zu. Ich hatte mit ihm umgewendet; auch er schien keine Eile zu haben.

»Glauben Sie«, fragte er mich am Schlusse meines Berichtes auffallend gleichgültig, »glauben Sie, daß Ihr Doktor den Eid halten wird, von dem er sprach? Es könnte dies die Sache für ihn um ein Ziemliches unangenehmer machen.«

Soweit ich Würmle kannte, war ich fest davon überzeugt.

Das Gespräch wollte nicht recht fließen. Die vergangene Nacht, die weder er, noch ich erwähnte, brachte natürlich eine gewisse Spannung in die Unterhaltung.

Wir hatten die Stadt verlassen. Er fragte mich, ob ich schon einen der Berge erstiegen habe, die sich hinter derselben erhoben. Als ich dies verneinte, erbot er sich, mich auf eine der Anhöhen zu führen, um mir eine Aussicht zu zeigen, welche mich überraschen würde. Ich nahm das Anerbieten an, da ich für den Augenblick nichts Vernünftigeres tun konnte.

Wir erreichten schweigend die Höhe. d'Estalozzi hatte mir nicht zu viel versprochen. Vor uns der See, ein glatter, herrlicher Spiegel, über ihm das Panorama der Alpen mit ihren blitzenden Schneekronen, unter uns Como, hinter uns die italienische Ebene, ein ungeheurer Garten, bedeckt, soweit das Auge reicht, mit glänzenden Dörfern, strahlenden Städten. Vergebens sucht das geblendete Auge, vergebens sucht auch der Geist, der hier die Schlachtfelder von achtzehn Jahrhunderten überblickt, nach einem Ruhepunkte in dem kolossalen Gemälde. Ein derartiger Anblick macht stumm. d'Epinay hatte ein Taschenfernrohr hervorgezogen und überschaute in der Richtung nach Mailand den Horizont. Er setzte ab.

»Ein schönes Land!« sagte er mehr für sich; – »ein stolzes Land! Mir ist, als ob es aufseufzte zum Himmel um Erlösung. Aber die Sprache seines Schmerzes ist stumm. O mein Vaterland!«

Sein Auge flog über die herrliche Fläche, frei, blitzend, wie wenn es mit einem Blicke die Ketten lösen könnte, die ein Volk erdrücken, das sich hoffnungslos nach Freiheit sehnt. Lebhaft wandte er sich an mich:

»Verzeihen Sie meine Monologe! Sie haben kein Vaterland verloren!«

Ich weiß nicht, warum ich rot wurde. Wir schrieben damals 1854.

Sein Auge verdüsterte sich wieder. Ich antwortete nicht. Er hatte sich umgewandt und fixierte mit dem Tubus lange ein schwarzes Pünktchen auf dem See. Plötzlich bot er mir das Fernrohr und zeigte mit einer heftigen Bewegung der Hand auf die schimmernde Fläche des Sees.

»Sehen Sie dort ... den Punkt!« rief er hastig und schaute abermals auf die Uhr. Ein kurzes, scharfes Lachen erschreckten mich; das waren wieder die Gesichtszüge vom gestrigen Abend. Noch währte dies nur einen Augenblick. Sich fassend wies er abermals auf das schwarze Pünktchen. Ich schaute hinab. Das Glas war eines der besten, das ich je in der Hand gehabt hatte. Ich bemerkte eine Gondel, mit vier Ruderern bemannt, die auffallend schnell das Wasser durchschnitt. Im Vordergrunde saß, etwas zusammengekauert, ein Herr. Er hatte den Hut abgenommen. Es war Würmle.

Fragend, staunend sah ich den Marquis an.

»Er vermutet Sie wohl dort?« sagte er, sich abwendend. »Wo?«

»In der Villa della Casa!«

»Wie? Weder er noch Sie wissen, daß ich dorthin zu gehen beabsichtigte. Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?«

»Man braucht dazu kein allzu großer Menschenkenner zu sein. Oder – aber – Nein! nein! er kommt zu spät!«

Und wieder schaute er auf die Uhr. Die letzten Worte hatte ich kaum verstanden. Es litt mich nicht länger auf dem Berge. Ein unerklärliches Gefühl beengte mich in der Nähe des fremden Bekannten. Wir stiegen hinab. d'Estalozzi war einsilbiger, sein Gesicht blässer als beim Aufstieg.

Es wurde Abend, bis wir Como erreichten. Der Marquis war etwas vorausgegangen und wandte sich um, als wir die ersten Häuser der Vorstadt vor uns hatten.

»Haben Sie die gestrige Nacht schon verschlafen?« fragte er düster.

»Warum fragen Sie?«

»Damit Sie dieselbe heute nacht nicht vergessen! Leben Sie wohl!«

Ich hatte den unheimlichen Menschen so schnell verloren, als ich ihn gefunden hatte, und setzte meinen Weg allein fort.

Im Angelo war ich nicht sonderlich überrascht, den Polizeikommissär von diesem Morgen aus mich zukommen zu sehen. Er überreichte mir meinen und Würmles Paß – beide hatte er am Morgen mitgenommen – mit der Weisung, binnen drei Tagen das Land zu verlassen. Ich berief mich auf alles, was mir die unangenehme Überraschung eingab. Die Antwort blieb die gleiche. Er persönlich könne hier nichts machen. Man sei gegenwärtig leider genötigt, die äußerste Vorsicht anzuwenden, und es sei dieselbe Maßregel schon mehrmals unter weit weniger verdächtigen Umständen in Anwendung gekommen. Von Würmle wußte er nichts, als daß er vor drei Stunden entlassen worden sei.

Was war zu machen? Ich versprach, den Doktor so bald als möglich zu benachrichtigen, und beschloß, ohne Verzug den Rückweg in die Schweiz anzutreten, packte daher meine und Würmles Sachen zusammen, so gut es ging, und eilte ins Freie, um noch so viel vom schönen Italien zu genießen, als die Polizeidirektion von Como gestattete.

Die sonderbarste Stimmung drückte auf mich. Lucia, – Würmle, – Montefieri, – der Provenzale, – alle vier kreuzten sich in unruhiger Bewegung in meinem Gehirn. Wie Heimweh nach dem Comersee, den ich noch nicht verlassen hatte, überschlich mich's und im nächsten Augenblick verdrängte ein unheimliches Grauen vor den gleichen, bunten, lieblichen Bildern das Gefühl einer unklaren Sehnsucht. Vergeblich suchte ich mich aus diesem Chaos loszuwinden. In einer Art verzweifelten Unmuts betrat ich den Platz am Hafen.

Die Luft war noch drückend schwül; doch hatte die Dämmerung bereits die Straßen und Plätze mit Menschen gefüllt.

Vor dem Hotel hatten sich in einer Gondel drei Schiffer und zwei Matrosen aufgestellt, die zur Gitarre ihre leichten Volksweisen sangen. Lachend, singend, lauschend umströmte die Menge jene Gruppe. Auch ich beobachtete das aufgeregte, nächtliche Bild lange. Über mir trat leise flimmernd Stern um Stern hervor, um mich wurde es lauter und lauter, unter mir schlug der See unruhig an die Mauer des Hafendamms, den ich betreten hatte. Die ganze Welt schien mir Fieber zu haben.

Über den nördlichen Bergen sammelten sich schwere, schwarze Wolken; Blitze ohne Donner zuckten über die Fläche des Sees, der sich unruhig zu regen begann. Niemand schien es zu bemerken. Die Schiffer sangen, die Menge lachte und wogte lustig durcheinander wie zuvor. Ich legte mich auf die Brüstung und betrachtete das Bild. Es war, wie wenn ein geschlossenes Auge sich plötzlich öffnet und dann wieder schließt, so oft ein Blitz sich in der nächtlichen Fläche spiegelte. Aber es war ein furchtbarer, unerträglicher Blick.

Dort kämpfte eine Barke mit den unregelmäßigen Wellen. Sie näherte sich langsam. Endlich schwankte sie in den Hafen. Ich hatte sie lange beobachtet; sie interessierte mich zuletzt und ich ging an den Platz, wo sie landen mußte. Ein Herr stieg aus. Er war's! Würmle flog an meinen Hals.

Seine Umarmung erschreckte mich. Der nächste Blitz zeigte mir, daß er bleicher war als der Tod.

»Aber was haben Sie? Woher kommen Sie?«

»Gott im Himmel! ich kam zu spät!«

»Wo? Was ist geschehen? – Sprechen Sie, Würmle!«

»Carlo – Sie kennen doch Carlo – Carlo ist tot!«

Es schüttelte mich durch Mark und Bein. Ich konnte nicht mehr sprechen. Schweigend zog ich Würmle wieder dem Hafendamme zu, wo wir allein waren, und bat ihn dort, mir Näheres mitzuteilen.

»Das ist schnell geschehen«, sagte er. Auch ihm wurde das Sprechen schwer; es war doch ein herzensguter Mensch.

»Als man mich losließ, fuhr ich so schnell als möglich nach der Villa della Casa, um wenigstens zu warnen, soweit ich konnte und durfte. Als ich ankam, war es geschehen. Man hatte ihn von dem kleinen Feste abgerufen, das die Familie feierte. Ein Fremder, der ihn an dem Madonnenbilde erwarte, das über der Villa steht, begehrte ihn zu sprechen. Er kam nicht wieder. Lucia fand ihn röchelnd in seinem Blute am Boden, einen Dolchstich in der Brust, die Scheide mit einem kostbaren Gehänge über ihn hingeworfen. Die Waffe selbst war fort. In diesem Augenblicke kam ich an. Meine Bemühungen brachten ihn nur noch auf wenige Augenblicke zu sich. Er küßte Lucia; er sagte, als er die Scheide am Boden sah: »das Gespenst hat mir unrecht getan!« und dann war's aus.«

»Und das war – wann?« fragte, ich, den Atem anhaltend.

»Abends um sechs Uhr.«

Es wirbelte mir im Kopfe. Damals stand ich mit dem Marquis noch auf dem Gipfel des Berges.

»Und Lucia? Lucia?« rief ich erschüttert.

»Ich habe sie nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, lebt sie, oder ist sie tot? Ihr Bruder und der Bruder Montefieris, die am Morgen gekommen waren, brachten sie in das Haus, ehe ich ging.«

Eine lange Pause füllte das Rauschen des Sees und das ferne Donnern des Gewitters aus. Ja, – hätte ich weinen können! Es war mir, als müßte mir's das Herz zersprengen. Um mich gewaltsam meinen Gedanken zu entreißen, sagte ich:

»Und wissen Sie schon, daß wir in drei Tagen den See verlassen müssen?«

»Und wissen Sie«, brauste Würmle mit einer Heftigkeit auf, die ich nie an ihm bemerkt hatte, »wissen Sie, daß ich keine Stunde länger hier bleibe als bis zum nächsten Dampfboot, das dort drüben raucht? Morgen bin ich in der Schweiz. Begleiten Sie mich?«

Ich nickte. Wir gingen, um im Angelo rasch alles ins reine zu bringen, was noch zu tun war.

Würmle hatte recht. Das Nachtdampfboot zwischen Como und Colico ging um halb zwölf. Natürlich wird es von Personen nur wenig benützt. Ich saß allein auf dem Verdeck. Würmle war in die Kajüte gegangen. Er fühlte sich krank.

Das Gewitter hatte sich endlich zerteilt. Wunderliche Gestalten streckten noch, wie jammernd, ihre Arme hinter dem Horizont hervor. Der Mond war aufgegangen und schüttete die schwarzen Schatten der Berge in den See. Das Boot brauste einförmig durch die dunkeln, hochwogenden Wellen. Es war öde und leer auf der herrlichen Fläche.

Der Doktor trat zu mir.

»Er ist an Bord!« flüsterte er. Ich beachtete es nicht. – »Der Marquis ist hier!« sagte er etwas lauter, sich umsehend. Er hatte das einzige Wort genannt, das mich aus meiner Erstarrung reißen konnte.

Ich fuhr auf und sah nach dem Schnabel des Schiffs oder vielmehr nach dessen Schatten im Wasser. Ja! denselben überragend hob und senkte sich auch der Schatten! eines Mannes auf den Wellen und tauchte unruhig auf und nieder. Ich erkannte deutlich den Mantel und den Hut, tief übers Gesicht gezogen. Es war sein Gespenst.

»Bst! Bst!« mahnte Würmle, als ich aufstehen wollte, um auch nach den leibhaftigen Marquis zu sehen, den mir der Radkasten verdeckte. »Er hat mich von meinem Eide, Ihnen gegenüber, entbunden. Sie müssen mich anhören!«

Er drückte mich zurück; wir setzten uns, der Doktor fuhr fort: »In dem Hause, wo ich die Tarantel fand, habe ich auch ihn getroffen. Er sprach mit zwei bösartig aussehenden Männern; er erinnerte sie, ich glaube, an Custozza; er sprach davon, wie sie ihn hätten begraben wollen und noch vieles, das ich nicht verstand. Dann sagte er, daß Carlo de Montefieri seine Braut ihm genommen und das Vaterland verraten habe. Aber die Männer wollten lange nicht den Dolch nehmen, den er ihnen aufdrang. Endlich tat es der eine und d'Estalozzi ging. Erst als er fort war, fanden sie mich und zwangen mich, zu schwören. O Gott! dieser Schwur und dann die Polizei hat Carlo das Leben gekostet!«

»Mörder!« murmelte ich und der ganze Grimm, dessen meine Seele fähig ist, erstickte mir die Stimme.

»Haben Sie die gestrige Nacht schon verschlafen?« fragte es tonlos hinter mir. Würmle fuhr zusammen und war von meiner Seite verschwunden, ehe ich mich's versah. Ich nahm mich zusammen, wandte mich um und sah in die starren Augen des Marquis.

»Mörder?« wiederholte er und lächelte. »Sehen Sie einmal hinüber! Dort glänzt das Marienbild hervor, an dem er fiel. Der Mond scheint darauf. Und jetzt sehen Sie mich an! Zittere ich? Zuckt mein Blick? Werde ich blässer?« Und er lächelte.

Langsam fuhr er unter seinen Mantel und zog ein blankes, glänzendes Dolchmesser hervor.

»Sehen Sie den Dolch an! Er war das Werkzeug. Ist er der Mörder? Ist der alte Soldat, der ihn führte, der Mörder? Habe ich, gezuckt? Bin ich blässer geworden? Das Unglück ist der Mörder!«

Er fuhr mit der Hand über die Stirne.

»O, wie ich diesen Tropfen Blut geliebt habe, der noch an dem Stahle hängt! Pfui, weg damit! Aber wie ich ihn geliebt habe! Und wie ich sie und wie ich mein Vaterland geliebt habe! Aber die schöne, herrliche Seele erlosch! Cäsar ist tot. – Das Unglück ist der Mörder.«

Ich hörte kaum auf ihn. Noch war die Villa della Casa nicht verschwunden. Am ganzen Ufer war es dunkel. Nur in ihr schimmerte noch ein mattes, einsames Licht. Dort rang vielleicht Lucia mit ihrem Schmerze, mit dem Tode.

Ich gab mir keine Mühe, mich zu fassen. Ein Strom von Tränen stürzte aus meinen Augen. O wenn er geweint hätte, auch nur eine Träne, ich wäre ihm zitternd um den Hals gefallen und hätte zu ihm gesagt: »Vergib mir, du warst unglücklicher, als ich es fassen kann!« Aber er hatte keine Träne im Auge, keine einzige.

Still lehnte er sich über die Brüstung und sagte:

»Dort drüben liegt mein Vater; der Gram hat ihn getötet; – dort drüben liegt mein Freund, meine Braut. Sie hatten recht, das Unglück ist ein Mörder. Aber« – fuhr er plötzlich schneller und fast heiter fort – »Sie haben einen trefflichen Gedanken gehabt! Sehen Sie einmal hinunter! Wie gefallen Ihnen die Wellen? Es muß etwas Herrliches sein, in diesen Wassern zu versinken! Und doch ein wenig kindisch!«

Und er erhob sich wieder und ging lautlos dem Vorderteile des Schiffes zu. Ich wagte nicht, ihm nachzusehen. Ich drückte das Gesicht in mein Taschentuch und weinte. Ein Zypressenbaum hatte das Licht in Lucias Zimmer verdeckt. – – –

Als wir in Colico ans Land stiegen, bemerkte ich d'Estalozzi nicht. Es dämmerte kaum. Wir nahmen ein Gefährt nach Chiavenna. Bei Riva fuhr ein Einspänner an uns vorbei, als Würmle eben aussteigen wollte, um einem Schmetterling nachzujagen. Er behauptete, den Marquis erkannt zu haben. Ich glaube es kaum.