Marie von Ebner-Eschenbach
Unverbesserlich
Marie von Ebner-Eschenbach

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Marie von Ebner-Eschenbach

Unverbesserlich

Erzählung (1910)

Sie waren Zwillingsgeschwister, Fräulein Monika und Pfarrer Emanuel, hatten jüngst ihr sechzigstes Jahr erreicht und gehörten zur kleinen Gemeinde der einsamen Menschen. Was verliebt sein heißt, hatte Monika nie erfahren, obwohl sie einstens sehr nahe daran war, sich zu verheiraten. Aber nur aus Hochachtung. Was in ihrem Bruder vorgegangen, ob er Kämpfe zu bestehen gehabt hatte, ob die Entsagung ihm so leicht geworden wie ihr, davon wußte sie nichts. Nur einmal, als sie etwas gedankenlos sich und ihn als Muster einer lautersten Lebensführung hinstellte, sprach er lächelnd:

«Vielleicht die Folge einer Mangelhaftigkeit unserer Naturen. Es kommt vor. Cicero soll nie geliebt haben.»

Die Ähnlichkeit zwischen den beiden war eine sogar bei Zwillingen auffallende. Sie waren groß und hager, hatten feine Gesichter von durchsichtiger Blässe mit Adlernasen und schmalen, geraden Lippen, die nie geküßt und nie ein gemeines Wort gesprochen hatten. Ihre Haare blieben noch im Alter reich und bewahrten ihr mattes altgoldfarbiges Blond, so wie die Augen ihr helles Himmelblau. Aus denen Monikas blitzten oft schon bei geringem Anlaß Zornesfunken hervor, oder es sprach aus ihnen aus bloßer Freude am Dasein in Gottes schöner Welt eine Heiterkeit, die äußerst erquickend wirkte.

Emanuel hingegen war immer im Gleichgewicht, war des Zornes unfähig, sogar des – und darüber machte er sich Vorwürfe -, sogar des heiligen Zornes. Er liebte seinen Beruf, seine Gemeinde, seine gelehrten theologischen Studien und die Klassiker, besonders die alten, und haßte, so gut er hassen konnte, die Politik. «Denn», meinte er, «in der Politik können die Leute das Niederträchtige tun, ohne sich für niederträchtig zu halten und ohne dafür zu gelten.»

Nach dem kleinen Pfarrsprengel im östlichen Mähren, in dem er nun seit vielen Jahren lebte, war er strafweise versetzt worden, weil er den Wunsch seiner obersten Behörde, in seinen Predigten scharfe Töne gegen gewisse Parteiungen anzuschlagen, unbeachtet gelassen hatte. Seine Schwester geriet damals außer Rand und Band. Sie sah die Welt in zwei Teile gespalten, in ein Heer von Übeltätern und einen Märtyrer, und beschloß, diesem von nun an ihr ganzes Dasein zu weihen.

Rasch und unwiderruflich machte sie ihre Verlobung rückgängig, nahm aber mit großer Zartheit dieser Tat den Stachel. Es gelang ihr, den Bräutigam zu überzeugen, daß jede der vielen, unter denen er jetzt die Wahl hatte, besser zu ihm passen würde als sie und geeigneter sei, ihn zu beglücken.

 

Die Geschwister begaben sich an den neuen Wohnort und erfuhren bei ihrer Ankunft manche angenehme Überraschung. Sie fanden eine ehrwürdige, gut gehaltene Kirche, ein kleines Pfarrhaus, das an freilich argen, aber nicht unheilbaren Schäden litt. Klaglos und ohne Überstürzung ging man daran, sie zu beheben. Der Regen mußte sich's abgewöhnen, durch das Dach und durch die Fenster hereinzusickern; die ausgebrochenen steinernen Stufen, die zur Eingangstür führten, wurden durch neue ersetzt und bekamen ein hübsches eisernes Geländer. Dem verwilderten Gärtchen vor dem Hause widmete Monika von allem Anfang an ihre liebevollste Pflege.

Eingerichtet war man bald, und die Einteilung der Zimmer ergab sich von selbst. Rechts die des Bruders, links, ihnen gegenüber, die der Schwester; doch betrachtete sie nur das zweite, kleinere Gelaß als ihr ausschließliches Eigentum. Das erste, größere diente auch als Lese- und Musikzimmer. Durch den Gang, der nicht sehr breit war und die Gemächer voneinander trennte, gelangte man, an der Küche und den Wirtschaftsräumen vorbei, in den Obstgarten. Aus ihm führte ein gepflasterter Weg zur Pforte der Sakristei, und bei dieser Pflasterung war auf die Wahl flacher Steine kein Wert gelegt worden. – Man geht dahin wie auf einem Reibeisen, dachte Monika; aber er wird es nicht merken. Er würde es kaum merken, wenn er barfuß zum Gottesdienst ginge. Er bemerkt überhaupt so schwer etwas Unangenehmes, wie rasch und freudig jedoch das kleinste Gute!

Der neue Aufenthalt hatte aber wirklich gegen den früheren manchen Vorzug. Monika lächelte beinahe zustimmend, als der Pfarrer einmal sagte: «Sollte meine Versetzung eine als Strafe verkleidete Belohnung gewesen sein?»

Die Geschwister fühlten sich wie in die Heimat zurückgekehrt. Sie hatten auf einem benachbarten Gute, dessen Verwalter ihr Vater gewesen, ihre frühe Kindheit zugebracht. Längst abgebrochene Beziehungen wurden wieder angeknüpft; alte Leute kamen und erzählten: «Wir haben Ihren Herrn Vater, Ihre Frau Mutter gekannt», und die Mitteilung eines kernigen Ausspruches, den er, einer guten Tat, die sie getan, folgte. Das Verhältnis der Gemeinde zu ihrem milden Hirten und zu seiner Schwester, die so leicht böse, aber auch so leicht wieder gut gemacht werden konnte, war im ganzen vortrefflich. Daß der Herr Pfarrer alle Ausgaben für sein Haus und auch manche für die Kirche aus eigenen bescheidenen Mitteln bestritt, wurde mit Befriedigung hingenommen. Mit Befriedigung, nicht mit Dankbarkeit – wo hat es je eine dankbare Dorfgemeinde gegeben? – «Wenn er's nicht hätte, würde er's nicht tun», hieß es. Aber es war doch angenehm, daß er's hatte.

 

Fünfundzwanzig Jahre lebten die Geschwister nun in dem stillen Dorfe, und sie waren ihnen vergangen wie ebenso viele Monate. Kam ihnen einmal ein Tag lang vor, so war es einer, an dem gar zu dauerhafte Besuche aus der nahen oder fernen Nachbarschaft sich eingefunden hatten. Trotzdem wurden die Gäste immer freundlich willkommen geheißen, und manche waren es auch wirklich. Am glücklichsten fühlten sich die Geschwister aber doch, wenn man sie den Feierabend in selbst gewählter Gesellschaft zubringen ließ; das war die denkbar beste, da wurde ein Buch aus dem Schrank genommen, in dem die Blüten klassischer Ehrwürdigkeiten ihr ewiges Leben führten, und der Bruder las vor. Oder vier alte Hände bewegten sich mit noch ziemlich elastischen Fingern auf den Tasten des guten, alten Klaviers, und die Geister Bachs, Beethovens, Haydns schwebten durch den Raum und riefen in den zwei Einsamen Ahnungen eines durchdringenden Allwissens, Allverstehens und Miterlebens wach. Alle Lieblichkeit und alles Grauen des Lebens tat sich vor ihnen auf, sie erschöpften seine schmerzvollsten Wonnen und seligsten Leiden und sahen im Tod den Vollender eines reichen Daseins.

Und beim Gutenachtwünschen dachten sie: Wir sind glückliche Menschen.

Ungetrübt floß das Leben freilich nicht hin; es kamen auch trübe Zeiten, besonders seitdem die Schule anfing, Politik zu treiben, und viele bisher Zufriedene hörten, daß sie eigentlich Unzufriedene zu sein hätten. Das schwerste Leid aber verursachten dem geistlichen Herrn seine unverbesserlichen Beichtkinder, die alten Sünder, über die er schon so oft das Kreuz – das Kreuz der Vergebung – gemacht hatte, die jungen, die schwerer belastet wieder kamen, als sie vor der letzten Lossprechung gewesen waren. Ach, die Jungen! Bei denen es nicht nur um die arge Gegenwart, sondern um die arge Zukunft ging. Menschenkinder, Sorgenkinder! Die Seele eines jeden einzelnen ist ein ihm anvertrautes Gut, er hat die Verantwortung dafür zu tragen bis zum letzten Atemzug. Und deshalb, so hoffnungslos er auch manchmal war: wie einer, der die Hoffnung aufgegeben hat, handelte er nie, ließ sich lieber seine Langmut vorwerfen und alle Übel prophezeien, die ihm aus ihr erwachsen würden.

War's nicht ein Mißgeschick, daß an der Spitze der Nichtsnutzigen im Dorfe gerade Monikas ehemaliger Ziehsohn, der Edinek, stehen mußte?

«Nein», versicherte sie dem Bruder, der sie ungläubig anlächelte, «nein, sag ich dir, nicht eingefallen wäre mir's, mich seiner anzunehmen, wenn ich geahnt hätte, was für ein Unband aus ihm werden sollte.»

Vor achtzehn Jahren war seine Mutter, die in der Stadt einen anstößigen Lebenswandel geführt, plötzlich in ihren Heimatsort gekommen, hatte sich bei Verwandten einquartiert und Geld ausgestreut wie Heu.

Die schiefen Blicke, die man ihr zuwarf, die spöttischen Begrüßungen, die man ihr zurief, schienen ihr Spaß zu machen. Sie lachte vor sich hin, wenn die jungen Frauen und Mädchen das Wippen der Federn auf ihrem Hute, das Rauschen ihres seidenen Unterrockes mit mißgünstiger Bewunderung anstaunten.

Das Wickelkind, das sie mitgebracht hatte, war das schönste, das man sehen konnte. Es hatte rabenschwarze, große Augen, eine Gesichts- und Hautfarbe wie hellbrauner Samt und – unglaublich! – den Kopf schon ganz bewachsen mit dunklen Löckchen. Es befand sich auch im Besitz einer reichen Ausstattung an Wäsche und Decken, an Bändern und Spitzen sogar. Daß es auf den Namen Eduard getauft worden, hatte man gleich gehört. Neugierige wollten aber noch mehr erfahren und fragten: «Na, und wer ist denn der Vater?»

«Was weiß ich?» erhielten sie zur Antwort.

«Vielleicht der Teufel», sprach eine Alte.

«Vielleicht», kam's lachend zurück, und die Übermütige küßte und herzte ihr Kind.

Als sie aber eines Morgens so plötzlich verschwand, wie sie erschienen war, vergaß sie es mitzunehmen. Man hörte nie mehr etwas von ihr. Der fremd klingende Name, den sie ihrem Söhnchen gegeben, verwandelte sich im Munde der Leute in ein kosendes «Edinek».

Aber ein anderer Name, mit dem er später verhöhnt oder gegeißelt werden sollte, lautete «Teufelsbrut» und blieb sein einziges mütterliches Erbe.

 

Um dem Gesetz Genüge zu tun, ließ sich ein Bäuerlein zum Vormund des Verlassenen ernennen. Die Rechte und Pflichten auszuüben, die er damit übernahm, lag ihm aber ferne. Sie waren, als wenn es gar nicht anders sein könne, vom ersten Augenblick an in die stets offenen und hilfsbereiten Hände Monikas geglitten.

Das Fräulein hatte den Schützling bei einem kinderlosen Ehepaare untergebracht, braven Leuten, deren letzte ruhige Stunde schlug, als der Knabe heranwuchs und ein phänomenaler Leichtsinn ihn zum Gegenstand ihrer beständigen Qual und Entrüstung machte. Monika versäumte nie, ihm auch in erziehlicher Hinsicht ihre Sorgfalt zu widmen; sie ermahnte, bestrafte, ja, sie züchtigte ihn mit eigener jungfräulicher Hand, brachte aber nichts anderes zuwege, als ihm große Scheu einzuflößen, eine ganz besondere vor ihren Ermahnungen. Die machten auf ihn den Eindruck eines peinlich unangenehmen Geräusches, dem er um jeden Preis zu entrinnen suchte. Er verkroch sich, wenn er seine Wohltäterin dräuend nahen sah, lief oft, vor ihr Hilfe suchend, geradeaus zum Herrn Pfarrer, rief ihn an, war voll ehrlicher Reue, gelobte Besserung und faßte die besten Vorsätze. Dann hielt er sich eine Weile ordentlich, und in ungetrübtem Lichte erschienen seine guten Eigenschaften, seine Gutmütigkeit, seine Ehrlichkeit, seine Aufrichtigkeit. Sie blieben ihm auch im Jünglingsalter getreu. Monika ließ sie aber nur partiell gelten und fragte mit Recht: Wo bleiben sie den Frauen gegenüber? Zögert er je, die Hand nach einer auszustrecken, die ihm gefällt? Und was kümmern ihn dann das Unglück und die Schmach der armen Betörten?

Eine Entschuldigung hätte er vorbringen dürfen. Die Dorffräulein kannten ihn; warum liefen sie ihm nach? Warum? Vermutlich wußten sie selbst es nicht. Weil er so schön ist, so ganz eigentümlich schön, weil er besser als der Lehrer, der ihm nur ein paar Stunden gegeben hat, auf der Geige spielen kann? Weil ihm alleweil etwas Lustiges einfällt und man sich halbtot lacht, wenn er es erzählt?

Nein, aus diesen Gründen nicht – viel eher, weil er, achselzuckend sagten sie's, «halt so» war; weil er etwas Eigenes hatte, etwas Unbeschreibliches, das die einen unwiderstehlich anzog, andere wieder mächtig abstieß und dem Glauben an seinen teuflischen Ursprung Nahrung gab.

Ebenso verderblich wie für die weibliche Jugend war sein Einfluß auf die männliche. Das Beispiel der Auflehnung gegen Autoritäten, die ihm mißliebig waren, wurde von seinen Nachahmern gegen jegliche Autorität angewandt. Und die Streiche der Jünger fielen ärger aus als die des Meisters, weil den Jüngern die angebotene Gutmütigkeit fehlte, die ihm Zügel anlegte. Aber als der geistige Urheber all des Schlimmen, das sie taten, wurde doch er angesehen, und die Eltern erzählten einander, was für hoffnungsvolle Geschöpfe ihre Söhne gewesen, bevor sie in Grund und Boden verdorben wurden durch den Umgang mit dem Teufelsbraten. Jetzt hatte er sie in den Krallen; wie die Schafe ließen sie sich von ihm leiten, wurden in seiner Gefolgschaft zu Säufern, Spielern, Schürzenjägern. Ein Unheil fürs Dorf war er, wenn er auch zur Kirche und zur Beichte lief und im nüchternen Zustand aussah, als ob er nicht auf fünf zählen könne. Im Rausche, bei den Prügeleien im Wirtshaus, die dem Pietienak, dem Gendarm, so viel zu schaffen gaben, da mußte man ihn sehen! Da kam der wilde Satan, der in ihm steckte, zum Vorschein.

So zusammengesetzt aus Widersprüchen er aber auch war, in einem blieb er immer gleich, in seiner Anhänglichkeit an den Herrn Pfarrer. Sie kam bei jeder Gelegenheit zutage, und schon als kleiner Junge hatte er sie bewährt. In der Volksschule nie durch etwas anderes ausgezeichnet als durch seine Faulheit und seine Frechheit, hielt er sich beim Religionsunterricht aus Liebe zum Herrn Pfarrer, und um ihm eine Freude zu machen, stets unter den Besten. Einen Ministranten, wie er als Knabe war, konnte der geistliche Herr sich nie wieder erziehen, und ein gewissenhafter Besucher der Kirche blieb er bis heute. Er trat auch alljährlich mit solcher Andacht in den Beichtstuhl und an den Tisch des Herrn, daß Pater Emanuel ihn immer wieder hervorholte aus der Reihe der Unverbesserlichen, in die er ihn notgedrungen so oft gestellt hatte.


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