Marie von Ebner-Eschenbach
Die Totenwacht
Marie von Ebner-Eschenbach

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Marie von Ebner-Eschenbach

Die Totenwacht

Erzählung (1894)

Es war am Ende eines kleinen Dorfes im Marchfeld, das letzte, das ärmlichste Haus. Seine niedrigen Lehmmauern schienen jeden Augenblick aus Scham über ihre Blöße und all ihre zutage gekommenen Gebrechen in sich zusammensinken zu wollen. Das schiefe Strohdach bot nur noch einen sehr mangelhaften Schutz gegen Hitze und Kälte, Sturm und Schnee. Die Eingangstür, die des Schlosses entbehrte, war mit Stricken an den verrosteten Angeln befestigt, klaffte von allen Seiten und hatte längst aufgehört, eine feste Schranke zu bilden zwischen der Straße und dem einzigen Wohnraume der Hütte. Durch eine seiner Fensterluken drang ein schwach flackernder Lichtschein in das Dunkel der Oktobernacht. Er ging von einer Talgkerze aus, die am Fußende eines Sarges brannte. Der Sarg stand noch offen auf einem Schragen mitten in der Stube, und in ihm ruhte die Leiche einer kleinen, alten Frau. Sorgfältig angetan, mit dem Ausdruck seligen Friedens auf dem greisen Gesichte, nahm sie sich fast zierlich aus in ihrem letzten Bette. Ein weißes Tüchlein war um ihren Kopf gewunden und unter dem Kinn zusammengesteckt; die grauen Haare waren glatt gescheitelt, die Hände über der Brust gekreuzt und mit einem Rosenkranz umwickelt.

Die Wacht am Sarge hielt die Tochter der Verstorbenen, ein nach dörflichen Begriffen altes Mädchen. Dreißig Jahre der Entbehrung und der Arbeit wiegen schwer; aber sie schien ihre Last nicht zu fühlen. Eine trotzige Leidensfreudigkeit sprach aus ihrem dunklen, noch schönen Gesichte; ihre Gestalt war schlank und geschmeidig geblieben.

Die Arme um die Knie gespannt, saß sie auf einem Bänkchen neben der Toten, legte von Zeit zu Zeit den Kopf auf die Kante des Sarges, schloß die heißen, trockenen Augen und murmelte ein Gebet.

Aus der Ferne drangen zwölf schwache Pfiffe; der Nachtwächter zeigte die Mitternachtsstunde an. Im Stalle des nächsten Nachbars meckerte äußerst kläglich eine junge Ziege, und gleich darauf erhob sich ein lautes Brüllen, setzte tief und gewaltig ein und endete mit einem schrillen, sägenden Laut. Das war die Kuh des andern Nachbars, drüben jenseits der Straße, des Huber Georg, die braune, die er um schweres Geld und doch nicht zu teuer gekauft hatte. Sie lag in frischem Stroh bis über die Ohren und ließ sich's wohl sein. Die Kuh des Huber Georg hat einen guten Pfühl, dachte das Mädchen und sah über den Sarg hinweg nach der elenden Lagerstätte, auf der ihre Mutter gestorben war.

«Meine arme Mutter», flüsterte sie leise, streichelte die wachsgelbe Wange der Toten und vertiefte sich in die Erinnerung an all das Leid, das in wenig Stunden mit der alten Frau ins Grab versenkt werden sollte. Für immer versenkt. Amen.

Eine letzte, schwerste Trennung noch und dann: Leb wohl, Heimat! Grüß Gott, liebe Fremde, in der es keinen Huber Georg gibt, in der man ihm nie begegnen, in der sein blankes Haus einem nicht entgegenprunken kann und man seine verwöhnte Kuh nicht brüllen zu hören braucht.

Alles war wieder still geworden, nicht ein Lüftchen regte sich; die alte Frau im Sarge lag da, jetzt schon von Grabesruhe umgeben.

Plötzlich wurde das Geräusch einer vorsichtig geöffneten und wieder geschlossenen Tür hörbar, und von der Straße her näherten sich, öfters innehaltend, schwere, zögernde Schritte. Nun hielten sie vor dem Hause an, und im nächsten Augenblick trat Georg Huber über die Schwelle.

Er war groß und breitschulterig und hatte einen kleinen Kopf und ein hübsches Gesicht mit niedriger Stirn und schlanker, gerader Nase. Seine blauen, ein wenig vorstehenden Augen schauten unsicher und betroffen drein; trotzdem aber nahm er sich aus recht wie ein Herr in seinen städtischen Kleidern, und seine neuen Stiefel knarrten gar vornehm.

Die Pelzmütze lüftend, grüßte er die Tote, vermied jedoch, sie anzusehen, und brachte ein halb unverständliches «Wünsch guten Abend, Anna» hervor. Die Zunge schien ihm schwer im Munde zu liegen, seine Oberlippe zuckte unter dem Schnurrbärtchen, seine Rechte schob die Mütze weit zurück ins Genick. «Guten Abend, Anna», wiederholte er.

Sie runzelte die Stirn, warf einen Blick voll feindseligen Erstaunens auf ihn und blieb stumm.

Der wenig Beredsame mußte von neuem beginnen: «Dich wundert's, daß ich komm. Ich komm, weil ich gehört hab, daß sie» – er deutete auf die Tote – «mir verziehn hat, eh sie g'storben ist.»

«Wer hat dir das g'sagt?» fragte Anna; heiß aufwallender Unwille trieb ihr das Blut in die Wangen.

«Der Herr Pfarrer hat mir's g'sagt, und dir kann's recht sein», antwortete Georg und nahm, ohne ihre abwehrende Bewegung zu beachten, Platz auf dem Bette, das unter seiner Wucht erzitterte und stöhnte. «Ich komm auch», begann er wieder, da sie in ihrem düsteren Schweigen verharrte, «weil du ganz allein die Totenwacht haltst. Die alten Weiber lassen sich nicht sehn, wenn man keinen Branntwein zahl'n kann.»

«Wenn ich sie eing'laden hätt, wären ihrer gekommen mehr als g'nug. Aber ich hab die letzte Nacht allein bleiben wollen mit meiner Mutter. In ein paar Stunden kommen's ohnehin und tragen sie mir weg.»

Er verstand den Wink nicht, er blieb sitzen. Nach einer Weile mahnte ihn das Mädchen: «Bet ein Vaterunser und geh!»

Er verschränkte die Finger, betete halblaut und sagte am Schlusse: «Gott hab euch selig, Mutter Theres.»

Der Nachtwächter kam jetzt auf seiner Runde in die Nähe des Hauses, entlockte seinem Pfeifchen einen langgezogenen Ton, ging vorbei und pfiff wieder: ein Uhr.

Georg traf noch immer keine Anstalt zum Aufbruch. Er hatte sich tief gekrümmt, die Ellbogen auf die ausgespreizten Knie, das Gesicht in die gefalteten Hände gelegt, und rührte sich nicht.

«Du schlafst!» rief das Mädchen ihn endlich an.

«Geh nach Haus schlafen.»

«Ich schlaf nicht», sagte er, ohne seine Stellung zu verändern; «ich denk an deine Mutter. Ich denk, wie sie mir gedroht hat: wenn ich vorm lieben Herrgott stehen werd, werd ich dich bei ihm verklagen. Sie tut's aber nicht.»

«Sie hätt Wort halten sollen, sie hätt dir nicht verzeihen sollen; sie war zu gut, viel zu gut, übergut!» sprach Anna dumpfen Tones.

Georg hob ein wenig den Kopf und warf einen halb kecken, halb scheuen Blick auf sie: «Du meinst halt, grad so wenig hätt sie mir verzeihen sollen, wie du mir verzeihst. Wirst aber schon, wenn du hörst, mit was für Gedanken ich herkomm.»

Sie verzog den Mund zu einem verächtlichen Lächeln; auf eine andere Antwort wartete Georg umsonst und mußte, um das Gespräch nicht ganz fallen zu lassen, wieder beginnen:

«Der Herr Pfarrer meint; wenn er's aber auch nicht meinen möcht, ich mein's von selbst.»

«Ich mein auch was», unterbrach sie ihn: «Daß du daher nicht g'hörst; auch wenn sie dir zehnmal verzieh'n hätt, hättst nicht da zu sitzen. Geh!»

«Weil ich jetzt bleiben möcht», erwiderte er grollend, «heißt's: Geh! Und so warst immer. Alle Schuld liegt auch nicht an mir; du bist bös g'nug.»

«Du hast mir's nicht vorzuwerfen, du nicht! War ich's denn? Nein. Ich bin's durch dich worden.»

«Natürli!» höhnte er. «Alle Schuld wird immer auf mich g'wälzt. Durch mich allein bist bös worden, durch andre nicht; am wenigsten schon durch dein Vatern.»

Sie war wild aufgefahren, warf einen Blick auf die stille Frau im Sarg und bezwang sich. – «Ausg'standen hab ich g'nug durch ihn, bös bin ich durch ihn nicht g'worden», sagte sie. «Was dein Vater tut, muß dir recht sein, hab ich immer von der Mutter g'hört, und vom Herrn Pfarrer: was der liebe Gott tut, muß uns recht sein. Ob also der Vater dreing'schlagen hat oder der Blitz, etwas anderes als: duck dich! ist mir zuletzt dabei nicht mehr eing'fallen. Eine Heimsuchung vom lieben Gott ist das, einen Lumpen zum Vater zu haben, der alles vertut, einem das Dach überm Kopf verspielt und die Kleider vom Leib...»

«Ehnder noch, weißt noch damal'n», fiel ihr Georg mit naiver Schadenfreude ins Wort, «das Kleid mit die roten Tupfen?»

«Mit die roten Tupfen... das war was! Und dazu dein ewig's Frozeln: du hast ja so ein schönes Kleid kriegt, wo is's denn? Hebst dir's auf, auf den Sonntag? Ich hätt von selbst nicht mehr dran gedacht, du hast mich immer g'mahnt... Auch jetzt mahnst mich wieder...» Sie schwieg, sie ließ den Kopf auf die Brust sinken. Die Erinnerung in eine der kläglichsten Begebenheiten in ihrem kläglichen Kinderleben tauchte wieder auf. Bild an Bild zog vorüber, deutlich zum Greifen.

Da stand sie eines Winterabends mit anderen armen Kindern in einem großen, herrlichen Saale. Unzählige Kerzen brannten, es war hell und warm wie im Himmel. Und Sachen gab es auf einem Tisch ausgebreitet und ausgestellt, daß einem die Augen übergingen und das Wasser im Munde zusammenlief. Annas Blicke wanderten verzückt umher und blieben plötzlich wie gebannt auf einem Kleide haften – ein Bild von einem Kleide, heute noch hätte sie's malen können. Es war grau und ganz besät mit roten Tupfen, nicht größer als Grießkörner, und das Leibchen hatte eine schmale, kirschrote Einfassung und die Schürze einen kirschroten Saum und wirkliche Taschen, und aus der einen guckte ein Tüchlein heraus mit roten Tupfen, und die waren linsengroß.

«Du lieber Gott, was bliebe einem noch zu wünschen übrig auf der Welt, wenn man dieses Kleid hätte, diese Schürze, dieses Tüchlein?» fragte sich das Kind und geriet vor lauter Nachdenken, Staunen, Bewundern in einen Zustand des wachen, wonnigen Traumes. Jedes Wunder paßte in den hinein, und das lieblichste begab sich. Eine feine Hand legte sich unter Annas Kinn und bog ihren Kopf sanft zurück, und die Augen des kleinen Mädchens erhoben sich und begegneten einem Paar großer, tiefdunkler Augen von unsagbarer Güte und unendlicher Traurigkeit. Das waren die Augen der einsamen Schloßbewohnerin, der vielverehrten und vielbedauerten «Komteß», der armen Reichen, die so schweres Herzeleid erfahren hatte und langsam hinschwand und sich zu Tode kränkte. «Du Kleine», sagte sie, und ihre liebreiche, etwas verschleierte Stimme klang wie gedämpfte Musik, «dieses Kleid gefällt dir. Schau nur, wie gut sich das trifft, ich hab's für dich genäht. Nimm, es ist dein, nimm auch die Stiefelchen und das Tuch. Nun, Annerl, so nimm!»

Aber Annerl rührte sich nicht; sie fürchtete, durch ein Wort, eine Gebärde den holden Traum zu zerstören, von dem sie sich befangen wähnte.

Da nahm die Komteß ein großes, weiches Umhängetuch vom Tische und wickelte das ganze Kind vom Kopf bis zu den Füßen hinein. Sie zog seine Ärmchen unter dem Tuche hervor und belud sie mit einem Paar warmer, rot gefütterter Stiefel und mit dem von Annerl eben noch gleich einem Märchenbilde angestaunten Kleide. Die Kleine hatte alles geschehen lassen und war stumm geblieben. Jetzt brachen zwei Worte voll des Jubels über ihre Lippen: «Die Mutter!»

Was wird sie sagen, die Mutter, die immer stopft und flickt an des Töchterleins altem «G'wandl» und gestern erst bitterlich geweint hat, weil ihr das morsche Zeug unter der Nadel zerfiel – was wird sie sagen?

Die Kleine war blaß gewesen vor innerster Erregung; auf einmal schoß ihr das Blut ins Gesicht, sie wandte sich und lief davon. Vergeblich wurde ihr nachgerufen: «Warte, du bekommst noch mehr!» Sie lief und lief. Hinter ihr schallte das Gelächter und Geschrei der anderen Kinder. Der Lichterglanz des beleuchteten Schlosses, der sie noch eine kleine Weile begleitet hatte, erlosch; sie preßte ihren Schatz an die Brust und gar oft an den Mund und rannte weiter in die Nacht hinein, längs der Gartenmauer ins Dorf, von dem Gedanken an die Mutter getragen wie von Flügeln.

Der kürzeste Weg führte am Wirtshause vorbei; den schlug sie ein. Wüster Lärm schallte ihr entgegen; es gab wieder Streit in der Schenke. Ein Raufbold oder ein Lump mit leerer Tasche wurde hinausgeworfen. Jetzt stand er unter der Laterne vor der Tür, und voll Schrecken erkannte die Kleine: «Das ist der Vater!»

Es überrieselte sie bei dem Gedanken an die Gefahr, der sie sich mit jedem Schritte näherte, und doch lief sie weiter; ihr fiel gar nicht ein, daß sie gut täte, die Dorfstraße zu vermeiden, um die Ecke zu biegen und auf dem Feldwege nach Hause zu eilen. Nur vorbeihuschen an dem Schimpfenden, Fluchenden, bereits sehr Angetrunkenen wollte sie. Sie lief nicht mehr, sie schlich langsam und leise, drückte sich an die der Schenke gegenüberstehenden Häuser, hoffte schon glücklich zu entkommen im Schutze der Dunkelheit. Fast auch wäre es gelungen, wenn nicht ihr Freund, der Spitz des Wirtes, die Nähe seiner Spielgefährtin witternd, mit lautem Freudengebell auf sie zugesprungen wäre. Sie wich zurück, sie flüsterte ihm zu: «Still, Spitzerl! still, du liebes dummes Tier!» Der Spitz trieb es je toller, je ängstlicher sie ihn abwehrte, und nun rief auch schon der Vater herüber, streitlustig wie immer bei halb gelöschtem Durste:

«Wer geht da, wer hat da zu gehen?»


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