Michael Georg Conrad
Münchner Künstler-Besuche - Eduard Grützner
Michael Georg Conrad

Michael Georg Conrad

Münchner Künstler-Besuche

Eduard Grützner

(1886)

Da sitze ich in meiner Arbeitsklause, hoch unterm Dache, wie in einem rechten Lueginsland, und spähe vom Schreibtisch durch das große Altanfenster über die rauschende Isar hinweg. Ein anziehendes Bild: zunächst der sechseckige, rote Fabrikschlot einer großen Schnaps- und Essigbereitungsanstalt, welche die kunstsinnigen Väter der Kunststadt München dem Industriellen Riemerschmied auf der reizenden Isarinsel »Zum Prater«, hart an der eleganten Maximiliansbrücke, anzulegen erlaubten, – dann ein waldähnlicher dichter Wipfelsaum auf dem steilansteigenden Ostufer der Isar, – dann den herrlichen Park der Gasteig-Anlagen überragend und in lustig barbarischem Nebeneinander scharf in den »blau-weißen bayrischen Himmel« sich zeichnend: die breitausgereckte florentinische Sommerpalast-Karikatur des Maximilianeums, die bleiche ausgehungerte Turmfamilie (sechs bis acht Stück in allen Größen) der Haidhauser Kirche, vier bis fünf untersetzte, massige, schwarzbraune Schlöte des Hofbräuhauskellers, die schiefergedeckte Kuppel der neuen Haidhauser Volksschule, dann im Zickzack die alten Ziegeldächer unterschiedlicher Brauereien, die etwas brutale, hochfahrende Kontur des Herzog-Ludwig-Schlosses, daneben das verwitterte, geduckte Gasteig-Kirchlein mit dem rettichförmigen Türmchen, dann weiter isaraufwärts dampfschlotgekrönte burgartige Bierfabriken in unabsehbarer Kette – und durch die schmalen Lücken dieser unendlichen Baulinie und den Ausschnitt des Isarbettes winken ihre blauen Grüße herein die ewigen Gipfel der Alpen!

Aber das alles lockt mich heute nicht. Meine Blicke suchen zwei zierliche Türmchen, das eine tiefer gestellt, und gar freundlich in grüner und goldiger Ziegelglasur erstrahlend, mit einem steigenden Löwen in der Windfahne, das andere höher, aber einfacher, wie dem Haus im Nacken hockend, zu besserer Aussicht: die Wahrzeichen der Grützner-Villa, welche zwischen dem Maximilianeum und der gotischen Kirche im Parksaum des Gasteigs versteckt liegt. Welch' ein liebes, holdes Bild, diese architektonisch-malerische Idylle zwischen der poesielosen Protzerei der baulichen Ungetüme ringsum!

Meister Eduard Grützner, Praterstraße 1, Haidhausen-München! Wem tauchen bei diesem Namen nicht die heitersten Erinnerungen auf an so manche Stunde, die er im Anblicke Grützner'scher Bilder verschwelgte! Wer wäre nicht glücklich, diesen lieben Künstler persönlich kennenzulernen!

Gehen wir hinüber! Im Hinabsteigen begegnen wir dem unter mir wohnenden k.b. Hofschauspieler Wilhelm Schneider, meinem lieben Freund.

Zu Grützner wollen Sie? Sagen Sie ihm meinen Gruß! Er ist mir ein lieber Schulkamerad. Vier, fünf Jahre drückten wir gemeinschaftlich die Bänke des Gymnasiums in Neisse. Der alte Oberlehrer Otto – sein breites freundliches Schulmonarchen-Gesicht kommt auf manchem Grützner'schen Bilde vor – ein echter Schlesier auch in seinem Dialekte, sagte oft: »Set'er, Kinder, der Gritzner, der malt und der Schneider sitt (sieht) zu; aus dän beeden wird im Läben nischt!«

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Im Sinne des alten Oberlehrers ist allerdings aus den »Beeden« noch nichts geworden und – da sie jetzt an der Schwelle der Vierziger stehen, wird auch im »Läben« nichts mehr aus ihnen werden. Sie müssen sich schon in ihr Schicksal ergeben und bleiben, was sie sind: der eine ein Professor und Meister der Malkunst, dessen Ruhm bereits in alle Länder gedrungen, der andere ein Menschendarsteller und Regisseur an einer der ersten Bühnen der Welt, dessen Talent sich heute an die höchsten Probleme der Schauspielkunst wagen darf. Und beide vortreffliche, treu befundene Menschen.

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»Ja, das stimmt schon«, sagte Professor Grützner, als wir alle Herrlichkeiten seines wundervollen, ebenso reichen, als behaglichen Heims betrachtet und uns in seiner sonnigen Turmstube zu kurzem Ausblick auf das prächtige Panorama Münchens niedergelassen hatten. »Mit elf Jahren lief ich noch mit bloßen Füßen auf den Feldern der Karlowitzer Markung herum und hütete die Kühe meines Vaters. Dann sollte ich studieren und Geistlicher werden. Der Pfarrer des Ortes, ein lieber menschenfreundlicher Mann – Sie haben sein Bild in meiner Schlafstube gesehen, es ist eine meiner frühesten Zeichnungen – tat alles Erdenkliche, um seinen kleinen künftigen Kollegen zu unterstützen und zu einem richtigen Kirchenlicht erziehen zu helfen. Es war so gut gemeint! Aber ich spürte zu etwas ganz anderem Beruf in mir als zu einem Gesalbten des Herrn. Meine lateinischen und griechischen Arbeitsbücher predigten in den gottlosesten Zeichnungen, mit denen ich die Ränder vollkritzelte, etwas ganz anderes als die alleinseligmachende Lehre. Nach vielem Harren und Bangen konnte ich endlich 1864 als achtzehnjähriger Mensch umsatteln, mit erborgtem Gelde nach München pilgern und hier an Vorschule und Akademie studieren. Nach wenigen Jahren angestrengten Fleißes waren die Schulden zurückgezahlt und – soll's mir einer nur nachmachen! Dem lieben alten Pfarrherrn Fischer und dem Baumeister Hirschberg, die mir so wacker unter die Arme gegriffen, kann ich nie genug danken. Wie Sie übrigens wissen werden, hat sich Hirschberg auch vom armen Maurergesellen zum reichen Bauunternehmer emporgearbeitet.«

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In der Schule Pilotys mußte unser Grützner so gut wie der erste beste malende Jüngling sich mit den bekannten klassischen Motiven herumschlagen und dann sein großes historisches Bild, irgend einen bejammernswerten Unglücksfall, in herzzerreißender Tragik zusammenpinseln. So will's die Tradition und ohne sie keine zuverlässige künstlerische Zucht! Aber heimlich legte sich Grützner, dessen selbstschöpferische, übersprudelnde Natur sich von Anfang an der Sonnenseite des Lebens mit Vorliebe zuwandte, Pinsel und Farben zurecht, um ein Bild nach seinem eigenen Geschmack zu malen, und es entstand das erste jener behäbigen, von feuchtfröhlichem Humor und unbezwinglicher Trinkerlust glühenden Pfäfflein, welche in unerschöpflicher Folge den Ruhm des schalkhaften Künstlers aller Welt verkündigten. Es hat nicht an mißgünstigen Kollegen gefehlt, die den genialen Maler der Einseitigkeit beschuldigten und behaupteten, er habe irgendwo eine wundertätige Kapuzinerkutte geerbt und daraus, wie aus dem Sack eines Taschenspielers, seine Erfolge gezaubert. Das klingt spaßhaft harmlos, hat aber doch mancherlei Vorurteile gegen Grützners Vielseitigkeit genährt. Des Künstlers Mappe straft sie Lügen, wenn auch die Tatsache besteht, daß Grützner aus allen Himmelsrichtungen und Weltgegenden der Nachfrage nach Wein kiesenden und zechenden Klosterbrüdern nicht mehr los wurde bis auf den heutigen Tag. Daneben bleibt aber eine andere Tatsache ebenso unanfechtbar bestehen, die nämlich, daß Grützner einer der tiefsinnigsten Shakespearekenner und -maler unserer Zeit ist. Schon auf der Schulbank in Neisse war dem kleinen Studiosus durch Zufall ein Band Shakespeare in die Hand gefallen, und die Gestalten und Situationen, die er da kennen gelernt, gehörten zu den mächtigsten Eindrücken seines jungen Lebens. Shakespeare ist sein Lieblingsschriftsteller geblieben – und was ihn zuerst in England und Amerika populär gemacht hat, sind gerade jene Shakespeare-Bilder, besonders die Fallstaff-Darstellungen, die bis in die Anfänge seiner künstlerischen Tätigkeit zurückreichen. Es bleibe künftigen Grützner-Forschern vorbehalten, festzustellen, ob es nicht eigentlich sein Jugendbild »Fallstaffs Rekrutenmusterung« gewesen, welches, nachdem es rasch den Weg nach England gefunden, überhaupt den Grund zur internationalen Berühmtheit des Meisters legte. Tatsache ist endlich, daß Grützner der einzige deutsche Maler ist, welcher zur Mitarbeit an dem großartigen neuen internationalen Illustrations-Pracht-Shakespeare von der Londoner Verlagsfirma gegen Zusicherung eines glänzenden Honorars eingeladen worden ist. Zwölf Illustrationen zu Heinrich IV. sind für London bereits vollendet.

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Zu den bedeutendsten und teilweise bekanntesten Arbeiten des Meisters aus den letzten Jahren zählen: Angeheitert; Klosterschäfflerei; ein willkommener Gast; der schlesische Zecher und der Teufel; die Branntweinschenke; der Klosterhecht; Auerbachs Keller; Bier, Wein und Schnaps, und als neuestes Bild: die Klosterküche. Dazwischen malte der unermüdlich tätige und schaffensfrohe Künstler noch eine Menge, wie er bescheidentlich sagt, »Kleinigkeiten« für Liebhaber und Händler, denn die Ausbeutung des durch ihn in Flor gebrachten Genres, wie sie durch seine zahlreichen Nachahmer betrieben wird, vermindert nicht die Nachfrage nach »echten Grütznern«. Daß die glücklichen Besitzer »echter Grützner« dieselben immer lieber gewinnen, das beweisen dem Meister Hunderte von mündlichen und schriftlichen Versicherungen. Wenn durch Todesfall oder sonstwie ein Grütznerbild zu öffentlicher Versteigerung kommt, so erzielt dasselbe regelmäßig einen weit höheren Preis, als er vorher dem Maler oder Kunsthändler bezahlt wurde – eine Erscheinung, die man bei bloßen Modebildern selbst berühmter Namen nicht immer zu finden pflegt. Grützner zählt zu den wenigen Modernen, die sich selbst durch den fabelhaftesten Erfolg nicht in ihrer künstlerischen Gewissenhaftigkeit beirren lassen. Kein Werk verläßt seine Werkstatt, ohne den höchstmöglichen Grad künstlerischer Durchbildung und technischer Vollendung erreicht zu haben. Zeichnerisch und koloristisch treibt der Künstler seine Bilder immer bis zur äußersten Grenze solider Ausführung, ohne ins Kleinliche und Peinliche zu verfallen. Seiner feinen Naturbeobachtung und ebenso geistreichen als frisch realistischen Charakteristik scheinen sich die schwierigsten technischen Aufgaben spielend zu fügen. Auch in jenen Werken, wo die humoristische Verklärung des Lebens vor dem Bösen und Beängstigenden der sozialen Verhältnisse in den Hintergrund tritt, wie z.B. in der berühmten »Branntweinschenke«, schimmert durch das Häßliche und Widerwärtige das Bedeutende und ergreifend Menschliche. Die körperliche Verkommenheit, die Leidenschaft, die seelischen Schmerzen und Ängste sind in jenem Bilde durchaus naturwahr zum Ausdruck gebracht, ohne Verschönerung und Versüßung – und wie edel ist die Wirkung! Das macht eben die Größe dieses Malers, daß seine Kunstwerke wie aus dem reinen Quell der Seele strömen und uns wie der künstlerische Überschuß einer schönen, weisen und harmonischen Lebensbemeisterung anmuten.

In protestantischen Ländern hat man sich zuweilen geneigt gezeigt, aus den Grützner'schen Genuß-Idyllen des geistlichen Lebens eine gewisse kulturkämpferische Absichtlichkeit herauszulesen. Dazu fehlt jede Berechtigung. Die liebenswürdige Naturwahrheit, gepaart mit noch liebenswürdigerer Schalkhaftigkeit, wie sie sich im gesamten Wesen des Menschen wie des Künstlers Grützner ausspricht, schließt jede feindselige oder gar boshafte Tendenz aus; nicht Satire, nicht Ironie, nur lauterer, herzensechter Humor ist es, der dieses hochbegnadeten Meisters Pinsel lenkt. Er wäre der letzte, der anderen das bißchen Lebensfreude neiden und verleiden möchte, er, dessen Künstlerauge mit Interesse und Lust auf dem Dasein in jedweder Gestalt ruht, er, dessen Künstlerseele selbst den goldenen Nektar der Schönheit und Behaglichkeit mit solcher Wollust schlürft! Verleumdet meinen Ergo bibamus-Maler nicht, trock'ne Tendenzler!

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Jede Kunst sollte vor allen Dingen nicht eine Kunst der Kunstwerke, sondern eine Kunst des Lebens sein, das ist das edelste und kostbarste Mittel, das Leben zu verschönern, uns und andern erträglicher und angenehmer und unsere Persönlichkeit selbst reicher und reizvoller zu machen. Also nicht eine bloße, armselige Sehenswürdigkeit für die gute Stube oder für die Museen und Galerien an den Ausnahmsstunden für Ausnahmsstimmungen! Also kein eitles Anhängsel des Alltagslebens, keine Schaustellung auf den versteckten Seitenpfaden des Daseins! Eine Durchwärmung und Durchstrahlung des gesamten Lebens vielmehr, eine Entladung und Ausgießung des heiligen Geistes aus dem Überschuß der schöpferischen, verschönernden Kräfte, die in der Menschheit schlummern! Meister Grützner hat das seltene Glück, auch in dieser Hinsicht eine geradezu symbolische, zielweisende Erscheinung zu sein. Sein ganzes Leben und Weben, sein ganzes Dichten und Trachten, sein Sammeln und Ordnen spricht uns heute, nach den Jahren des Kampfes, wie ein erlesenes Kunstwerk von mächtiger Einheitlichkeit an, erfüllt von leidenschaftslosem Genügen ohne Wechsel, von innerem Glück ohne Betäubung und Berauschung – harmonisch sich auslebend in schöpferischer Bildkraft. Wer diese Ausdeutung vervollständigen will, der nehme als Gegensatz dazu jene ewig ungebändigten, zerrissenen, chaotischen Künstlernaturen, die in allen Lebens- und Schaffenszeiten ihrer Überspannung und Erregung nicht Herr werden und in hitzigen, bunten Aussprudelungen und eruptiven Auswürfen, in pseudogenialischen Unordentlichkeiten ein häßliches Schauspiel ihrer ungezügelten Kraft geben. Gewiß, als Phänomen hat auch das seinen Reiz. Und Unreife und Hysterie sind entflammt und entzückt und kreischen: Bravo, das ist wahre Kunst! Groß ist die Diana von Ephesus!

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Nachdem wir die Grützner-Villa mit ihren überreichen Schätzen von oben bis unten, kreuz und quer durchwandert! – ich werde sie doch einmal ausführlich beschreiben, ausführlicher wie dies Professor Karl Raupp in seiner ausgezeichneten Schilderung in der »Illustrierten Zeitung«, September 1884 getan, sie ist eine Sehenswürdigkeit allerersten Rangs – saßen wir wieder in der Werkstatt, wo der Meister die letzte Hand an das prachtvoll lustige Bild »Rasiertag im Kloster«, legte. Rechts von der Staffelei, im Hintergrunde, saß des Meisters Töchterlein, das zehnjährige Bärbele mit den braunen, sinnigen Äuglein und den dicken Zöpfen, in die ein blaues Band geflochten. Bärbele sitzt immer da, an ihrem Arbeitspult, entweder mit Zeichnen oder ihren Schulaufgaben oder mit dem Strickstrumpf beschäftigt. Und des Meisters Augen gingen vom Bilde zu ihr und ein innig freundliches Nicken ging zu ihm – Bärbele ist ja nicht bloß des Vaters einziger Liebling, sie ist schon seine Beraterin und Kritikerin! Die Mutter ist nur im Geiste anwesend – sie hat nach schwerem Siechtum Abschied genommen und rastet draußen auf dem stillen Friedhof. Diese Weihe des Überirdischen in diesem glücklichen Künstlerheim hat etwas seltsam Ergreifendes, ohne jede Verführung zu Sentimentalität und Schwärmerei; es ist zuviel Sieghaftes des Reinmenschlichen im ganzen, vollen Empfindungsakkord, als daß er anders denn versöhnend und freudig gehoben ausklingen konnte. Grützner, ein ganzer Mann und ein ganzer Künstler. In dieser Geschlossenheit seines Wesens liegt nicht nur sein Glück für ihn, sondern durch seine vorbildliche Bedeutung in Kunst und Leben auch sein Glück für die anderen. Das gibt auch den tieferen Sinn der Worte, mit welchen er uns in seiner schlicht liebenswürdigen Weise heute die Hand zum Abschied reichte: »Mehr wert und lieb als alle Auszeichnungen, Ehrenmitglied- und Professorentitel ist mir mein Bärbele, meine mir bewahrte Unabhängigkeit, Selbständigkeit, – meine Freiheit.« Und mit einem feinen Lächeln: »Übrigens hoffe ich, so lange mir meine eigenen Bilder nicht gefallen, was glücklicherweise noch der Fall ist, auch noch Fortschritte in der Kunst zu machen.«