Carl Gustav Carus
Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung
Carl Gustav Carus

Carl Gustav Carus

Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung.

(Einleitung zu dem noch ungedruckten Werke über die Ur-Theile des Schalen- und Knochengerüstes von D. C. G. Carus)

[In: Goethe (Hrsg.): Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie. – Erfahrung, Betrachtung, Folgerung, durch Lebensereignisse verbunden (Cotta, Stuttgart und Tübingen 1817–1824), Band II, Heft 2 (1824), S. 84–95.]

I. Alles Entstehen, alles sich Bilden, ist seinem Wesen nach ein Hervorgehen eines Bestimmten, aus einem Unbestimmten Bestimmbaren.

II. Alles Vergehen, alles Zurückgebildetwerden, ist ein Auflösen eines Bestimmten in ein Unbestimmtes, welches sofort wieder einer neuen Bestimmung fähig wird.

III. Inwiefern alles in Raum und Zeit Bestehende, durch Bildung entstanden, und der Rückbildung unterworfen ist, werden wir genöthigt die gesamte Natur als ein unendliches in ewiger Bildung und Umbildung begriffenes Ganzes zu denken.

IV. Das selbstthätige Entfalten eines Bestimmten aus einem Unbestimmten ist aber ursprüngliche Erscheinung und zugleich das Symbol alles Lebens.

V. Haben wir nun die Natur als ein in ewiger innerer Bildung Begriffenes erkannt, so müssen wir sie zugleich als das Lebendige schlechthin betrachten, dessen Urleben die Quelle ist, aus welcher die Lebenserscheinungen jedes besondern Lebendigen, d. i. überhaupt alle besonderen Naturkräfte sich ableiten.

Die Idee des Lebens, inwiefern sie nichts anderes ist, als die Idee einer ewigen Manifestation göttlichen Wesens durch die Natur, gehört zu jenen ursprünglichen Vernunftanschauungen, welche (wie es namentlich von der höchsten unter allen, von der Idee des göttlichen Wesens an und für sich gilt) nicht von außen dem Menschen kommen, nicht durch den auf die Erscheinungswelt angewiesenen Verstand bewiesen, noch weniger erklärt, oder überhaupt durch Abstraktion erhalten werden können; sondern welche im Innern des Menschen sich erschließen, sich offenbaren müssen, und bey einer gewissen erreichten Entwicklungsstufe sich immer offenbaren werden. Eine nothwendige Folge hievon ist es demnach, daß, wenn wir bey der Betrachtung des Lebendigen nicht von der ursprünglichen Idee des Lebens, welche in unsern Innern sich frey und klar entfaltet hat, ausgehen, wir nimmer zur Anschauung des Lebens durch Abstraktion gelangen werden, so wenig einem Menschen, der nicht nach Fr. Jacobi's Ausdruck »zur Erkenntniß Gottes hinauf organisirt« worden ist, von außen durch Demonstration und Abstraktion jene höchste aller Vernunftideen mitgetheilt werden könnte.

VI. Ist nun die Natur ihrem Wesen nach, das ewig Bildende (øúois von øúw, natura von nascor) und ist sie unendlich, so folgt daraus nothwendig, daß auch ihr Leben unendlich, und eine vollkommene Negation des Lebens, d. i. ein absoluter Tod in ihr undenkbar sey. Ist nun aber das Ur-Leben der Natur unendlich, so muß die Unendlichkeit, Ewigkeit, auch das Prädikat einer jeden besondern Aeußerung des Naturlebens seyn; es muß eine jede Naturkraft ihrem Wesen nach als in ihrer Art unendlich gedacht werden. – Inwiefern indeß die Natur auch rücksichtlich der Mannichfaltigkeit ihrer Kraftäußerungen unendlich ist, so können und müssen verschiedene Naturkräfte von verschiedenen Richtungen sich gegenseitig in ihren Wirkungen beschränken, ja diese auf gewisse Zeit aufheben, und so entsteht der Begriff eines relativen Todes, d. i. desjenigen Zustandes, welchen wir insgemeim unter dem Namen des Todes, des Erstorben-seyns verstehen.

Einfachstes Beyspiel: – Man denke einen Pendel in Schwingung gesetzt. Es ist hier klar und die Physik weist es nach, daß diese Schwungkraft in einem absolut leeren Raume, bey aufgehobener Friktion u. s. w. nothwendig in Ewigkeit fort die einmal angeregte Bewegung unterhalten müßte. Dahingegen zeigt die Beobachtung, daß in der Natur die Wirkung oder Erscheinung dieser Schwungkraft sogleich durch Luftdruck, Friktion u. s. w. vermindert, beschränkt und zuletzt ganz aufgehoben werde.

VII. Wie sonach die räumliche Erscheinung der Natur in ihren unermeßlichen Einzelnheiten durchaus beschränkt und endlich, im Ganzen aber stets unendlich und unbeschränkt gefunden wird, so auch die zeitliche. Das Naturleben im Ganzen muß als unendlich, als ewig gedacht werden, wenn das einzelne Phänomen des Naturlebens, d. i. die besondere Naturkraft in ihrem Werke, beschränkt, endlich oder sterblich ist.

Auch inwiefern dem Leben an und für sich, als stetiger Manifestation göttlichen Wesens durch die und in der Natur, das Prädikat der Ewigkeit zukommt, bewährt sich das was oben (s. Anmerkung zu §. V.) über die Idee des Lebens als eine reine Vernunftidee ausgesprochen wurde, denn das Hervorgehen in dem Ewigen ist der Charakter der Idee, eben so wie die des Hervorgehens aus dem Einzelnen der Charakter eines abstrakten Begriffes.

VIII. Jedes lebendige Wesen, inwiefern es aus sich selbst Mittel seiner verschiedenen auszuübenden Wirkungen, d. i. Werkzeuge, Organe, erschafft, heißt Organismus. – Die Natur, inwiefern sie rastlos neue Erscheinungen ihres innern Lebens hervorruft, ist der Organismus schlechthin (Makrokosmus). Jedes einzelne sich aus sich selbst entwickelnde Naturwesen, inwiefern es nur im allgemeinen Organismus der Natur bestehen kann, sein Leben nur Ausfluß höhern Urlebens ist, heißt Theil-Organismus, (endlich-individueller Organismus, Mikrokosmus), und seine Entfaltung ist nur unter der Einwirkung des allgemeinen Naturlebens möglich.

IX. Jeder individuelle Organismus entwickelt sich nach dem allgemeinen Gesetze (§ I.) aus dem räumlich Unbestimmten, Bestimmbaren, in einer bestimmten Zeit zu einem räumlich Bestimmten. Einen räumlich, seinen Gränzen nach unbestimmt, bestimmbaren Stoff nennen wir flüssig. Das Flüssige (elastisch- oder tropfbar-Flüssiges) ist daher das Element aller organischen Entwicklung, oder der natürlichen Bildung überhaupt.

X. Jedes einzelne lebendige Wesen, insofern es sich in der Unendlichkeit der Natur durch Individualisirung absondert, tritt dadurch nothwendig in einen Gegensatz mit andern Naturwirkungen, und wie im Raum, so muß sein Daseyn auch der Zeit nach beschränkt seyn, es erscheint als endlich, als sterblich, wenn die Natur im Ganzen als unendlich und unsterblich betrachtet werden muß. – Dasselbe Verhältnis zwischen einem Ganzen und seinen Theilen wiederhohlt sich auch in dem individuellen Organismus selbst rücksichtlich seiner Gesammtheit und seiner einzelnen Gebilde, und zwar indem die organische, belebte Masse in jedem Augenblicke in stetiger Auflösung und Wiederbildung begriffen, betrachtet werden muß.

Ueberhaupt darf es wohl Hauptbedingung einer gesunden Physiologie genannt werden, den lebenden Körper immer nur als die in gewissen irdischen ElementenElemente bezeichnen hier Kräfte, deren Erscheinung das bedingt, was auch Substanz oder Materie genannt wird. Denn daß ein realer Unterschied zwischen einer an sich todten Materie und einer reinthätigen Kraft völlig unzulässig sey, ist bei einigermaßen scharfer philosophischer Prüfung unverkennbar. ausgedrückte Erscheinung lebendiger Kräfte zu betrachten, und nie zu vergessen, daß er in keinem Augenblicke ein Erstarrtes, sondern ein fortwährend Umgebildetes sey, ohngefähr gleich einer erleuchteten Stelle auf einem reißenden Strom, welche auch im Ganzen für einige Zeit unverändert dieselbe zu bleiben scheint, obwohl ihr Inneres in rastloser Veränderung begriffen ist.

XI. Ist nun aber das Flüssige eigentliches Element organischer Bildung, so folgt daraus, daß es überhaupt das ursprüngliche Lebendige sey, wenn hingegen das Erstarrte als ein Produkt oder Residuum dieses Lebens, in welchem die lebendige Wirkung untergegangen zu betrachten ist; als ein Produkt, welches wieder in das ursprünglich Flüssige aufgelöst werden muß, wenn es von neuem lebendig erscheinen, und einer neuen Gestaltung fähig werden soll.

Auf solche Weise geschieht es, wenn in dem Flüssigen die Neigung zur Crystallisation (d. i. eine nach polarischer Gestaltung strebende Lebenswirkung) rege wird; wir müssen dann das Crystallisiren selbst, die aus innern Prinzipien entstehende Bewegung des Stoffes allerdings Leben nennen, aber dieses Leben erlischt in dem endlich erstarrten Gebilde des Crystalls, es ist das Residuum, das caput mortuu des Lebens, und als solches können wir ihn an sich nicht mehr lebendig, wir müssen ihn als erstorben betrachten, und wir werden ihn in längerer oder kürzerer Zeit zerfallen, sich auflösen, ins Flüssige übergehen sehen und dadurch wird er fähig werden neuen Bildungen als Element zu dienen. Auf diese Weise erschienen uns auch die Schichten unseres Erdkörpers als Residuen des ursprünglichen Bildungsleben dieses Planeten, sie sind als solche erstorben, und erst ihre allmählige Verwitterung und Auflösung macht sie fähig, neuen individuell-organischen Bildungen als Element zu dienen.

XII. Zwischen dem Flüssigen und dem völlig Erstarrten steht aber das Weiche mitten inne, in welchem sich einzelne erstarrte Atome überall durchdrungen von Flüsigkeit zeigen. Hierin auch liegt nun im Vergleich mit dem oben gesagten der Schlüssel um die Lebenserscheinungen weicher Theile zu begreifen. Wir sehen nemlich in dem weichen Gebilde, zwar schon eine gewisse feste Begränzung des Individuums erlangt, und in so fern nähert es sich dem völlig Erstarrten, und Erstorbenen, allein andern Theils ist auch die Flüssigkeit als das ursprünglich Lebendige in ihm vorhanden, das Leben ist in seinem Produkte nicht untergegangen, es wirkt vielmehr fort und fort; die Bestimmung des Ganzen, verändert die Form durch Ausdehnen und Zusammenziehen und stellt demnach das Weiche eben so bestimmt als Organ des Lebendigen dar, wie das Flüssige als Element desselben anzusehen war.

Es ist folglich nothwendig Weichheit ein Attribut aller lebendigen Einzel-Wesen; und Thiere und Pflanzen werden durch ihre weichen Theile allein des animalischen oder vegetabilischen Lebens fähig; je mehr sie erhärten, erstarren, umso mehr sterben sie ab; je mehr sie erweichen, zerfließen, um so mehr werden sie wieder zum bloßen Element für anderweitige organische Bildungen.

XIII. Der einfachste und reinste Ausdruck der gleichmäßigen Beziehung gleichartiger Theile auf einen gemeinsamen Mittelpunkt ist die Kugelgestalt. Ein räumlich unbestimmt Begränztes, ein Flüssiges, muß daher, sobald es überhaupt als ein Besonderes existirt, d. i. in seiner Gestaltung frey durch ein inneres Einheits-Prinzip, gleichsam durch einen innern Schwerpunkt bestimmt wird, nothwendig die Kugelgestalt annehmen, und eben deshalb wird die Kugel zugleich zur ursprünglichen Form alles Organischen, da die Beziehung eines vorher räumlich unbestimmt Begränzten auf eine innere Einheit, ja die erste Stufe aller organischen Bildung ist.

Als Beyspiele erinnere man sich an die Bildung des Wassertropfens, des Quecksilberküchelchens, der Blutkügelchen, der kugelförmigen Infusorien. Ja die Natur selbst, inwiefern wir sie als den unendlichen Organismus anerkennen müssen, sind wir genöthigt unter dem Typus einer unendlichen Sphäre, d. i. einer Kugel, deren Centrum überall gleichzeitig vorhanden, in welcher jeder Unterschied von Innen und Außen aufhört, vielmehr überall ein Inneres, ja ein Innerstes anzunehmen ist, zu denken.

XIV. Ist nun ferner jede Bildung ein in bestimmter Zeit erfolgendes Hervorgehen eines Bestimmten aus einem Unbestimmten, eines Mannichfaltigen aus einem Einfachen, einer Vielheit aus einer Einheit, so ergibt sich daraus auch, daß die Bildung in Gegensätzen (polarisch) erfolgen müsse. Es sey nemlich die Einheit gegeben, und sie soll zur Vielheit werden, so kann dieß nur durch Theilung geschehen. Nun ist aber die einfachste Art der Theilung die Theilung in zwey, welche durch abermalige Theilung immer größere Vielheit hervorbringt und so wird also der Begriff des Gegensatzes, welcher kein anderer ist, als der aus einer Einheit in gleichem Maaße hervorgegangenen Zweyheit vollkommen ausgesprochen. – Soll zwischen zwey Entgegengesetzten die Idee der ursprünglichen Einheit Statt finden, so entsteht hieraus eine wesentliche Dreyheit, und wie nun überhaupt durch diese Vereinigung der Entgegengesetzten die Differenzirung vollkommen beschlossen ist (s. Anmerk.), so erklärt sich nun durch Wiederholung dieses Verhältnisses, eine bestimmte Darstellung aller möglichen Zahlenverhältnisse.

Ein mathematisches Beyspiel über die Nothwendigkeit dreyfacher Theilung zur vollkommenen Begränzung, gibt die Theilung einer unendlichen Linie. Theilen wir nämlich eine solche Linie an irgend einer Stelle, so bleiben immer noch zwey unendliche (also noch keineswegs räumlich begränzte) Linien übrig. Theilen wir dieselbe hingegen an zwey Orten, so erscheint nun erst zwischen den Theilungsstellen die bestimmte, d. i. endliche Linie.

XV. Ist nun die ursprünglich organische Gestalt die Kugel (§. XIII.) und geschieht überhaupt eine weitere Entfaltung nach Gegensätzen durch innere Differenzirung (§. XIV.), so ist es nothwendige Folge, daß bey fortschreitender Bildung, die Kugel sich in andere Formen umändern müsse. Diese Umänderung geschieht aber dadurch, daß ein Durchmesser der Kugel, welcher sonst allen übrigen gleich war, jetzt überwiegend wird, und die übrigen Durchmesser sich immer entschiedener unterordnet. So erhalten wir den Uebergang der Kugel durch das Oval, zuletzt, bey völligem Verschwinden aller andern Durchmesser in die grade Linie, oder bei gleichem Ueberwiegen mehrerer Axen über andere, die geradlinigten Figuren, Würfel u. s. w. – Da nun aber diese Veränderung der Kugelform mit der Erstarrung des Flüssigen gleichen Schritt hält, ja nur durch letztere möglich wird, und hinwiederum die Erstarrung immer zugleich ein Ersterben, ein Aufhören der bildenden Kraft nach sich zog (s. §. XI.), so wird sich das Verhältniß des Lebendigen zum Todten auch so ausdrücken lassen, daß man sagt: es sey gleich dem Verhältniß der Kugel zur geradlinigten Figur. Und ferner: da zwischen dem Erstarrten und Flüssigen das Weiche, als das vorzugsweise der Ausübung lebendiger Wirkungen Angemessene, mitten inne steht, so werden hinwiederum die zwischen Kreis und gerade Linie fallenden Figuren (z. B. das Oval, parabolische Linie u. s. w.) die dem Weichen eigenthümlichsten Formen geben.

Das deutlichste Beyspiel zu diesen Sätzen ist die Crystallbildung, rücksichtlich des Ueberganges von dem kugelförmigen Tropfen durch polares Hervortreten gewisser Axen in den durch geradlinigte Flächen begränzten Crystall. Eben so erinnre man sich an die ursprünglich immer kugelförmige Gestalt des Eyes, an die vorherrschende parabolische oder ovale Bildung in den weichen Theilen des Thierkörpers, an die krystallinische Faserstruktur der starren Knochen u. s. w.

XVI. Müssen wir aber in der Folge eines frühern Satzes (§. XIV.) eingestehen, daß jede weitere Differenzirung als Wiederholung des ursprünglich einfachen Gegensatzes anzusehen sey, so werden wir ferner in diesem Satze zugleich den mathematischen Ausdruck, für ein rücksichtlich der ganzen Entwicklungsgeschichte höchst wichtiges Gesetz wahrzunehmen vermögen, welches am schicklichsten etwa folgendermaßen auszusprechen seyn möchte: – Jegliche höhere Entfaltung und Ausbildung eines Organismus wird nur erreicht, durch die mannichfaltigste Wiederholung des ursprünglichen Bildungstypus und zwar in immer andern und höhern Potenzen: – Ein Gesetz, welchem wir deshalb eine besondere Wichtigkeit beylegen müssen, weil auf ihm eben der Begriff der organischen Metamorphose, und die Nothwendigkeit der genetischen Methode für alle Naturwissenschaften begründet ist.