Carl Gustav Carus
Gelegentliche Betrachtungen über den Charakter des gegenwärtigen Standes der Naturwissenschaft
Carl Gustav Carus

Carl Gustav Carus

Gelegentliche Betrachtungen über den Charakter des gegenwärtigen Standes der Naturwissenschaft

[In: Phoenix, eine Zeitschrift für Kunst, Litteratur, Wissenschaft und Industrie, redigiert von J.L. Klein, Jahrgang 2, Heft 7, Berlin (12. Februar) 1854, S. 52-54]

Wie die Weltkörper im rastlosen Fortschreiten im Weltraume immer neue Gegenden dieser Unendlichkeit durchziehen und nie jemals wieder ganz auf denselben Punkt, auf dem sie früher einmal sich befanden, zurückkehren, so auch die Naturwissenschaften. Beide haben etwas Spiraliges in ihrem Verlaufe und täuschen daher leicht den unerfahrenen Beobachter, welcher, dieweil sie in gewissen Beziehungen (so z. B. die Planeten in ihrem Umlaufe um die Sonne) wirklich dahin zurückzukehren scheinen, wo sie schon früher sich bewegten, alsbald versucht ist, solche nur annähernde Wiederkehr als alleiniges Gesetz derselben geltend zu machen; aber in beiden Fällen bleiben dergleichen Annahmen ein gewaltiger Irrthum.

Sonderbar! bei den Naturwissenschaften hält es nun nicht schwer, die Masse zu überzeugen, daß jener Schein von Rückkehr wirklich nur eben ein Schein sei, und nie z. B. die alte iatromathematische Schule des siebzehnten Jahrhunderts durch die physikalisch-chemische des neunzehnten vollkommen wieder dargestellt werde; in der Astronomie hingegen halten selbst die Fachgelehrten noch hartnäckig an der Lehre eines blos elliptischen Umlaufs, und es hilft nichts zu wissen, daß die in früherer Zeit als feststehend betrachteten Mittelpunkte solcher Bewegung gegenwärtig durchaus als in ewigem Fortrücken begriffen erkannt sind, daß also die um die selbst forteilende Sonne schwingenden Planeten nie auf denselben Punkt zurückkehren können, vielmehr in Beziehung auf den Weltraum, ihre Bewegung nothwendig in einer eignen Art von Spirallinie geschehen müsse, – man säumt nichts destoweniger, fortwährend das Gesetz des Spirallaufs zu einer Grundanschauung des Kosmos zu erheben.

So kommt es denn, daß, wer so ziemlich ein halbes Jahrhundert den Gang dieser Wissenschaften ruhig und theilnehmend beobachtete, bei alle dergleichen Widersprüchen und Schwankungen wohl von Zeit zu Zeit sich versucht fühlen muß – wie ich hier es unternehme – einige Resultate aus dem bunten Chaos dieses ewig verschiedenen und wechselnden Treibens in Gedanken zu befestigen und gelegentlich auszusprechen. Vielleicht dient es hie und da etwas mehr Aufklärung über Tagesfragen in den Feldern des Wissens zu verbreiten! –

Erwägt man aber die Verschiedenheit der Standpunkte der Wissenschaft so ganz im Allgemeinen, so muß man jedenfalls zugestehen, daß die Frage nach dem Verhältnisse zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen geistiger und körperlicher Bedingung der Erscheinungen, immer einen der wesentlichen Wendepunkte für deren Beurtheilung ausmachen wird. Der Mensch ist in eine seltsame Stellung der Welt gegenüber gesetzt; wer einmal dem völlig Subjektiven und durchaus Schattenhaften aller Sinneserscheinung (zu dessen Geschichte F. H. WeberBericht über die Verhandlungen der Ges. d. Wissensch. zu Leipzig. 2. d. 1849. S. 226 neuerlich einen sehr dankenswerthen Beitrag gegeben hat) ausführlicher nachgegangen ist, wer dadurch weiß, wie problematisch es um alle unsere Kenntniß von einer Außenwelt überhaupt aussieht, der wird zugleich erfahren haben, wie sehr es doch eigentlich die Aufgabe sein muß, hier nie das rechte Gleichgewicht zwischen Idealismus und Realismus zu verlieren, und wie sehr nothwendig auf Abwege gerathen wird, wer zu ausschließend auf einer oder der andern Seite sich hält. Und doch wie leicht verliert sich der Mensch nicht auf eins dieser Extreme! – Er kann da zu einem Punkte gelangen, wo der andere, ihm zum Dasein nun einmal eben so unerläßliche Pol ganz und gar aus der Wahrnehmung schwindet. Zeigt sich doch schon bei den einzelnen Arten sinnlicher Auffassung ein ähnlicher Gegensatz in einem sehr hohen Grade. Bereits Göthe sagt daher einmal ganz richtig: »Mikroskope sowohl als Teleskope verrücken eigentlich den wahrhaft menschlichen Standpunkt.« Und denke man doch nur einmal ein Geschöpf, dem mit blos mikroskopisch eingerichtetem Auge nur die allergrößte Nähe zugänglich bleibt, welch' andres Bild etwa von irgend einem Organismus müßte es erhalten, als der gesunde Mensch von sich selbst und seines Gleichen zu erhalten bestimmt ist! – Für die Fliege, welche auf den Marmorkörper des Apollo von Belvedere sich niederläßt und darauf umherkriecht, existirt weder sein hohes Ebenmaaß, noch der große Gedanke des Künstlers, der in diesem Werke sich verewigte. Könnte sie reden und schreiben, sie würde nur über die Härte und Kälte der Marmorebene und über ihre kleinsten Erhabenheiten und Vertiefungen berichten, ja, hätte sie einen kleinsten mikrochemischen Apparat zu ihrem Gebrauche, sie würde auch über den wesentlich kohlensauren Kalk seiner Substanz einiges veröffentlichen, und wer würde doch bei alledem einen Auuenblick zweifelhaft bleiben, ob ein Winkelmann, wenn er uns seine Betrachtungen über Gliederverhältnisse, Styl und Schönheit eines solchen Werkes geistreich auseinandersetzt und mittheilt, nicht eine weit angemessenere und wahrhaftere Schilderung davon gewähren müßte, als jene gelehrte und in ihrer Untersuchung sonst ganz achtbare Fliege. –

So nun auch die verschiedenen Standpunkte in der Wissenschaft und namentlich in der Naturwissenschaft! – Man kann sich auch hier so in die eine Richtung vertiefen, daß die andere geradezu ganz fremd und und unverständlich werden muß. Wer sich gewöhnt, immerfort das Mikroskop zu handhaben, wer an der lebendigen Welt nur mit Zirkel, Zollstab und Gewicht operirt, stets bemüht ist, die mechanischen Gesetze einer Bewegung, die chemische Mischung der Substanz zu erforschen, von dem ist es ganz natürlich, daß ihm nach und nach alles zur reinen Maschine vertrocknet, und zuletzt es ihm zweifelhaft bleibt, ob wirklich zwischen einer Dampfmaschine und einem lebenden Menschen- oder Thierkörper ein anderer Unterschied bleibe, als daß die eine zuverlässig von Watt oder Perkins erbaut sei, während er über den Ursprung des andern durchaus keine weiteren Nachrichten zu geben vermöge. – Eben so wird auf der andern Seite jeder, der in bloße abstrakte Spekulationen sich verliert, der ohne Anhalten an fester treuer Beobachtung des Organismus selbst, dessen Wesen aus verschiedenen Polaritäten sich konstruirt, und allenfalls noch einen Archäus des van Helmont sich dazu träumt, nach und nach den vollkommensten Widerwillen gegen jede exakte Forschung empfinden und seine Welt mit idealen Gespenstern bevölkern, welche, wenn sie ihm sodann für Fortführung und Behandlung des wirklichen Lebens zu Hülfe kommen sollen, allemal schmählich ihre Dienste versagen!

Daß nun die gegenwärtige Periode der Naturwissenschaften mehr am Uebermaß der Richtung nach der ersteren Seite leide, als an dem nach der letzterwähnten, kann wohl für den aufmerksamen Beobachter durchaus keinem Zweifel unterworfen sein, und wenn ich oben sagte, es sei keineswegs der Standpunkt der alten iatromathematisehen Schule unbedingt derselbe, den die neue mechanisch-physikalisch-chemische zu dem ihrigen gemacht habe, so soll dies doch durchaus nicht abläugnen, daß in dem Spiralgange der Wissenschaft, welcher immer von Zeit zu Zeit rückläufig werden muß, um dann abermals eine weiter vorgreifende Curve zu gewinnen, der jetzige Standpunkt allerdings als eine, nur etwas verschiedene, Wiederholung des alten betrachtet werden müsse.

Jene ältere Schule ging eigentlich aus von den Zöglingen des Galilei, und wenn Borelli der erste war, der die Muskelbewegungen auf die Gesetze der Statik zurückführte, so ging Bellini bald weiter und betrachtete die Gesetze der Schwere und des Mechanismus als ausreichend zur Erklärung der Lebensfunktionen überhaupt. Ihm galt der Körper als ein nach hydraulischen Gesetzen aus Röhren zusammengebauter Apparat, und Berechnungen über Durchmesser derselben, Friktion der darin sich bewegenden Flüssigkeiten, Weite der Poren, Absonderung der Säfte nach Größe ihrer Atome u. s. w. stellten das Wesentliche der Physiologie in diesem Sinne dar, welches Alles sich späterhin vollkommen in der neuen Richtung wiederholte. Kommen dann damals noch die ältern chemischen Lehren von Sylvius de le Boe hinzu, der aus dem Gegensatze von Säuren und Alkalien u. s. w. die wichtigsten Lebensvorgänge herleitete, so war das Ganze einer Doktrin gegeben, welche eine Zeit lang einen außerordentlichen Anhang unter den Gelehrten Europas sich erwarb, endlich aber doch zu Grunde ging durch eine kleinliche Anwendung des Mechanischen auf das Organische, so wie in der Philosophie die Scholastik zu Grunde gegangen war durch minutiöse Zersplitterung des Begriffs.

Ist es ja auch ganz natürlich! denn liegen selbst alle chemischen Prozesse unsres Körpers in größter Übersichtlichkeit vor, und wissen wir nun auch, daß sie im Leben ganz auf dieselbe Weise wie im chemischen Laboratorium vonstatten gehen, so fragt zuletzt doch immer eine innere Stimme in uns: wie wäre es denn möglich, daß ein Laboratorium ohne einen Chemiker arbeitet? wer ist der Chemiker, der im Organismus diese Stoffe zusammenfügt? wer hat dort die seltsamen Geräthschaften von Drüsen und Adern auferbaut, worin diese Mischungen und Scheidungen geschehen? – und was ist es, wodurch bestimmt wird, daß zu einer Zeit in dieser, zur andern in andrer Weise diese Prozesse vom lebenden Körper vollführt werden? – Da nun niemand doch so ganz vom Geist verlassen sein kann, um zu glauben, daß die unendliche Mannigfaltigkeit, Weisheit und Schönheit im Bau eines menschlichen Leibes etwa durch eine zufällige Krystallisation von Kohlenstoff, Stickstoff, Wasserstoff, Sauerstoff u. s. w. Zu Stande kommen könne, sondern da man hier nothwendg zuletzt auf ein höheres Numen sich gewiesen finden muß, in dessen Schöpfungen alsdann auch erst jene ganze Herrlichkeit von mechanischen und physikalischen Bildungen und Kräften sich zur Erscheinung bringen konnte, so wird nothwendig zuletzt immer, wenn man all diese chemischen, physikalischen und mechanischen Tatsachen auch noch so weit verfolgt hat, eine Lücke übrig bleiben, ein Unbefriedigtsein wird sich fühlbar machen, die Forderung eines höhern Grundes wird nicht umgangen werden können, und weder Chemie noch Physik noch Mathematik werden diesen letzten Grund zu gewähren oder das geheime Lösungswort auszusprechen im Stande sein, welches unser inneres Bedürfnis fordert und worüber nun einmal nur das tief-innerste Schauen des Geistes die wahre Entscheidung zu geben vermag.

Daß in dem Einzelnen allerdings dieses Bedürfnis des Schauens eines höhern Grundes, dieses Sehnen nach geistiger Nahrung, bis auf ein Minimum herabgestimmt werden könne, daß er, so gut wie der rechnende Kaufmann oder der thätige Handwerker, denen der ganze Tag in Geschäften des Erwerbes dahin geht, endlich wohl allen Sinn für Kunst oder gar für die Gespräche des Plato verlieren kann, so daß er behauptet, sich ohne dergleichen weit besser zu befinden, als mit ihnen, das ist eine ganz natürliche Sache und soll keineswegs dem Einzelnen zum Vorwurf gemacht werden, erklärt auch hinreichend die Verachtung aller Philosophie in denjenigen Gelehrten, welche so recht, und mitunter gewiß für das Ganze mit dem nützlichsten Erfolge, in die Bearbeitung einzelner minutiöser aber durchaus palpabelcr Aufgaben sich versenkt haben; allein nur die Gesammtheit der Wissenschaft soll sich ihr Walten in beiden Reichen zugleich, und die schöne und rechte Ergänzung des einen durch das andere nicht nehmen lassen, und wie vor vierzig Jahren, wo in Deutschland eine schwärmende Ideal-Philosophie die scharfe Erwägung des Einzelnen offenbar in den Hintergrund zu drängen drohte, es nicht an Stimmen fehlte, welche warnend zuriefen und zum Einhalten zwangen, so möge es auch jetzt nicht an ähnlichen fehlen, bei dem Versinken in einen Materialismus, der vielleicht, weil Chemie, Physik und Mechanik nun so viel reicher und mehr durchgearbeitet worden sind, als vor 200 Jahren, eben deshalb auch mit um so größerer Gewalt seine Zöglinge an sich heranreißt. – Gewiß! Wer mit Aufmerksamkeit um sich blickt, dem werden seltsame Zeichen solcher Zustände entgegentreten, und man darf wohl sagen, es heiße die Mißachtung aller geistigen Anschauung auf eine Höhe getrieben, welche aller feinem Kultur Hohn spricht, wenn man öffentlich gedruckt lesen kann: »die Seele sei ein Compositum aus drei Theilen: aus Vernunft, thierischem Trieb und Elektrizität«, ohne daß jemand sogleich einen Unsinn rügt, der schon seines durchaus unlogischen Ausdrucks wegen, früher in jeder Uebungsarbeit auf einem Gymnasium mit Rutenstreichen gezüchtigt worden wäre. Vielleicht steht es auch um nicht viel besser, wenn in physiologischen Darstellungen des Nervenlebens, als Wirksamkeit eines rein elektrischen Apparates, von der am Ende doch nicht gerade wegzuläugnenden und freilich an Elektrisirmaschine oder Induktionsapparat nicht füglich darzustellenden psychischen Thätigkeit des Hirns ausgesagt wird: »es müsse ihre nähere Betrachtung so lange einer andern Wissenschaft (der Psychologie nämlich), welche, anstatt ihre Begriffe auf dem reinen Boden des Experimentes anwachsen zu lassen, es vorziehe, sie aus Kanonen in die Welt hineinzuschießen, überwiesen werden, bis die Physiologie Muße und Mittel finde, sich der hierhergehörigen Fragen würdig anzunehmen.«!!

Wenn nicht in Ausdrücken dieser Art ein Hochmuth läge, der an Geisteskrankheit streift, so könnte man wohl daran das Zeichen äußerster Schwäche eines Raisonnements beklagen, das nothwendig immer, wenn es die Macht des Geistes bloß am Galvanometer ablesen will, zu kurz, kommen muß, und selbst im besten Falle stets Ursache und Wirkung verwechseln wird. – Ähnliche Verkehrtheiten haben neuerdings auch chemische Demonstrationen kund gegeben, wenn sie z. B. die höchste Genialität durch zufällige Anhäufungen von etwas mehr Phosphor in der Hirnsubstanz abzuleiten sich berechtigt glaubten, und was dergleichen mehr ist; jedenfalls aber giebt es eigne Gedanken, wenn man zum Theil noch mit erlebt hat, wie bei dem Aufflammen hellern philosophischen Lichtes in Deutschland, eine Menge jüngerer Geister, fast ohne es selbst zu ahnen, gerade dadurch angefeuert wurden, das Studium der Naturwissenschaften mit einem Eifer zu ergreifen, welcher sie nun wirklich zu manchem schönen und bleibenden Resultat führen konnte, und bald darauf gewahr wird, wie eben diese Geister nun, anstatt jener Leuchte zu danken und ihre Strahlen zu reinigen und zu verstärken, sie auf die geringschätzigste Weise behandeln und sie schmähen, ungerathnen Kindern vergleichbar, die sich nicht scheuen, ihre Mutter mit Steinen zu werfen.

Möge deshalb allerdings Waage und Mikroskop, physikalisch-chemischer Apparat und anatomisches Messer fortfahren, die Naturerscheinungen in aller Weise gründlichst zu untersuchen und seine Resultate der Wisscnschaft darzustellen, aber möge man auch festhalten, daß nimmermehr der Geist, das höhere Numen, dadurch allein gefaßt und erkannt werden könne, daß die Natur ein Großes, die Idee aber, d. h. das göttliche Vorbild des Seienden vor allem Sein ewig ein Größeres bleiben wird, und daß die ganze Schönheit und Fülle und Macht des sogenannten Wirklichen, oder richtiger des Phänomens, erst dann recht vollkommen hervortrete, wenn es in dem Lichte einer reinen und einfachen Philosophie betrachtet und ermessen wird. Wer umgekehrt das Geistige und Urgewaltige blos von den Schranken des Vergänglichen, Zeitlichen aus darzustellen und festzuhalten sucht, dem rief schon unser größter philosophischer Dichter zu:

»Du bannst den Geist in ein tönendes Wort
Aber der Freie wandelt im Sturme fort.«