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Ludwig Anzengruber

»Jaggernaut«

Ein Märchen.

Über den Märchen und Sagen aller Völker wölbt sich ein Himmel, der den Deutschen anheimelt und ihm alle Fabeleien und Sagen verständlich macht, und das erste Märchen auf diesem Festlande war gewiß ein deutsches. Laßt uns also Märchen erzählen! Das ist echt deutsch und kann wohl nicht »aufreizend«, noch »staatsgefährlich« sein; der Schlüssel zu jedem Märchen ist das Gefühl und unsere nationalen »feindlichen Brüder« verstehen ja deutsches Wissen nur halb, deutsches Fühlen aber gar nicht. Laßt uns Märchen erzählen.

Der Ganges, der heilige Strom der Inder, rauschte friedlich dahin und in seinen Wellen spiegelten sich die lichten Sterne; nur in den Wäldern war die Ruhe nicht eingezogen, der Jagdschrei der verfolgenden und das Aufstöhnen der verfolgten Kreaturen belebte die Stille der Nacht, dazu rauschten die alten Stämme und fächelten die riesigen Blätter. – Nur in der Einöde atmet die Natur Frieden, da schlummert sie willenlos; wo aber das Feuer der Sonne Wesen weckt, da hat sie Tausende von Willen und greift mit tausend Armen beängstigend um sich, – wonach? Darüber haben die Weisen vieles ausgesonnen, die Wahrheit aber weiß kein Sterblicher bis zur Stunde.

An dem Fuße der Stämme, den schmalen Steig entlang, den die Fußstapfen vieler Generationen in willkürlicher Krümmung durch die Wirrnis des Waldes geebnet, bewegte sich, klein und hastend wie ein Insekt, ein Menschlein vorwärts, es war ein müder Fakir. Erst als er den Saum des Waldes, dort an dem weiten Wiesenplane, erreicht, gönnte er sich ein wenig Rast und sah hinüber nach der anderen Seite, wo die Bäume wieder ihre Häupter stolz erhoben und aller Herrlichkeit von Kraut und Strauch ein Ziel setzten. Dort drüben stand die Hütte eines Brahminen und in dem klaren Sternlichte sah der Fakir den alten Mann mit den Silberhaaren vor derselben auf dem Boden kauern. Ein befriedigtes Lächeln glitt über sein Gesicht, er breitete die Arme nach dem Weisen aus und mit der letzten Kraft auf die Hütte zusteuernd, brach er dort vor dem Alten in die Knie. »Mein Vater!« Der Greis sah verwundert auf, dann schien er sich auf den vor ihm Knieenden zu besinnen, er legte ihm die zitternden Hände auf das Haupt. »So kommst du mir doch noch zurück, du Letzter von meinen Sieben?« »Wo sind die Brüder?« fragte der Fakir. »Drei in mörderischer Schlacht gefallen, drei vor den Kanonen ›weggeblasen‹.« Der alte Mann sagte das mit ruhigem Schmerz; es mußte viel Zeit darüber weggegangen sein, die Wunde war verharscht, der Schmerz war tot, aber die Freude schien mit ihm verstorben. So kommst du mir doch noch zurück, du Letzter von meinen Sieben?

Dem Fakir fiel das schwer aufs Herz, er weinte leise. Er hatte gedacht, an des Vaters Brust zu liegen, ihm all das Leid zu klagen, das ihn traf, seit er in die fernen Lande gezogen; ihn stolz zu machen durch die Versicherung, wie er in all dem fremden Wesen der Alte geblieben und ... So kommst du mir doch noch zurück? Aber er faßte doch die Hand des Vaters und beteuerte, wie er zurückgekommen sei, so wie er ausgezogen, getreu den Sitten und den Göttern seines Landes. Und er flüsterte ihm leise zu, wie er auf dem Heimwege in Jaggernaut, der heiligen Stadt, gewesen sei, willens, wenn sie das gewaltige Götterbild dort auf dem Triumphwagen durch die Straßen zögen und sich die Begeisterten unter dessen Räder stürzten, seinen rechten Arm unter das Rad zu halten. Aber die verhaßten Fremdlinge haben die Heiligen mit den Bajonetten hinweggetrieben von dem Wagen der Gottheit.

Der Alte schüttelte den Kopf, er sah bedächtig um sich und dann sagte er, zu dem Ohre seines Sohnes sich neigend: »Jaggernaut ist die Welt«. Der Fakir sah erstaunt auf. »Die Welt ist Jaggernaut,« wiederholte der Brahmine, »sie hat eine ernste Gottheit und mit Bajonetten und Geißeln, mit tiefen Herzenswunden und weher Sehnsucht treibt sie uns unter die Räder ihres Wagens. Die Welt ist Jaggernaut.« Er schwieg. Der Fakir kreuzte seine Arme über der hochklopfenden Brust, er sah fragend zu dem weißen Haare des Vaters empor. »Ist die heilige Stadt Jaggernaut eine Lüge und die Welt ist jaggernaut?«

Der Brahmine neigte sein Haupt und sprach: »Es war am selben Tage, wo sie mir am Morgen sagten, drei meiner Söhne seien gefallen, und wo ich am Nachmittage die blutenden Glieder der andern drei mit diesen meinen eigenen Augen in die Lüfte verstreuen sah, da wankte ich nach meiner Hütte, warf mich zur Erde, hob die geballten Hände empor und verfluchte die Mörder, bis mir die Augen rollten, der Geifer vom Munde rann, ein Krampf die Nägel der geballten Fäuste tief ins eigene Fleisch trieb und ich besinnungslos mit dem Kopf an die Erde schlug. Da kam mir's: die Welt ist Jaggernaut! Über mich kam's wie Gewittersturm und ich sah im innern Lichte die Erde vor mir liegen! Lebendig ward es rings, zwischen allen Stämmen brach es hervor wie Ameisengewimmel, endlos, – Menschenwoge auf Menschenwoge!

Und an was sie herankamen, das sogen sie ein, wie die Feuerzungen eines Waldbrandes, über dem Walde lohte es empor wie Feuerröte, rauchiger Brodem wehte herüber, Wehschrei und Stöhnen, Wutschrei und Jubel mischten sich in der Luft und endlos, endlos schoben sich die Massen heran und vorbei? Was sie in ihrem Drängen, Zerren und Stoßen und Stemmen bewegten, ich wußte es nicht. Ich sah Tausende wie Tiere in einem Knäuel vorüberpeitschen, andere aus tiefer Brust aufstöhnend vorwärts stürzen, still zogen andere dazwischen hin – alle einen Weg; oft kräuselte eine Woge empor in dem Strome, da, wo ein Knäuel dazwischen stürzte, um das Andringen zu hindern, wo eine Masse sich sperrte und festsetzen wollte, da gellte es jedesmal auf vom Kampfgeschrei, aber wenn ich wieder mein Auge nach der Stelle wandte, da war die Woge geglättet und endlos wieder, wie früher, endlos zog es vorüber. Der heiße Hauch der Brandluft schlug an meine Schläfen, die wild unter meinem wirren Haare pochten – und da, da tauchte ferne noch am Horizont ein steinernes Antlitz empor, keinem unserer Götterkolosse vergleichbar, das Gesicht eines Weibes, ernst, still, feierlich, mit geschlossener Lippe, die Augen sahen groß und gewaltig in die Ferne, die Brauen waren leidenschaftslos gebogen, keine Falte auf der klaren Stirne, gewaltige Haarwellen und ein eherner Helm deckten das Ohr des gewaltigen Weibes und was unter ihr aufschrie vor Weh und Jammer, das mochte wohl nur wie der schwache Laut eines Neugeborenen zu ihr empor klingen. Und immer vorüber wälzten sich die Massen und das Götterantlitz stieg höher am Horizont, der Nacken ward sichtbar, ein erhobener Arm halb weisend, halb befehlend vorgestreckt, vier Finger der Hand waren lässig gebogen, eine warnende Abwehr, als wollte sie deuten, an sie reiche nichts; dann erschien die Büste in Erz gekleidet – höher und höher tauchte das Götterbild auf, der linke Arm sank herab in die Falten des Unterkleides, in das zwei Finger kniffen, eine ruhig zuwartende Gebärde .... und jetzt wurde auch der Wagen sichtbar, auf dem das Götterweib stand, die Flammen, die rings an Dörfern und Städten, an Hütten und Tempeln leckten, färbten das steinerne Bild, Purpurn war der Saum ihres Kleides und im wirbelnden Rauche spielten sanftere Lichter hinan an die riesige Gestalt, röteten die Arme und das Antlitz und wie lebendig nahte ruckweise das Götterbild.

Da war's, obwohl ich es vor mir sah, als läge es Jahrhunderte noch weg von mir, und ich sah, wie es einen Hügel niederbog, wie der Wagen von selbst ins Rollen kam, wie unter seinen Rädern die Nächsten zuckend zermalmt wurden, wie aber andere die Hände freibekamen, wie sie über ihre Peiniger, ihre Treiber, ihre Quäler herfielen und ein entsetzliches Gericht hielten, und wie in all dem Greuel still und gewaltig die Gottheit langsam den Plan herunterrollte, unaufhaltsam, gottgewollt.

Näher noch kam's, wieder ging's den Hügel aufwärts, ich sah, wie sie herandrängten an die Räder, wie manche in die Speichen griffen und wie ein Ruck sie zermalmte, wie andere an dem Rade schoben und wie sie das herumriß; Blut, Schweiß und Gehirn netzten die Radnaben des furchtbaren Wagens, der in der Furche von zermalmten Leibern unhörbar und erschreckend schnell herankam. Tiefer Schauer ergriff mich, ich taumelte und hielt mich an die Nächsten, die drängend und schiebend vorüberkamen. Wie heißt die Gottheit? fragte ich wirre ... Freiheit! Fortschritt! – Das klang weich und mild. Ich taumelte an einen Dritten und frug ihn das gleiche, und er gab in germanischer Zunge Bescheid, das Wort klang ehern und es war, als wüchse eine Silbe aus der andern heraus: Entwicklung!

Entwicklung! Ja, so muß die Furchtbare heißen, der Geschlecht um Geschlecht in peinvollem Müssen oder sehnsuchtskrankem Wollen der Wagen dahinrollen muß bis zu ihrem Tempel. So muß sie heißen, die Gottheit, von der wir ahnen, daß sie allüberall, wo Wesen atmen, auch da oben auf den flimmernden Sternen mit blutigem Wagen ihre Spuren zieht, fort und fort, bis der Stern erlischt und seine Wesen verwehen und ihr Bild dann einsam inmitten der Trümmer einer Welt steht, entweder weit abseit am Wege oder im verlassenen Tempel, immer noch die Linke zuwartend gesenkt, immer noch die Rechte weisend gehoben, stets bereit, wenn die tote Welt etwa zu neuem Leben aufleuchtet, den Wagen wieder ins Rollen zu bringen.

Fragst du aber nach dieses Ringens Preis, ob nun der Göttin Siegeswagen gehemmt oder am Ziele verlassen auf den erloschenen Sternen steht?! Die Göttin weigert dir die Antwort und alle Götterbilder dieser Erde, sie zeigen einen ernstgeschlossenen Mund.

Die schlauen Griechen ersparten den stummen Göttern die Antwort, indem sie über sie ein Letztes setzten, verschleiert, streng und kalt, unnahbar, an das keine Frage hinanreicht, das Fatum! Das Ringen aber bleibt keinem Geschlechte erspart, nicht die Drangsal an den Drängern, nicht der Kampf gegen jene, die den Strom stauen wollen. Die Welt ist Jaggernaut und sie hat eine strenge Gottheit. Die Welt ist Jaggernaut!«


Laßt uns Märchen erzählen. Die Welt ist Jaggernaut und sie wird es bleiben, auch wenn eine Exzellenz Lust hatte, zu dekretieren: Jaggernaut sei... ein slawisches Dorf! – –

So fertig oder unfertig, wie ich sie damals niederschrieb, als eine Exzellenz derartige Neigungen an den Tag legte, fand ich diese Zeilen in meinem Schreibpulte, Nun passen sie heute nach fünfzehn Jahren wieder.