Theodor Wolff
Spaziergänge
Theodor Wolff

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Der glücklichste Mensch

(Scheveningen)

Der glücklichste Mensch ist der südamerikanische Delegierte bei der Haager Friedenskonferenz. Nicht der Diplomat jener größeren Staaten, die ihre Schulden nicht bezahlen mögen, sondern der Vertreter jener kleineren Republiken, die überhaupt nichts geborgt erhalten. Diese beneidenswerten Staatsmänner bevölkern hier die Speisesäle der Hotels, leben einen guten Tag und genießen den heiteren Reiz eines beschäftigungslosen Daseins. Ihre Röcke sind elegant, ihre Stiefel und ihre gezwirbelten Schnurrbärte glänzen von Creme, und ihre Manieren sind in jeder Beziehung vortrefflich. Sie haben nichts gemein mit jenen asiatischen Diplomaten, deren Kultur noch jung ist und deren unbeschäftigte Hände sich noch bisweilen in die Nase verirren.

Der Delegierte der kleinen Bankrottstaaten geht ohne Befürchtungen zur Konferenz, und wenn er sich den Kopf kratzt, sind es nicht Sorgen, die ihn plagen. Die Probleme der Abrüstung und des Seerechtes kümmern ihn wenig, und auch die Frage der 269 Schiedsgerichte kann seine Verdauung nicht stören. Nur der Versuch des Argentiniers Drago, militärische Schuldeintreibungen zu verhindern, berührt ihn etwas näher, aber er kennt Europas Abneigung gegen diesen Antrag, und er fügt sich ins Unvermeidliche. Er braucht keine verwickelten Rechtsfragen zu studieren, keine Akten durchzulesen. Und doch wirkt er, indem er sich in Scheveningen die Nägel putzt, mit den anderen für die Weltgeschichte.

In dieser Vorsaison ist der Strand von Scheveningen noch nicht allzu belebt, und kein schwärzliches Menschengewimmel verunziert die saubere gelbe Fläche. Die meisten Strandkörbe stehen noch leer und unbenutzt, und nur ein paar entzückte Babys bauen ihre Burgen mutig bis zum Wasserrand. Eine wunderbar silberne Lichtfülle funkelt und flimmert über dem Meere, über dem Strande, über den Dünen, die auf ihren kahlen Schädeln grüne Graskäppchen tragen und deren Linien in weiter Ferne zerrinnen. Gesunde, derbe holländische Jungen galoppieren auf kurzbeinigen, gemieteten Pferden über den aufspritzenden Sand, halten sich krampfhaft an den Mähnen, verlieren das Gleichgewicht und werden von den Kameraden mit Hallogeschrei verspottet. Und die rotbäckigen, starkknochigen Mädchen stehen dabei, schütteln sich vor Lachen und zeigen soviel Zähne, wie man nur in einem holländischen Rosenmündchen beieinander findet.

Drinnen, landeinwärts, liegt der Haag, mit seinem verträumten Weiher, seinem altertümlichen Binnenhof, seinen stillen Villenvierteln, die wie ein vornehmes Damenstift anmuten, und seinen geräuschvolleren Geschäftsstraßen. Die Villenviertel wachsen mehr und mehr, 270 dehnen sich nach allen Seiten, und die eintönig aneinander gereihten, aber mit ihren kleinen Stil- und Farbenvariationen doch amüsanten Häuschen werden bald die äußersten Straßen von Scheveningen erreichen. An den breiten Mittelfenstern der zierlichen Villen sitzen alte, schmucklos gekleidete Damen, lesen den »Rotterdamschen Courant« und blicken hinaus, wenn ein Wagen vorüberrollt. Dienstmädchen mit weißen Hauben putzen fortwährend die Scheiben, Bonnen schieben den Kinderwagen mit großäugigen Butzis zum Busch, und keck lugende Backfische wandern mit der Schulmappe zur »Meisjesschool«. Auf dem Weiher schwimmen, abweisend und einsam, die königlichen Schwäne, und durch den Binnenhof flattert Bertha von Suttner, die zähe Friedenstaube.

Man kann es seltsam finden (ich für mein Teil finde es sympathisch), daß sich der Haag um die Haager Friedenskonferenz auch nicht im mindesten kümmert. Keine Girlande ist aufgehängt, kein Feuerwerk wird abgebrannt, und nicht einmal eine illustrierte Kongreßpostkarte ist erschienen. Es gibt einen »Friedensbasar« und eine Schokolade, die »Pax« getauft ist, und das sind die einzigen Sympathiekundgebungen, die bisher bemerkbar werden. Das holländische Phlegma ist so schnell nicht aufzurütteln, und vielleicht widerstrebt der praktische Geist dieses Kaufmannsvolkes dem diplomatischen Suchen nach vieldeutigen Wortgebilden. Die alten Kaufherren, Kaffeepflanzer und Rentiers sitzen in ihrem großen Klubhause am Plein, rauchen dicke, lange Zigarren und sprechen von den Preisen an der Amsterdamer Börse. Sie thronen wie olympische Götter 271 in blauen Rauchwolken, und die Friedenskonferenz wiegt ihnen leichter als eine holländische Kaffeebohne.

Der südamerikanische Staatsmann konstatiert mit Bedauern, daß es an Damen mangelt – zum mindesten für ihn. Die beiden einzigen Kongreßdamen, die durch Schönheit und Toilettenkunst bestricken, kamen aus Paris: Madame Paul Adam, die Gattin des Romandichters, und die zierliche, schwebende, blonde Baronin de Clauzel. Noch andere, weniger bemerkenswerte, haben ihre Gatten begleitet; andere werden eintreffen, sobald die Saison erst im Schwunge ist, aber der südamerikanische Staatsmann fühlt sich einstweilen vereinsamt. Er blickt, mit Forscherdrang und Sehnsucht, den zahllosen jungen Radlerinnen nach, die am Spätnachmittage vom Haag herüberradeln, und ihre frische Anmut interessiert sein dunkles Kennerauge. Er bemerkt in den Dünen eng verschlungen gelagerte Paare, die mit Ostadescher Ungeniertheit ihre Empfindungen verraten, und am Sonntag läßt er sich herab, mit den breitröckigen Bauerndirnen zu scherzen, die dann, untergeärmelt, über die Promenade ziehen. Die lachenden Dirnen mit den weißen Häubchen und den goldenen Sonntagsnadeln rufen ihm allerlei zu, aber er versteht nicht ihre Sprache. Und der südamerikanische Staatsmann fährt nach Amsterdam, wo die Verständigung leichter ist.

Trotz kleiner Entbehrungen fühlt der südamerikanische Staatsmann sich wohl, und er wünscht dieser Friedenskonferenz eine ewige Dauer. Er liebt besonders die – allzu spärlichen – öffentlichen Sitzungen und fährt dann, wenn die Mittel reichen, im offenen Landauer zum Rittersaal. Er hält streng auf die Etikette, beklagt 272 die Vorherrschaft der europäischen Großmächte, schielt aber noch weit eifersüchtiger nach dem Kollegen aus Nikaragua. Zur Natur, mit Ausnahme der weiblichen, hat er keine Beziehungen, und die silberne Lichtfülle auf dem Strande und die blaugrüne Herrlichkeit des Meeres lassen ihn völlig ungerührt. Ja, man kann sogar sagen, daß der Anblick des Meeres ihn melancholisch zu stimmen scheint. Er blickt mit Neid auf dieses Meer, das bald Flut und bald Ebbe hat, und denkt mit leiser Beklemmung an seinen Staat, wo die Ebbe unvergänglich ist. 273

 


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