Johann Karl Wezel
Lebensgeschichte Tobias Knauts
Johann Karl Wezel

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21.

Den folgenden Morgen merkte Tobias genau, daß ein großer Teil seines Projektes in der vorhergehenden Nacht verdunstet war. Es stiegen allmählich Schwierigkeiten in seinem Kopfe auf, von denen Tags vorher kein Schatten der Möglichkeit vorhanden gewesen war. Die dadurch verursachte Dämpfung des Feuers, mit welchem er vorher seinen Plan verfolgt hatte, war einer von den wichtigsten Gründen, warum er auf die Bitte seiner Bewirter ohne sonderliche Umstände sich entschloß, noch einen Tag und eine Nacht in diesem glücklichen Hause zuzubringen. Wäre gleich ein neuer Entwurf bei der Hand gewesen, so wäre ihm einerlei Schicksal mit Ergasten begegnet, der neulich ohne Bedenken die Abwartung seines Amtes ganz unterließ, weil seine Tulpenzwiebeln aus Holland angekommen waren – er hätte den Alten ganz vergessen.

Jeder noch so geringfügige Umstand erinnerte ihn den ganzen Tag über daran, wie unansehnlich seine Figur war. Er maß sich in Gedanken mit jedermann, der ihm begegnete, und allemal, sooft es nicht sechsjährige Kinder waren, fiel das Urteil dahin aus, daß er viel kleiner wäre; – doch nicht gar zu viel! setzte er bei sich hinzu; ohne Zweifel geschah das aus Liebe zum Projekte, denn unser Kopf behält lange, oft zeitlebens, gegen jeden Gast, den er beherbergt hat, eine höchst galante Gefälligkeit. Aus dieser Ursache war Niklas, der Sohn seines Wirtes, dessen Länge die seinige gerade drittehalbmal hielt, in seinen Gedanken nur einen guten Kopf größer als er.

Er brachte einen großen Teil des Tages neben dem Lager seines Wirtes zu, dessen geschwätzige Laune zu seiner großen Zufriedenheit einen aufmerksamen Zuhörer an ihm fand. Nachmittags, als das Gespräch zu ermatten anfing, bat ihn Tobias, die Erzählung seiner Schicksale fortzusetzen, und er setzte sie ohne Weigerung fort.

»Wie ich's ausstehen konnte«, fing er auf seine Frage an, »daß ich nicht bei meiner Klare war? – Nicht gut! Aber ich mußte! Ich besuchte sie oft, und noch hätte ich mit allem dem zufrieden sein wollen, wenn nicht wieder eine verdrießliche Sache dazwischen gekommen wäre.«

»Ach! was denn?« rief Tobias hitzig.

»Was? Meine Klare war hübsch; das habe ich dir wohl schon gesagt. Der Edelmann in dem Dorfe, wo sie diente, war ein junges Herrchen, das kaum von der Universität wiedergekommen war. Er dachte, weil er Herr vom Dorfe wäre, so wäre er's auch von meiner Klare. Sie gefiel ihm, und weiter, meinte er, wäre nichts nötig. Aber Klare war gescheut. Die Sache war schon lange im Werke, und ich wußte kein Wort davon. Endlich komme ich einmal des Sonntags zu ihr. Kannst du dir vorstellen? – Da sitzt sie in ihrer Kammer und weint und – weint!

Ich war in Todesangst. Ich zitterte am ganzen Leibe vor Schrecken und konnte kein Wort aufbringen. Endlich fragte ich sie: ›Was hast du denn? – Was hast du denn?‹ noch einmal; aber da war keine Antwort. Sie weinte, sie schluchzte, und das griff mir das Herze so an! – ich setzte mich zu ihr und weinte mit. Ich möchte es noch itzt tun, wenn ich daran denke, wie mir damals war.«

Tobias schlug die Augen nieder und zupfte an seiner Weste.

»Endlich erzählte sie mir die ganze Sache. ›Der Edelmann‹, sprach sie und weinte immer mit unter – ›der Edelmann hat mich vor vier Tagen in den Stock werfen lassen, und heute früh bin ich erst wieder losgekommen. Er gab mir schuld, ich hätte auf seinen Wiesen Gras geholt, und in meinem Leben habe ich das nicht getan. Aber ich weiß schon, warum ich so hart bestraft wurde. Er hat mich schon länger als vier Wochen gequält und mir wunderliches Zeug vorgeschwatzt. Am Montage abends kam er zu mir in meine Kammer; aber ich machte Lärm, und er mußte fort. Er hat – Deswegen mußte ich mich so beschimpfen lassen.‹

Ich kannte mich vor Zorn nicht. Ich lief fort, gerade auf das Schloß. Ich traf ihn auf dem Hofe mit der Flinte an. Gleich ging ich auf ihn los und sagte ihm die Wahrheit. Ich weiß nicht, was ich im Zorne alles sagte. Genug, er wurde böse und wollte mit der Flinte nach mir schlagen. Ich wurde noch böser und wehrte mich. Merk dir's, mein lieber Sohn, und werde in deinem Leben nicht böse. Ach, was der Zorn für eine entsetzliche Sache ist! Man ist kein Mensch mehr, wenn man darein gerät. – Meiner bekam mir übel. Ich mußte ein ganzes halbes Jahr bei Wasser und Brot sitzen und sollte gar auf den Bau kommen. Das möchte aber alles noch gewesen sein, wenn nur meine Klare zu mir gedurft hätte. Ein ganzes halbes Jahr durfte ich sie nicht sehen und wußte nicht, wie es ihr ging.

Endlich fand ich eine Gelegenheit und entwischte. Ja, wo sollte ich sie nun suchen? Manchen Tag bin ich herumgelaufen, auf allen Dörfern; aber sie war nirgends. Ich dachte gar nicht daran, daß sie mich hätten wieder haschen können. Ich wußte keinen bessern Rat, als – ich wagte mich nach Hause. Der Pfarr war unterdessen anderswohin gesetzt worden, und meine Mutter lebte noch. Sie hatte viel Freude, mich vor ihrem Ende wiederzusehen. Klare blieb immer weg. Meine Mutter wollte beständig, ich sollte heiraten; aber wohl tausendmal hab ich ihr zugeschworen, daß ich lieber sterben wollte, als jemand anders nehmen wie meine Klare. – Sie ließ mir meinen Willen.

Es verging ein Vierteljahr, ein halbes Jahr, und ich hörte immer nichts von meiner Klare. Ich arbeitete brav, und wenn ich mir was verdient hatte, so dachte ich allemal: Ach, wenn du nur ihr was davon geben könntest!

Einmal sitz ich des Abends am Tische – es war im Frühjahre, so in der Dämmerung. – Ich war schläfrig von der Arbeit und so verdrießlich, weil mir's gar nicht nach meinem Willen ging, daß ich darüber einschlief. Meine Mutter saß im Winkel und nickte auch. – ›Du!‹ hör ich sie auf einmal rufen, ›es klopft jemand.‹ Ich stolpere, halb im Schlafe, zur Haustür und mache auf, und so kömmt eine Weibsperson hereingetreten und bittet um ein Nachtquartier. Ich hält ihr's beinahe abgeschlagen, weil ich nicht wußte, wer es war. – Je nu! dacht ich, weil sie doch meine Mutter kennt, wie sie spricht, so mag sie doch wohl ehrlich sein. Ich hieß sie in die Stube gehn. Sie bat meine Mutter gar sehr um eine Herberge und sagte, sie wäre – Klare +++!

›Klare!‹ rief ich. ›Je wo denn du her? – Je, Töffel! je wo denn du her? – Je wo denn du her?‹ so fragten wir uns, wer weiß, wie lange, und keins antwortete dem andern vor großen Freuden. Meine Mutter schlug indessen Licht an; und nun sah ich's! Da war's meine leibhafte Klare! aber gar jämmerlich sah sie aus – hager, eingefallen wie der Hunger!

›Je wo denn du her?‹ – ›Von der Marthe‹, sagte sie. ›Mir ist es unterdessen gegangen! wenn du wüßtest!‹ und so fing sie an zu weinen.

Wir dachten gar nicht ans Essen, bis meine Mutter etwas für sie brachte. Ich mußte ihr alles erzählen, was mir während der Zeit begegnet war. Darauf fing sie an. – Klare!« rief er zweimal und pfiff. »Bist du nicht da? Sie sollte dir's selber erzählen. –Je nu, kann ich's doch auch tun« – und so bat er den wartenden Tobias, die Decke an seinen Füßen ein wenig zurückzuschlagen, weil ihm zu warm würde. Darauf setzte er sich in eine bequemere Lage und fuhr fort.

»Sie war auch wieder in Verhaft gekommen, weil sie mich angereizt haben sollte, dem Edelmanne so übel zu begegnen. Aber da sie nichts aus ihr bringen können, so lassen sie sie fort. Sie packt ihre Sachen zusammen und macht sich auf – weg aus dem Dorfe und will zur Marthe gehn. Sie verirrt sich und gerät in den –r Wald. Die Nacht kömmt dazu, und es ist weiter nichts zu tun – sie muß im Walde bleiben. Des Morgens, da sie aufwacht, ist ihr Korb mit allen ihren Sachen weg. Sie hungert, sie weiß keinen Weg; aber fort muß sie doch! Sie läuft, so gut sie kann, und kömmt endlich an eine Kohlenbrennerhütte. Sie bittet um ein Stückchen Brot, aber die armen Leute haben selbst keins. Doch geben sie ihr ein kleines Restchen Brei und bringen sie auf den Weg nach einer andern Kohlenbrennerhütte. Drei Tage lang wandert sie von einer zur andern, bis sie zuletzt von einem Kohlenbrenner auf ein Dorf, eine gute Strecke von seiner Hütte, gebracht wird, wo er zu tun hat. Sie fragt sich von einem Orte zum andern fort und muß sich mit Betteln durchhelfen. – Jammert dich's nicht, mein liebes Kind?« fragte er und holte einen tiefen Seufzer.

Seinem Zuhörer war bei dieser Erzählung seine Begebenheit mit der Zigeunerin eingefallen, die er ihm hier kürzlich bekannt machte und dafür einen sehr mitleidigen Blick und ein aufrichtiges Bedauern empfing. Diese Umstände zusammengenommen machten Tobias' Herz so weich, daß die Erzählung seines Wirtes viel tiefer eindrang als vorher.

»Du gutes Kind!« sagte der Alte, »du bist noch so jung und hast schon erfahren, wie wehe das Unglück tut! Meine Klare hätte es schon gewohnt sein können, und doch sagte sie, sie hätte sich so gegrämt, daß ich ihr nicht einmal eingefallen wäre. ›Besonders das Betteln!‹ sagte sie, ›das schmerzte mich! Ich habe mich geschämt! und an den meisten Orten, wo ich etwas verlangte, gingen sie selbst betteln.‹

Was half's? Sie mußte sich drein ergeben und kam nach vielem Hunger und Kummer und vielem Herumlaufen zur Marthe.

Die gute Marthe! Sie hätte selbst Almosen nötig gehabt. Durch Mißwachs, durchs Viehsterben war sie indessen ganz heruntergekommen und lebte itzt – der liebe Himmel weiß, wovon! Unser Kind hatte sie für sich nicht mehr erhalten können; wir waren auch lange nicht imstande gewesen, ihr Zuschuß zu geben. Sie hatte es also der Müllerin anvertraut, die selbst keine Kinder hatte und doch die Kinder gar herzlich liebte. Alles das wußte ich schon; denn ich war selber bei der Marthe gewesen, da ich aus dem Gefängnisse entkommen war. – Sie bleibt einige Zeit bei ihr, geht auf die Arbeit und erhält sich und die Marthe davon, freilich kümmerlich.

Endlich faßt sie sich das Herz und wagt sich zu meiner Mutter, aber nur heimlich; deswegen kam sie auch des Abends so spät, damit sie niemand im Dorfe gewahr werden sollte, und da fand sie mich, ohne daß sie's vermutete.

Liebes Kind!« sagte er nach einer kleinen Pause, »das Erzählen macht mir warm. Ich bin müde. Laß mich ein wenig ausruhen! Diesen Abend sollst du vollends alles hören.«

Ungern hörte es Tobias und ging zur Stube hinaus.


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