Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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7

Vor zwei Monaten hatte Peter schon als Gast bei Rostows einen Brief von dem Fürsten Fedor erhalten, der ihn nach Petersburg berief zur Verhandlung einer wichtigen Frage, die in Petersburg die Mitglieder einer Gesellschaft beschäftigte, deren hauptsächlichster Gründer Peter war.

Nachdem sie diesen Brief gelesen hatte, wie sie alle Briefe ihres Mannes las, forderte Natalie ihren Mann selbst auf, nach Petersburg zu fahren. Jeder Art von geistiger Tätigkeit ihres Mannes legte sie eine großartige Wichtigkeit bei und war beständig in Angst, diese Tätigkeit ihres Mannes zu stören. Auf den schüchternen, fragenden Blick Peters, nachdem er den Brief gelesen hatte, antwortete sie mit der Aufforderung, zu reisen, und ein Urlaub auf vier Wochen wurde ihm erteilt.

Von der Zeit an aber, wo der Urlaub abgelaufen war, also seit zwei Wochen, befand sich Natalie in einem beständigen Zustand der Angst, Betrübnis und Reizbarkeit.

Denissow, der mit allen Neuerungen unzufriedene General a. D., war in den letzten Tagen angekommen und blickte Natalie verwundert und betrübt an, wie ein schlecht getroffenes Bild eines einst geliebten Wesens. Der weinerliche, betrübte Blick, die verkehrten Antworten und die Gespräche über die Kinderstube war alles, was von dem früheren bezaubernden Wesen übriggeblieben war. Natalie war um diese Zeit immer betrübt und reizbar, besonders, wenn man Peter zu entschuldigen suchte.

»Unsinn! Dummheiten!« sagte sie jetzt über alles, an dessen große Wichtigkeit sie früher fest geglaubt hatte, und sie ging in das Kinderzimmer, um ihren Jüngsten zu stillen.

Nichts und niemand konnte ihr etwas so Beruhigendes, Vernünftiges sagen wie dieses dreimonatige kleine Wesen, wenn es an ihrer Brust lag und sie die Bewegungen der Lippen fühlte. Dieses Wesen sagte: »Du ärgerst dich und bist eifersüchtig und verlangst nach Rache, aber ich bin er, ich bin er!« Darauf war nichts zu antworten, das war mehr als wahr. Natalie kam so oft zu dem Kleinen, um sich zu beruhigen, daß sie ihn überfütterte. Sie war entsetzt über seine Krankheit, aber diese war ihr sogar notwendig, um leichter die Sorge um ihren Mann zu ertragen. Sie nährte eben auch den Kleinen, als draußen der Reiseschlitten knirschend vorfuhr.

»Ist er angekommen?« fragte sie hastig die Kinderfrau, die mit strahlender Miene hereinstürzte.

»Ja, Mütterchen!«

Unwillkürlich rührten sich ihre Beine, aber aufspringen und hinauslaufen durfte sie nicht. Leise nahm sie den Kleinen von der Brust, wiegte ihn, übergab ihn der Amme und ging mit schnellen Schritten ins Vorzimmer hinaus. Denissow kam mit seiner Pfeife aus dem Kabinett und erkannte zum erstenmal Natalie wieder an dem hellen Licht, in dem ihr gänzlich verwandeltes Gesicht erglänzte.

»Er ist angekommen!« rief sie ihm zu, und Denissow fühlte sich auch von ihrem Entzücken angesteckt, obgleich er Peter sehr wenig liebte. Als Natalie auf den Flur hinauskam, erblickte sie eine hohe Gestalt in einem Reisepelz.

»Da ist er! Da ist er!« rief sie, flog ihm entgegen, umarmte ihn, drückte ihn an sich und richtete sich wieder auf, um in sein gerötetes, glückliches Gesicht zu blicken.

»Ja, da ist er glücklich und zufrieden.« Plötzlich aber erinnerte sie sich der Qual der Erwartung, die sie in den letzten Wochen durchlebt hatte, ihr strahlendes Gesicht verfinsterte sich und ein Strom von Vorwürfen und zornigen Worten ergoß sich über Peter.

»Ja, du bist zufrieden! Du hast dich gut amüsiert, aber ich! Du hättest doch wenigstens an die Kinder denken sollen! Ich nähre, und meine Milch verdirbt, Petja war dem Tode nahe, aber du amüsierst dich und bist ganz vergnügt.«

Peter fühlte sich unschuldig. Er wußte, daß dieser unschickliche Ausbruch in wenigen Minuten vorübergehen werde, und seine glückliche, heitere Stimmung litt nicht darunter. Er wollte lächeln, wagte es aber nicht und machte ein betrübtes, erschrockenes Gesicht.

»Ich konnte nicht früher kommen. Aber wie geht's Petja?«

»Jetzt ist's wieder gut. Komm! Schämst du dich nicht? Wenn du hättest sehen können, wie ich mich grämte!«

»Aber du bist doch gesund?«

»Komm! Komm!« sagte sie, und sie gingen in ihre Zimmer. Nikolai und seine Frau kamen, um Peter aufzusuchen und fanden ihn im Hinterzimmer, wo er auf seiner ungeheuren rechten Hand den eingeschlafenen Säugling hielt. Auf dem breiten Gesicht des Kleinen mit dem zahnlosen Mund lag ein heiteres Lächeln. Der Sturm war schon lange verflogen und die helle, freudige Sonne leuchtete auf Natalies Gesicht, das zärtlich Vater und Sohn anblickte.

»Und hast du alles mit Fürst Fedor besprochen?«

»Ja, ganz nach Wunsch.«

»Hast du die Fürstin gesehen? Ist's wahr, daß sie verliebt ist in diesen . . .«

»Ja, kannst du dir das vorstellen?«

Nikolai und Marie traten ein. Ohne den Säugling aus der Hand zu legen, bückte sich Peter, um sie zu begrüßen und zu küssen und ihre Fragen zu beantworten, aber das Kind nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.

»Wie niedlich!« sagte die Gräfin Marie. »Siehst du, das begreife ich nicht, Nikolai, daß du dafür keinen Sinn hast!«

»Ein Stück Fleisch!« sagte Nikolai mit einem kühlen Blick. »Komm, Peter.«

»Und er ist doch ein so zärtlicher Vater«, sagte Gräfin Marie, um ihren Mann zu rechtfertigen, »aber erst, wenn sie ein Jahr alt sind.«

»Mein Peter versteht sie sehr gut zu hätscheln. Er sagt, seine Hand sei geschaffen, um Kinder zu wiegen.«


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