Leo N.Tolstoi
Krieg und Frieden
Leo N.Tolstoi

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Der Schauplatz des schnell entbrennenden Krieges näherte sich den russischen Grenzen. Überall hörte man Verwünschungen des Feindes des Menschengeschlechts, Bonaparte. In den Dörfern wurden alte Soldaten und Rekruten ausgehoben und vom Kriegsschauplatz kamen widersprechende Ansichten.

Im Leben des alten Grafen Bolkonsky, des Fürsten Andree und der Fürstin Marie hatte sich seit dem vorigen Jahr vieles geändert. Der alte Fürst war zu einem der acht Oberkommandierenden des Landsturms ernannt worden. Trotz seines Alters und seiner greisenhaften Schwäche, welche sich besonders seit jener Zeit bemerkbar machte, wo er seinen Sohn für tot gehalten hatte, hielt er sich nicht für berechtigt, sich von diesem Dienst zurückzuziehen, zu dem er vom Kaiser selbst ernannt worden war, und diese neue Tätigkeit belebte und kräftigte ihn. Er fuhr beständig in den ihm unterstellten Gouvernements umher, war pedantisch pünktlich in seinen Obliegenheiten und streng bis zur Grausamkeit gegen Untergebene. Fürstin Marie erhielt keine Lektionen in der Mathematik mehr, besuchte aber morgens ihren Vater, wenn er zu Hause war. Der kleine Fürst Nikolai wohnte mit seiner Amme Sawischna in den Zimmern seiner verstorbenen Mutter, und die Fürstin Marie brachte den größten Teil des Tages im Kinderzimmer zu, um dem kleinen Neffen die Mutter zu ersetzen, so gut sie konnte. Auch Mademoiselle Bourienne schien den Kleinen leidenschaftlich zu lieben.

Bald nach der Rückkehr des Fürsten Andree hatte der alte Fürst eine Vermögensteilung vorgenommen und ihm das große Gut Bogutscharowo, vierzig Werft von Lysy Gory entfernt, übergeben. Die traurigen Erinnerungen und die Schwierigkeit, mit dem Charakter des Alten auszukommen, sowie das Bedürfnis nach Einsamkeit veranlaßte den Fürsten Andree, sich in Bogutscharowo niederzulassen, wo er meist seine Tage verbrachte.

Am 26. Februar 1807 machte der Alte wieder eine Fahrt im nächsten Landkreis, und Fürst Andree blieb in Lysy Gory, wie fast immer während der Abwesenheit seines Vaters. Sein kleiner Sohn war schon seit vier Tagen unwohl. Der Kutscher, welcher den alten Fürsten zur Stadt gefahren hatte, kehrte zurück und brachte Zeitungen und Briefe für den Fürsten Andree, welcher im Kinderzimmer saß und mit zitternden Händen Tropfen aus einer Medizinflasche in ein Glas zählte, das halb mit Wasser gefüllt war.

»Was gibt's?« rief er ärgerlich und eine größere Menge Tropfen floß in das Glas. Er goß es auf den Fußboden aus und begann wieder die Tropfen zu zählen. Im Zimmer stand ein Kinderbett, einige Stühle und ein Tisch, sowie ein Kindertisch mit einem Stühlchen, auf welchem einst Fürst Andree gesessen hatte. Die Fenster waren verhängt. Auf dem Tisch brannte eine Kerze hinter einem Notenheft, das als Lichtschirm diente.

»Höre, Andree«, sagte Marie vom Bettchen her, an dem sie stand, »es ist besser, noch zu warten . . . später!«

»Ach, Unsinn! Immer warten und warten«, flüsterte Fürst Andree. Es war schon die zweite Nacht, daß die beiden nicht schliefen und bei dem fiebernden Kleinen wachten. Fürst Andree traute seinem Hausarzt nicht, und während er einen Arzt aus der Stadt erwartete, wurde bald dieses, bald jenes Mittel versucht. Ermüdet von den schlaflosen Nächten wälzten sie einander ihren Kummer und ihre Vorwürfe zu und zankten sich.

»Der Kutscher ist mit Briefen angekommen«, flüsterte das Dienstmädchen. Fürst Andree ging hinaus.

Der Kutscher überbrachte ihm einen mündlichen Auftrag von dem alten Fürsten. Andree nahm die Briefe und Karten und kehrte in das Kinderzimmer zurück.

»Nun, wie ist's?« fragte er.

»Immer noch wie bisher. Warte noch«, um Himmels willen! Karl Iwanitsch hat immer gesagt, der Schlaf sei das Kostbarste!« flüsterte Marie seufzend.

Fürst Andree ging zu dem Kinde und befühlte es. Es glühte.

»Geh mir mit deinem Karl Iwanitsch!« Er ergriff das Glas mit der Medizin.

»Andree, laß es!« sagte Fürstin Marie.

Aber er sah sie zornig an und beugte sich zu dem Kind herab. »Ich will es aber«, sagte er, »ich bitte dich, gib es ihm!«

Marie zuckte mit den Achseln, ergriff aber gehorsam das Glas, rief die Wärterin herbei und gab dem Kinde die Medizin. Es schrie und röchelte. Fürst Andree faßte sich in die Haare, verließ das Zimmer und setzte sich im Nebenzimmer auf den Diwan. Dort öffnete er die Briefe und begann zu lesen. Der alte Fürst schrieb mit großen, langen Buchstaben folgendes: »Eine sehr freudige Nachricht ist durch den Kurier eingetroffen. Bennigsen hat bei Eylau einen vollen Sieg über Napoleon errungen. In Petersburg ist alles in Jubel. Wenn er auch ein Deutscher ist – ich gratuliere ihm! Wenn sich nicht Unberufene einmischten, so hat auch ein Deutscher den Bonaparte geschlagen. Man sagt, er sei in die Flucht gejagt.« Fürst Andree öffnete einen andern Brief. Es waren zwei engbeschriebene Blätter von Bilibin. Er las ihn, ohne auch nur die Hälfte zu verstehen, nur um auf einen Augenblick die Gedanken zu vergessen, die ihn schon lange quälten. Bald aber las er mit steigendem Interesse. Doch plötzlich zerknitterte er den Brief und warf ihn weg. Nicht was er las, erregte seinen Zorn, sondern daß die dortigen Vorgänge, diese ihm jetzt fremde Welt, ihn noch erregen konnten. Er schloß die Augen und wischte seine Stirn ab. Plötzlich glaubte er einen eigentümlichen Laut im andern Zimmer zu vernehmen; eine Angst befiel ihn, er ging auf den Zehenspitzen an die Tür des Kinderzimmers und öffnete diese. Marie stand nicht mehr am Bettchen.

»Andree!« flüsterte Marie, wie er glaubte in verzweifeltem Tone. Wie es nach vielem Nachtwachen und langer Aufregung vorkommt, befiel ihn eine grundlose Angst; er glaubte, das Kind sei im Sterben.

»Alles ist aus!« dachte er und kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Er trat an das Bettchen, überzeugt, daß er es leer finden werde, öffnete den Vorhang und erblickte das gerötete Gesicht des Knaben, welcher sich quer über das Bettchen gelegt hatte, im Schlaf schmatzte und gleichmäßig atmete. Fürst Andree war erfreut, als ob er den kleinen Sohn schon verloren hätte. Die kleine Stirn war feucht, auch die Haare waren naß, so stark schwitzte der Kleine. Er war nicht im Sterben, sondern im Gegenteil, eine Krisis war eingetreten, welche die Wendung zur Genesung herbeiführte. Er wollte das kleine hilflose Wesen an die Brust drücken, wagte es aber nicht. Neben sich vernahm er ein Rauschen und erkannte Marie, die mit leisen Schritten sich dem Bettchen genähert hatte. Fürst Andree streckte ihr die Hand entgegen, die sie drückte.

»Er liegt im Schweiß«, sagte sie. »Ich war zu dir gegangen, um es dir zu sagen.« Das Kind lächelte im Schlaf und wischte die Stirn am Kissen ab. Fürst Andree blickte die Schwester an; in ihren Augen glänzten Freudentränen. Sie umfaßte den Bruder und küßte ihn, dann drohten sie einander mit dem Finger. Fürst Andree verließ zuerst das Bettchen. »Das ist das einzige, was mir noch geblieben ist«, sagte er mit einem Seufzer.


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