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Götterfahrt

Es regnet wieder, der Wald trieft von Wasser. Unmöglich, das Haus zu verlassen. Ich versuche zu arbeiten.

Doch ist »arbeiten« zu viel gesagt oder zu wenig. Arbeit setzt ein Pensum voraus, etwas »Zugewogenes«: morgens findet man es in der Wage vor, und abends muß die leere Schale so weit gefüllt sein, daß sie mit der andern, darin die Gewichte liegen, in der Gleiche schwebt. Das ist die schöne Form der Arbeit, ihr Rhythmus hat etwas geheimnisvoll Wohltuendes für den Menschen – vielleicht weil er sich damit in ein Gesetz einfügt, mit dem, bis in die hinterste Ecke des unsern Blicken erreichbaren Raumes, alles Geschaffene zweifellos Tritt hält. Jacquot, Grether Fritz und Kathrin mit Sonne, Mond und Sternen. Auch unsre Katzen. Und die verdammten Wühlmäuse, die zwei junge Pfirsichbäume im Garten abgesägt haben, köstliche Venusbrust-Pfirsiche, ein Geschenk Vetter Leos, dieses bedeutendsten Pomologen unter den Generalen.

Dann gibt es aber auch Arbeit, die weder eine Zeiteinteilung noch eine andre Grenze kennt als den Tod – wilde Stunden- oder Jahresrennen, bei deren Beginn die Gewichte der Uhren ausgehängt werden. Man sieht nicht ab, was einem zugemessen, man strömt sein Blut in Schweiß aus und hört es tropfenweise in die dunkle Schale fallen. Wir Kinder der Zeit kennen alle Arbeit, deren ein Mensch fähig ist ... Wir haben sie alle getan. Unsere Nachfahren können uns nur übertreffen, wenn sie die Arbeit verlernen. »Der Fortschritt,« sagte Vetter Leo damals in Breuschheim, »der Fortschritt ist ein Rosenkranz, er geht im Kreise.«

Was nun meine Arbeit anbelangt, so gehört sie zur ersten Art durch die Befriedung des Gewühls in meiner Brust, die ich von ihr erhoffe, zur zweiten durch die Ferne und Ungewißheit des Ziels. Ich versuche, mich aus den Trümmern einer Welt herauszuarbeiten, mit nichts als einer kleinen Feder. Die Arbeit begann, als ich mich zu meiner eigenen Überraschung hinsetzte, um an Maria zu schreiben, und jetzt muß ich fortfahren – bis zu irgendeinem Ende.

Wenn ich aufblicke, sehe ich das Bildnis Ulrici auf der einen Seite der Tür, auf der andern die Kopie nach dem Erasmus des jüngeren Holbein.

Diese hat Ulrich eigens für sich anfertigen lassen, aus Verehrung für den göttlichen Mann, versteht sich, aber wie ich muß auch er, mehr noch als die Gegenwart des Meisters, den tief beruhigenden Einfluß des Bildnisses empfunden haben, der wahrlich an Wachhypnose grenzt. So daß ich, stelle ich mir meinen Urgroßvater am Schreibtisch vor, in seiner sanguinischen Gestalt wie eine Spiegelung den zarten Umriß des schreibenden Erasmus zu erkennen meine. Sollte ich nicht am Ende, wie ich nun selber hier am Schreibtisch sitze, einer durchsichtigen chinesischen Schachtel gleich das Bild meines Urgroßvaters mitsamt dem darin beschlossenen Erasmusschatten enthalten? Wir alle verwahren wohl solche Schutzpatrone im Leib, blutsverwandte und andre, eine Unsumme Geist von längst Verstorbenen, uns Verbündeten und von Widersachern, deren innerste Kraft, durch uns vermehrt oder geschwächt, wir weiterleiten in jene tapferste, jene ohnmächtigste unserer Vorstellungen, die wir voll Selbstbewußtsein Ewigkeit nennen.

Sicher ist indes nur, daß ich mit Ulrich die Vorliebe für die Mythologie gemein habe. Ich besitze sein Gebetbuch, durch das mythologische Gestalten im Geschmack des 18. Jahrhunderts tanzen. Oberhalb und unterhalb eines jeden. Abschnittes schließen sich die Figuren zu lebhaften Szenen zusammen, und diese wie auch die Gestalten haben mit dem Inhalt des Kapitels auf keine als nur vielleicht eine heidnisch-okkulte Weise zu schaffen. Seine Vorliebe für körperlich beschwingte Interpretationen des Geheimnisvollen hinderte Ulrich nicht, katholisch zu leben und zu sterben, ja, ich bin gewiß, er empfand die kitzlige und tragische Nachbarschaft von Heidentum und Christentum keineswegs als ein bloßes, müßiges Gedankenspiel.

Als Junge wußte ich noch nichts von Urgroßvaters lustigem Gebetbuch. Hätte ich es aber zu Gesicht bekommen, ich wäre nicht im geringsten erstaunt gewesen.

Hatte mir doch die Vorsehung, wie vom seligen Ulrich selbst beraten, einen Freund bestellt, der, in der Kunst des Zeichnens geschickt, wohl gar imstande gewesen wäre, selbst solch ein Gebetbuch herzustellen. Er hieß: l'Abbé Simon und war mein Hauslehrer.

Bei der ersten Berührung mit der Mythologie bemerkte der Abbé mein Entzücken. Es rührte daher, daß plötzlich ein farbiger und bewegter Sommer in der heiligen Geschichte für mich ausbrach; meine Phantasie vergaß die Kopfhängerei und sprang über die Hecken, wo sie auf andre Kinder stieß und sogar auf Erwachsene, die den Zeigefinger nicht gebrauchten, um ihn als pedantische Propheten vorwurfsvoll aufzuheben, sondern die damit auf Schmetterlinge und, wahrhaftig, auf goldene Äpfel zeigten. Hinter jenen jagte man nun lachend her, diese stahl man still von den Bäumen. Überall waren Götter und Göttinnen in der Nähe, die es auf ihre Weise nicht anders trieben ... Der Abbé sprang mit, und er sprang gut. Da er sich einer hohen, hageren Gestalt erfreute, konnte ich, auf seinen Schultern reitend, sogar bis zu den Früchten der Birnbäume reichen; an die Apfelbäume kam man mit einem Luftsprung heran. Die Bäume dröhnten wie eine Sonnenorgel. Den ganzen Tag war Gottesdienst, der ganze Tag war heilige Geschichte, im leichten, sauberen Sinne von Ulrici Gebetbuch.

Ist es unter solchen Umständen verwunderlich, wenn ich bei meiner ersten Reise nach Venedig bald hinter Mailand auf mythologische Gestalten stieß?

Die Reise kam völlig überraschend, nicht nur für mich, nein, auch für die Rheinweilener Tante, denn wir waren nur nach Basel gefahren, damit ich, wie sie sagte, mein »Feriengefühl vertiefe«, was alljährlich durch Besuch des Zoologischen Gartens, des Museums, der Konditoreien und »etwas Hotelleben« geschah. Vom Hotelleben behagte mir am meisten das tägliche Vollbad. In Rheinweiler mußte ich es nämlich entbehren, weil meine Tante aus vielen Gründen, von denen ich allenfalls den einzigen unausgesprochenen, ihren Geiz, gelten ließ, die Verabreichung eines Vollbades an ein Kind für Erziehung zum Größenwahn erklärte und mir nur den Genuß einer nicht einmal halbgefüllten Wanne gestattete. Das nannte Tante Sidonia, mit englischer Aussprache, aufmunternd ein »Plantsch-Plantsch«.

Die Ferien, die ich in Rheinweiler verbracht, gingen also ihrem Ende zu, und weil ich unter der Führung der Tante in der Gutswirtschaft wieder einmal brav hatte »regieren« gelernt (von welcher Kunst man ihrer Meinung im »demokratischen« Breuschheim »nicht die ersten Buchstaben des Alphabets« verstand), sollte ich belohnt werden und mich in einer großen Stadt wie Basel »austoben« dürfen. Im Museum und im Zoologischen Garten war ich gewesen, auch in einigen Konditoreien, von denen mir die ganz dicht am Rheinufer gelegene Spielmannsche am besten gefiel, weil man in den geraniengesäumten Kojen wie auf einem Dampfer saß und, gemischtes Eis mit Schlagsahne schlürfend, geradezu glorreich den Rhein hinabfuhr, am Nachmittag aber sollten wir zu noch höherem Ziele aufbrechen. Dieses Ziel hatten wir bei der Rückfahrt vom Zoologischen Garten entdeckt, als wir am Zirkus der Familie Knie vorbeigekommen waren, von der Tante Sidonia voller Hochachtung zu erzählen wußte, sie, das heißt die Familie Knie, habe vielleicht schon im kaiserlichen Rom Zirkus gespielt, so alt sei sie. »Die Familie Knie, das ist bester, alter Zirkusadel. Claus, das mußt du sehen! Nach dem Tee fahren wir hin.« So sagte sie, und ich stimmte laut den Triumphmarsch aus Aida an, in den Donja summend einfiel. »Schade, daß deine Mutter nicht da ist«, sprach sie dann. »Sie war auch schon bei Knie ... Claus, halte den Mund, die Leute schauen uns nach, man kennt mich in Basel.«

Nach dem Tee brachen wir auf. Wir steckten in der Windtür, die uns aus der Hotelhalle ins Freie schob, da wurde sie angehalten, und wir fühlten uns mit Gewalt ins Innere zurückgedreht. Was war los? Der Portier händigte Tante Sidonia eine Depesche ein. O weh! Der rote Streifen verriet ihre Dringlichkeit. Ich überlegte, ob ich sie unterschlagen hätte, wenn sie in Tante Sidonias Abwesenheit in meine Hände gelangt wäre.

»Öffne du sie!« befahl sie. Abergläubisch, wie sie war, traf sie für den Fall, daß die Depesche eine schlechte Nachricht enthielt, die entsprechende Vorkehrung des »Blitzableiters«.

Nach dieser wissenschaftlichen Theorie leitet ein unschuldiges Kind den Blitz vom bedrohten Haupte ins Wesenlose ab.

Ich öffnete, wie mein Vater Depeschen zu öffnen pflegte: langsam, Falte um Falte, mit mürrischem Gesicht nach dem Aufgabeort spähend – denn ich befürchtete, ich würde heute noch heimgerufen, weggerafft von der Schwelle des Zirkus.

»Rheinweiler von Venedig – « las ich, und weiter kam ich nicht. Tante Sidonia hatte mir das Papier aus der Hand gerissen, und da stand sie, in der einen Hand die Depesche, die andre, krampfhaft geballte gegen das Herz gedrückt. Alles Blut schien ihr mit eins in den Kopf geschossen, nur die Lippen waren weiß und zitterten armselig. Sie streckte die Hand aus, als wollte sie mir die Depesche reichen, ließ sie aber gleich wieder sinken. »Donja«, flüsterte ich mit einem halben Schluchzen, und endlich wurde ihr bewußt, wo sie sich befand, sie fuhr mit dem ganzen Körper herum, und richtig, der Portier stand hinter seinem Tisch und betrachtete uns, sichtlich erschrocken. Auch ein paar Hotelgäste schauten zu uns herüber, und ein alter Herr rang sich gerade von seinem Sessel auf, um der Tante zu Hilfe zu eilen. Inzwischen hatte sich diese zum zweitenmal verändert, als wäre sie mit der jähen Bewegung um ihre Achse in ihre frühere Gestalt zurückgekehrt. Sie nickte dem alten Herrn einen Dank zu und sagte, indem sie mir über das Haar strich: »Bitte, warte einen Augenblick, bin gleich wieder da.«

Als jedoch der Fahrstuhl, der sie hinaufgebracht hatte, zurückkam, stürzte der Liftjunge aufgeregt auf mich zu und bestellte mich auf Tantes Zimmer. Ich fand sie, wie sie, in Tränen aufgelöst, am runden Tisch in der Mitte des Zimmers saß, die Hand auf der Rückseite der Depesche, hilflos in ihrem Fleische und in ihren Gedanken.

»Claus, es ist sicher eine ganz, ganz schlimme Nachricht. Lies du sie erst, dann tut sie mir nicht mehr weh. Claus, du mußt sie lesen«, flehte sie.

Kaum streckte ich aber die Hand aus, da warf sie sich mit beiden Armen über den Tisch und begrub die Depesche unter sich.

»Es geht nicht,« murmelte sie geschlagen, »Claus, es geht nicht. Bitte, laß mich allein«.

Jetzt glaubte ich meinerseits etwas Auffallendes unternehmen zu müssen, um so mehr, als ich selbst die Tränenflut in mir bis zum Springen gestaut fühlte. Ich schielte nach der Wasserkaraffe auf dem Waschtisch – ich hatte gehört, daß selbst Ärzte gelegentlich zu solch einem Mittel griffen. Da ich indessen nicht sicher war, ob ich den Weg zum Waschtisch in guter Form zurücklegen würde, noch das Vertrauen in meine Hände besaß, daß sie die erwogene Taufe aus der Karaffe mit der gebotenen Ruhe und Überlegenheit des Mannes gegenüber dem Weibe auch richtig vollzögen, kurz, aus Angst, aus hilfloser Angst schrie ich statt dessen aus Leibeskräften los.

»Lies doch deine Depesche selbst, du Gans! Was gehn denn mich deine Geheimnisse an!«

Und dann schlug ich hinter mir die Türe zu, genau wie mein Vater, wenn er einmal den unbeholfenen Versuch gemacht hatte, mich zu züchtigen.

Allerdings empfand ich das Türschlagen als die denkbar größte Strafe, und ich hätte es vorgezogen, geprügelt zu werden, wenn nur dafür das Zuschlagen der Tür unterblieben wäre ... Aus meinen Alpträumen fuhr ich auf das Signal einer zugeschlagenen Tür empor, hörte ich irgendwo auf der Straße, wie in einem Hause eine Tür zuschlug, wurde mir übel. Der Begriff »Mord« hatte irgendwie etwas mit einer zugeschlagenen Tür zu tun, und es war noch nicht allzu lange her, daß ich das Türzuschlagen in einer Reihe gedämpfter, aber nicht schwächer werdender Echos vernommen hatte: – ich stand, von der Hand des Vaters festgehalten, am offenen Grabe der Großmutter und hörte die kleinen Schaufeln Erde auf den Sarg fallen ... Ich nahm die hingehaltene Schaufel nicht an, wohl aber warf ich meinem Vater einen derart haßerfüllten Blick zu, daß er vor Überraschung meine Hand losließ und ich entwischte. Daran dachte ich jetzt, als ich über den Korridor schritt, mit bebenden Knien, die Ohren von einem Sausen erfüllt und maßlos erstaunt, weil diesmal ich es gewesen, der eine Tür zugeschmettert. Darauf stellte ich fest, wieviel leichter es sei, so etwas zu tun, als zu erleiden, und dann mußte ich unbändig über das erstaunte Gesicht lachen, das die Tante vom Tisch erhoben hatte, mit Tränen, die plötzlich auf den Wangen stillgestanden, ich lachte krampfhaft, in irrer Scham und Trauer, ich lehnte mich mit der Stirn gegen die mit dunklem Holz beschlagene Mauer der Treppe, bis es vorüber war und ich eine Erleichterung empfand wie nach Beichte und Absolution. Und irgendwie wollte mich dünken, als ob auch Sidonia in ihrem Zimmer nunmehr erleichtert und befreit sei.

In der Halle bestellte ich eine Zitronenlimonade, zur Feier dessen, daß die Depesche nicht aus Breuschheim gekommen, und auch, um den ersten Beweis männlicher Entschlossenheit zu belohnen, wie er mir soeben unversehens geglückt war. In dieser Richtung fortfahrend, ließ ich mir durch den Liftjungen von Meyers Konversationslexikon, das auf einem Regal in der Portiersloge stand, den Band mit »Venedig« bringen und las. So, wohlig in den Sessel gelehnt, das dicke Lexikon auf der Lehne und das Glas mit der Zitronenlimonade in der Hand, sah ich die Tante auf mich zukommen. Ich erhob mich mit einer ganz neuen Art von Höflichkeit. Wenig fehlte, und ich hätte ihr die Hand geküßt, nur, um es zum erstenmal mit dem richtigen Gefühl für Abstand und Courtoisie zu tun, wie die Großen.

»Mein Herr Neffe,« sagte sie halblaut, »Sie haben sich aufgeführt wie ein Lümmel. Die Abrechnung folgt später. Jetzt...«

Jetzt wurde ich nach Hause geschickt! Ich war im Begriff, alle Fassung zu verlieren, schnell unterbrach ich sie.

»Tante,« flüsterte ich mit heißem Atem, »Tante Donja, Sie haben sich viel zu stark gepudert. Sie sind ganz weiß im Gesicht.

Es klang ein wenig kläglich, ich hörte es, und der Zorn darüber klopfte mir in der Brust. Ein Achselzucken, und Sidonia fuhr fort:

»Jetzt gehn Sie sofort in Ihr Zimmer und packen Ihren Koffer. Wir fahren in einer Stunde nach Venedig. Ich telegraphiere inzwischen Ihrem Vater.«

Da saß ich. Ich saß gleichsam auf dem Boden und sperrte den Mund auf. Aber ich fand nicht die Zeit, es zu bemerken, denn ohne die geringste Rücksicht auf die Anwesenden schrie ich: »Hurra!« Voll barbarischen Selbstgenusses schrie ich, so, wie sie in der Schule schrien, wenn wir zum erstenmal Hitzferien bekamen (doch hatte ich, muß ich gestehn, an solchem Geschrei niemals teilgehabt, es vielmehr mit nachsichtigem, nur ein klein wenig verächtlichem Lächeln abgelehnt) und stürmte die Treppe hinauf in mein Zimmer.

Eine Stunde später saßen wir im Zug.

Alle meine Versuche, den Groll Tante Donjas (dies der Kosename, den ich ihr als Kind gegeben) mit meiner guten Laune zu überrennen oder auch ihre Fremdheit mit meinem stillen, heftigen Dasein zu versüßen, alle Versuche erwiesen sich als verfehlt. »Sie haben sich benommen wie ein Lümmel«, wiederholte sie. Gut. Ich gab es zu:

»Ja, wie ein grober Lümmel. Tante, Sie haben recht.«

Seitdem sie böse auf mich war, sprach sie Französisch, und französisch war es leichter einzulenken.

»Einer Dame gegenüber!« betonte sie.

»Ich bitte Sie um Verzeihung, Tante.«

Sie schüttelte den Kopf.

»So billig kommen Sie nicht davon. Sie sind ein Scheusal, mein Lieber.«

Ich wollte sie fragen, warum sie mich denn dann mit sich nach Venedig nähme, wenn ich ihr gar so verhaßt wäre. Statt dessen rief ich:

»Ach, liebe Donja, Sie sind ja so hübsch! Und war es vielleicht eine schlechte Nachricht, die Sie da erhalten haben? Nein, eine gute! Und Sie sind ja so froh!«...

Wir hielten gerade in einer Station. Neben unserm Wagen lag ein großer, unbehauener Stein.

»Siehst du diesen Stein?« rief ich deutsch, denn mein Einfall schien mir der großmütigsten Verzeihung wert. »Der ist dir vom Herzen gefallen.«

Statt aller Antwort wandte sie sich an eine ältere Dame, die mit uns im Abteil saß:

»Madame, darf ich Sie etwas fragen? Würden Sie es für möglich halten, daß dieser junge Herr hier mich vor zwei Stunden eine Gans genannt hat?«

Entrüstet sprang ich auf. Zwar vermeinte ich hinter mir ein gepreßtes Lachen zu hören, aber das wäre für meinen gekränkten Stolz unerträglich gewesen – ich vergaß es auf der Stelle und ging durch die Gänge bis in den Schlafwagen, wo ich das untere Bett meiner Kabine von einem freundlichen Monsignore belegt fand. Nun, mit den geistlichen Herren kannte ich mich aus. Wir hatten sogar welche in der Familie.

»Soso?« empfing mich dieser hier und ergriff, ohne sich zu erheben, meine Hände. Er sprach ein gebrochenes Französisch, und da ich nach Venedig fuhr, erriet ich in ihm sofort den Italiener.

»Das ist also mein kleiner Schlafkamerad. Wie heißt du denn?«

Ich nannte meinen Namen. Der Monsignore nickte feierlich.

»Und du bist der Neffe des hochwürdigsten Herrn Erzbischofs von Freiburg.«

»Großneffe«, verbesserte ich.

»Richtig, Großneffe. Und du hast auch schon die erste heilige Kommunion empfangen?«

Ich hätte gern gewußt, wieso ihm denn das alles so geläufig wäre, aber ich wagte nicht, an einen Monsignore eine Frage zu richten, die leicht die fahrlässige Sünde der Neugier hätte einschließen können – bei einem Kinde, wohlgemerkt. Wenn Erwachsene Neugier an den Tag legten, so taten sie es aus Pflicht, wenn nicht in Verfolgung tieferer Pläne. Auch stellten sie oft Fragen, auf die sie selbst nur zu gut Antwort wußten, Fragen, die Fallen waren. Das kam, weil sie furchtbar zusammenhielten. Die Kinder dagegen standen auf sich allein. Wäre ich etwa imstande gewesen, Seine Hochwürden zu fragen: »Sind Sie nicht der Monsignore Soundso?« Übrigens – ein Monsignore war ein Monsignore, er steckte in einer violett geränderten Soutane und wartete darauf, Bischof in partibus infidelium zu werden. So viel wußte ich, und nach mehr fragte ich nicht.

»Ja, ja,« nickte der Monsignore lächelnd, »die Kirchenleute wissen alles.«

»Würden Eure Hochwürden die Gnade haben, meine Hände loszulassen?« fragte ich.

Er lachte auf.

»Ich schwitze, nicht wahr, ich schwitze«, und er wollte nach einem großen gelben Taschentuch greifen, das neben ihm lag. Aber da hatte ich schon seine Rechte ergriffen und sie in schmeichelnder Demut geküßt, genau so, wie es mir in der Hotelhalle bei der Tante nicht geglückt war.

Der Monsignore war tief erstaunt, fast erschüttert. Mit Bärenkräften ergriff er mich und küßte mich auf die Wangen.

»Allen Respekt! Ein Kavalier!« meinte er.

Und dieses, einem gewaltig starken und allwissenden Monsignore abgerungene Geständnis machte ihn mir zum Freund. Als wir zum Abendessen gingen, hätte er gern an meinem Tische Platz genommen, auch die von Sidonia als Schiedsrichterin angerufene Dame trennte sich ungern von ihr, aber die Nummern unsrer Billette, die sich Sidonia bereits vor Abfahrt unseres Zuges in Basel hatte einhändigen lassen, wiesen uns beide an einen kleinen Tisch. Stumm und stolz aß ich, soviel ich bekam. Bisweilen streifte ich mit einem höflichen Blick das Gesicht der Tante. Sie lächelte über mich hinweg ihrer Dame zu. Bisweilen auch ließ sie ihren Blick hoheitsvoll auf mir ruhn. Ich lächelte, an ihr vorbei, meinen Monsignore an. Ernsthaft überlegte ich, ob ich ihn nicht nach Tisch den Damen als meinen Schiedsrichter vorbringen sollte. Doch war ich des Ausgangs eines so kühnen Unternehmens nicht gewiß genug, vielmehr wollte es mir scheinen, als ob es in meinem Vorteile läge, wenn die beiden Parteien getrennt blieben.

»Wir legen uns gleich schlafen«, erklärte Sidonia, wie ich gerade das letzte Stück meiner dritten Orange in den Mund schob. »Übrigens könnte man meinen, daß du daheim nicht genug zu essen bekommst.

»Bekomme ich auch nicht!« versicherte ich.

Sie blieb ernst.

»Bist du jetzt satt?«

»Nein!«

Da sah ich es nun doch wieder um ihre Schläfen zucken und in ihren Augen wetterleuchten, ich sah es wieder, das Licht, das seit ihrer Rückkehr in die Halle hinter der strengen Maske umging, aber wiewohl ich sie beim Abschied aufs Ohr überfiel, es küßte und hineinflüsterte: »Schön bist du, Tante Donja, wirklich schön – wie ein junges Mädchen!« (ich war ihr ja so selig dankbar für den länderüberfahrenden Zug, den Speisewagen, den Schlafwagen, den Monsignore, vom fernen Venedig ganz zu schweigen!) wiewohl ich sie auch noch am andern Ohr packte und etwas hineinsagte, was mich ihr als einen um seinen Anteil am Glück geprellten Mitverschworenen empfehlen sollte, nämlich: »Du hast gut grollen, du denkst an die gute Nachricht und an Venedig«, trotzdem ich, an ihr hängend, plötzlich fühlte, wie ihre Starrheit sich unter mir löste, gelang es mir an diesem Abend nicht, ihre Verzeihung zu gewinnen.

»Energisch bist du, sagt die Mutter«, rief ich aus, aber so, daß der Hohn wie eine Liebesklage sang, und wünschte ihr, mit wehmütig sieghaftem Anstand, eine gute Nacht. Sie bewohnte natürlich ihre Kabine allein, während ich (»Plantsch-Plantsch!«) zweiter Klasse schlief.

Der Monsignore saß, schon halb entkleidet, auf dem Bett und las in seinem Brevier. Als ich eintrat, klappte er das Buch zu und half mir unter vergnügten Reden aus den Kleidern. Jedoch duldete er nicht, daß ich Hemd und Unterhose gegen den Schlafanzug vertauschte, den er verwundert musterte und dann weglegte. »Man kann nicht wissen, was passiert, und dann bist du nackt«, sagte er. Damit wir aber diese Nacht nicht entgleisten, mußte ich mit ihm niederknien und laut den Englischen Gruß beten. Ich betete deutsch, er, um mir näher zu sein, gleichzeitig französisch, denn das Italienische verstand ich nicht, und ich war gewohnt, mit meiner Mutter deutsch zu beten. Dann hob er mich auf das obere Bett, klopfte das einzige Kissen, verpackte mich in die Decke.

Beim Einschlafen fiel mir ein, wie wir den Englischen Gruß ganz und gar zusammen hätten sprechen können – wir hätten ihn nur lateinisch zu beten brauchen! Es tat mir leid, nicht rechtzeitig daran gedacht zu haben.

Als ich erwachte, war es Tag, und ich lag allein in der Kabine. Hurtig kletterte ich von meinem Bett, zog den Vorhang auf – »Au!« entfuhr es mir. Ich rieb die Augen. Wir schienen sehr schnell durch einen blendend blauen, dabei tiefdunklen Himmel zu fahren, gleichzeitig aber war es, als ob wir stillständen. Dann erkannte ich eine fächerförmige Fläche, sie war unnatürlich grün und drehte sich langsam, jedoch immer nur ein Stück weit; noch hatte sie nicht einen Halbkreis beschrieben, als sich schon eine andre, gleiche Fläche vorschob, die begann dieselbe Bewegung von vorn und so fort. Bäume, Häuser, Bäche, Straßen glitten auf der seltsamen Drehscheibe vorbei, nur die in einem rosalila Dunst entrückten Berge standen fest. Ein Seespiegel blitzte auf, wir zerrten vergeblich an ihm, auch ihn mußten wir liegen lassen. Doch hatte er, ein Funken im Helldunkel von Erde und Himmel, gezündet. Die ganze Weite flammte auf.

Das also war, stellte mein kleiner, aufjubelnder Körper fest (die Hände im sausenden Luftzug, den Kopf mit den schauenden Augen in den Nacken gelegt, den Mund gierig geöffnet) das also war Italien, war Griechenland! Denn so, wie ich sie als Zwillingsschwestern kannte, galten sie mir gleich. Rasch folgten die Wappenzeichen: die Zypresse, die Rebe am steinernen Spalier, blühende Mandelbäume, einen Hügel krönend die feste Stadt, die auf grüne Hänge weiße Terrassen auswarf, mit ihren Kirchtürmen indes an den Himmel gespießt war, grelle Platanen in schattenversunkenen Garten, auftauchend ein Palast, Wanderstraßen durch üppige Felder, die in der Morgensonne schwammen ... Ich stieß den Warnungsruf der Breuschweilener Räuberbande aus, um mich dem großen Pan bemerkbar zu machen. Da brachen drei Kühe, die Büffeln glichen, entsetzt durch die Reben, und gleichzeitig tauchte aus einem Maulbeerbaum ein halbnackter Junge; er riß das Maul auf und drohte dem Zuge mit der Peitsche.

In einer Minute war ich gewaschen, in zweien angezogen und eilte nun zu sehn, was im Innern unseres rasenden Zuges alles los sei ... Als ich nach dem Hut griff, flatterte ein Blatt heraus, ich fing es im Flug, erkannte in ihm, ohne es näher zu betrachten, ein Muttergottesbild mit Spitzenrand, wie man es in Gebetbücher legt, dachte, der verschwundene Monsignore habe es mir zum Andenken dagelassen (zu Hause besaß ich ein halbes hundert solcher Geschenke), steckte es in die Brusttasche und trat in den Gang.

Ich trat in den Gang. Vier Gestalten hielten sich darin auf. Rechts von mir ragte ein gebieterischer Herr, dessen Kopf auf zwei roten Nackenwülsten ruhte, und dieser Herr blitzte durch ein Monokel in das Rosengesicht einer wohlgestalteten Göttin. Diese aber ließ ihre Augen, an mir vorbei, den Gang hinunterlaufen, wo ein junger Gott und ein Mädchen am Fenster verweilten. Von dem Mädchen sah ich vorerst nur den Kopf. Der war so schwarz wie eine Elster, gleichsam gefirnißt, mit einem leuchtend schwarzen Schein über einen stumpferen Grund. Der junge Mann hatte ähnliches, ebenfalls glattgestrichenes Haar. Es saß ihm, noch naß von der Morgentoilette, wie eine schwarze Kappe auf dem Kopf. Er trug einen langen Pelz, vom Schnitt eines Bademantels, und blaue Pantoffel. Über das schmale, blasse Gesicht huschte, von den Wimpern bewegt, ein Schattenspiel. Er blickte lächelnd auf die Kleine hinab. Der Mund hielt sein Lächeln wie eine Rose, der Atem bewegte sie leise ... Ich war in seine kleine Schwester hinter ihm verliebt, bevor ich sie noch gesehn hatte. Denn daß die Elster mit dem roten Schmetterling auf dem Zopfende die Schwester des jungen Mannes sei, daran konnte ich nicht zweifeln.

Inzwischen stand ich immer noch vor meinem Abteil, keins der vier beachtete mich. Ich aber schwebte in hellichtem Frohsinn, die Seele eines schönen Tages durchdrang mich, ich vernahm einen geflügelten Tritt, den Boten des Glücks ... Glühte ich wirklich schon für das unbekannte Mädchen? Jedenfalls hatte ich Zeus in Gestalt des Stiers erkannt und die von seinem Rücken gerutschte Europa, wie sie mit Ganymed neugierige Blicke tauschte!

Da öffnete sich eine Tür, und ich flog Tante Donja in die Arme. Es war nicht nötig zu fragen, ob sie noch böse sei. Ich sagte ihr nicht einmal auf der Schwelle des Tages, wie schön sie ankam. »Du Morgenstern!« dachte ich, »du riechst nach frischer Wäsche und sogar ein wenig nach der Mutter. Wie gut, daß du dich, mit Ausnahme von katastrophalen Fällen, erst gegen Abend puderst und parfümierst!«

»Donja,« sprach ich, »komm schnell, ich bin schrecklich hungrig und habe dir so früh am Tag schon viel zu erzählen.«

Und erzählend frühstückte ich denn, solange im Speisewagen Frühstück verabreicht wurde. Ich hinterbrachte ihr über Europa, Zeus und Ganymed haarsträubende Geschichten, von denen sie jedenfalls mehr verstand als ich, der sie als Kenner zum besten gab. Sie mißfielen ihr nicht. Nur wenn sie, ich nahm an: vor Begeisterung, errötete, unterbrach sie mich: »Claus, iß nur, du wächst jetzt so stark.« Oder: »Claus, schnell, die Kellner räumen die Tische ab.«

Schließlich wollte sie wissen, von wem ich all die lustigen Geschichten hätte. Vom Abbé Simon, erwiderte ich stolz.

»Nein, wirklich?!« Sie lachte. Ach, sie konnte lachen, daß es klang wie ein Taubenflug. Und wenn sie lachte, kamen ihre braunen Locken ins Tanzen und enthüllten die Goldstücke, womit sie gewickelt waren. Wenn sie lachte, schlossen sich die wonnigen Schlitzaugen noch mehr, so daß man nur noch einen grünen Streifen sah, und die Brauen vereinigten sich zu einer Lachwellenlinie, die auf und ab wogte. Und alle Zähne klirrten ihr im Mund. Die kleinen Hände aber waren fromm unter dem Kinn gefaltet. »Die Javanerin« nannte sie mein Vater, und er behauptete, der Rheinweilener »Amerikaner« habe sie von einem Abstecher nach den Inseln heimgebracht. Auch war ich, seitdem ich das gehört hatte, entschlossen, bei der ersten Gelegenheit nach Java zu fahren ... Vorläufig hätte ich Donja gern geküßt, aber das konnte erst wieder am Abend geschehn.

»L'Abbé Simon!« sagte sie sinnend. »Bohrt er noch immer in der Nase wie ein Gott?'

»Donja! Der Abbé Simon bohrt in der Nase, das ist wahr, nämlich wenn er über ein besonders tiefes Problem nachdenkt, aber die Götter, die Götter, Donja, tun das nicht. Sie kennen keine Probleme.«

»Warum nicht, Clans? Sie tun doch sonst alles, was Menschen tun, nur großartiger. Hast du etwa nie in der Nase gebohrt?«

Ich zuckte die Achseln. »Nie?! Ich weiß nicht. Jedenfalls hat man es mir abgewöhnt!«

»Claus, wer sollte es den Göttern abgewöhnen?

»Ach, weißt du,« sagte ich, »darüber mag ich gar nicht nachdenken. Die Götter verleidest du mir doch nicht.«

So kamen wir in den Schlafwagen zurück. Im Gang lehnten Europa und Ganymed an einem Fenster: Ganymed zierlich wie ein Mädchen, das den Buben spielt, Europa mit dem schmachtenden Ausdruck einer jungen Mutter. Sie lachten einander in den Mund und achteten unser nicht. Aber wo war Zeus? Ich sah aus dem Fenster: galoppierte er am Ende auf allen vieren im Himmel? Und da war sie. Da stand sie, vier Schritte vom tändelnden Paar entfernt, und paßte auf. Um heuchlerischerweise an den Tag zu legen, wie sehr sie sich langweilte, tat sie, als spielte sie weltversunken mit ihren Zöpfen. Aber in Wirklichkeit ward sie vom augenstichelnden Studium des Paars erst abgelenkt im Augenblick, wo ein großer Junge in den Gang einbog, und dieser große Junge war ich. Und das also war sie! Ich betrachtete sie ohne Verstellung, fleißig und achtungsvoll. Ich merkte sie mir, Zug um Zug, und hätte am liebsten dabei die Hand aufs Herz gelegt, um sie meiner Hochachtung noch auf besonders ausdrückliche Weise zu versichern. In das Jungensgesicht mit der leichtgebogenen Nase schienen die großen Frauenaugen, die Wimpern, der rote Mund geradezu hineingemalt, das fiel mir vor allem andern und schon von weitem auf. Ich ließ die Tante vorausgehen, wir schoben uns an Ganymed und Europa vorbei, die beim Ausweichen dicht aneinander gerieten, und als die Kleine sich vor uns an die Wand drückte, nahm Donja ihren Kopf in die Hände.

»Quelle gentille demoiselle!« sagte sie dabei.

Die Kleine wollte knicksen, dazu war es zu eng. Aber mich am Rock festhalten, das konnte sie, dafür war es gerade eng genug. Gehorsam blieb ich stehn. Die Tante tat, als hätte sie nichts bemerkt und schlüpfte in ihr Abteil.

Das Mädchen und ich schwiegen nun eine ganze Weile, vollauf damit beschäftigt, einander zu betrachten. Die Augen waren es, die mir zu denken gaben. Sie waren nicht nur auffallend groß, sondern, wie bei manchen Katzen, heller als ihre Grundfarbe, mit einem feuchten Hof um die dunkle Pupille ...

»Der Herr dort ist ein Flirt«, sagte ich endlich, mit einem Blick auf Ganymed.

Todernst antwortete sie:

»Ich auch.«

Obwohl ich es mir als Mann schuldig gewesen wäre, wagte ich doch nicht zu lachen.

»Ich heiße Claus«, sagte ich. »Claus, Maria, Raymond. Ich habe außerdem noch zwei Namen aber die gefallen mir nicht.«

»Ich heiße Maria. Maria Capponi. Ich habe nur einen Namen.«

Sie schlug die Augen nieder, und ich dachte: »So ein Gesicht machen bei uns die kleinen Mädchen, wenn der Herr Pfarrer mit ihnen spricht.

»Schade, da haben Sie ja gar keine Auswahl. Wenn nun Ihrem Mann der Name Maria nicht gefällt?«

Sie hob die Wimpern, mit einer gewissen Anstrengung, als wären sie sehr schwer.

»Ich bin Marchesa«, sagte sie.

Lächelnd erwiderte ich:

»Nichts desto weniger kann der Name Maria ihrem Gatten mißfallen. Ich bin übrigens Baron.«

Jedoch sie legte es augenscheinlich darauf an, mich zu ärgern.

»Marchesa!« meinte sie, »ist mehr als Baron.«

»Nicht immer«, wandte ich ein.

»Doch, immer«, behauptete sie.

»Nun gut, meine kleine Marchesa, ich bin aber Reichsfreiherr.«

Sie bog horchend den Kopf, wobei sie die Brauen fast bis zu den Haaren emporzog.

»Wie, bitte?«

Ich wiederholte: Reichsfreiherr, und nun wollte sie wissen, was das für ein Reich sei, dessen Titel ich trüge. Inzwischen musterte sie mich, als ob sie auf mir die Stücke meines Adelsbriefes einzeln zusammensuchte.

»Das alte römische Reich«, sagte ich. »Das Reich Karls des Großen«, sagte ich und hielt ihr einen kleinen geschichtlichen Vortrag, dem sie gespannt lauschte. »Marquis,« schloß ich, »Marquis gab es meines Wissens damals noch nicht.«

»In diesem Fall,« meinte sie nachdenklich, »in diesem Fall kann man nur bedauern, daß ihre Familie es in der langen Zeit nicht weiter gebracht hat.«

Ich behauptete:

»Wir wollten nicht.«

Sie lachte auf.

»So fragen Sie doch Ihren großen Bruder dort«, äußerte ich voll verhaltenen Grimms, denn sie hatte in einer Art gelacht, die fast einer körperlichen Beleidigung gleichkam. »So fragen Sie ihn einmal, was ein Reichsfreiherr ist. Vielleicht weiß er Bescheid.«

»Sehn Sie nicht, daß er beschäftigt ist, Herr Baron? Wir heißen, wie gesagt, Capponi.«

»Das haben Sie schon einmal gesagt, ganz richtig, und ich habe wohl vergessen zu danken. Capponi also. Danke. Danke sehr. Ich habe den Namen nie gehört.«

»So? Sie haben den Namen Capponi nie gehört? Und Sie? Wie heißen denn Sie, wenn ich schon fragen muß?«

»Ach so! Claus von Breuschheim. Entschuldigen Sie! Bitte, entschuldigen Sie! Ich bin offenbar zerstreut.«

»Clau –? Brö –?«

Sie machte sich steif, um nicht zu lachen, und blies die Backen auf, bis sie platzten. Als ich aber, von ihrem Gelächter wiederholt ins Gesicht geschlagen, in herrischer Beschwörung ihren Arm ergriff, zuckte sie furchtsam zusammen, so daß ich sie schnell wieder losließ.

»Ah!« sprach ich leise, »Sie werden zu Hause geschlagen. Vortrefflich! Sie sind, Marchesa, nicht zum besten erzogen, ich bedaure aufrichtig, es Ihnen sagen zu müssen. So lacht man nicht, es ist unerlaubt, so zu lachen – ich muß es Ihnen aufs ernsthafteste versichern.«

Die tollen Augenbrauen machten einen Sprung, und der Mund wölbte sich mürrisch, plötzlich war er doppelt so rot, und ich fand ihn entzückend, ja, ganz entzückend fand ich ihn, diesen mürrisch dargebotenen großen, roten Mund auf der bleichen Tiefe des Gesichts, in den die Flut des Blutes aus der Tiefe des Körpers getreten war, während die Brauen sich gleich Sturmvögeln aufgeschwungen hatten ...

»So? Wer zwingt Sie denn, es mir zu sagen?« fragte sie da.

»Der Anstand, Marchesa, nichts, als die einfache Sorge um den Anstand.« Und ich suchte eilig, wie ich es einrichten könnte, um nun in schnellem Übergang auf den Mund zu kommen, über den unbedingt etwas ausgesagt und bekannt sein wollte. Leider hielt sie nicht still, übrigens zu ihrem eigenen Schaden, sondern entließ mich in aller Form mit den Worten:

»Schade, Sie kleiner Poseur. Ich habe Sie ein wenig aufgezogen, aber Sie sind grob geworden. Au plaisir de vous revoir, Monsieur le Baron!«

Ich verbeugte mich, sie nickte, ja, ich glaube, wir versuchten zu lächeln, jedenfalls kehrten wir uns, sehr aufmerksam, zu gleicher Zeit den Rücken.

»Nun?« empfing mich meine Tante. »Was für eine Göttin ist sie?«

Ich antwortete, das werde sich erst noch herausstellen.

»Ach, ihr habt wohl ein Rendezvous ausgemacht?«

Das sei, sagte ich, unter Göttern nicht üblich. Sie träfen sich von ungefähr. Aber scharf dahergeschwätzt hätten wir, Stoß und Parade in einem, ein wenig barbarisch, diebisch, rauhstimmig, aus rotem Mund und, sie möge verstehn, mit stürmisch gerafften Brauen, doch käme es mir vor, als wäre ich vorerst nicht unbedingt Sieger geblieben. Worauf Sidonia sich über das hochfahrende Wesen verwunderte, das ich mir »urplötzlich« zugelegt: nicht auf den gestrigen Wutanfall solle damit gezielt sein, da handelte es sich mit aller Wahrscheinlichkeit um eine erbliche Belastung von väterlicher Seite, die ich hoffentlich mit der Zeit abwerfen werde, nein, was sie beunruhige, sei so eine kecke Handbewegung, womit ich Gott weiß wen herausforderte, eine etwas ungenierte Verbrüderung, sogar mit Göttern. Jawohl, gab ich zu, ich fühlte mich als Eroberer, als ein harter, aber nicht unliebenswürdiger Herrenräuber unter fremdem, fast blendendem Himmel, als ein geheimer Hohenstaufe etwa, ein Privatkaiser, der mit glänzendem, wenn auch unsichtbaren Gefolge und im weithin hörbaren Rauschen von Bannern gen Süden reite. Jawohl, dies sei es, ich könne, ich wolle es nicht leugnen. Und auf einmal machte Donja ein Gesicht, als billigte sie mich, ja, als nähme sie, bewußt und sichtbarlich, an meinem Zuge teil.

 

Gegen Mittag drangen wir unversehens in funkelnde Gewässer vor. Wir fuhren auf einem schmalen Damm durch das Meer. Dann trat Sonnenfinsternis ein. Der Zug hielt in einer halbdunkeln Halle.

Die Türe wurde aufgerissen, wilde Männer fielen ein, die alle Heiligen in die Hölle fluchten, aber sobald man sie ansah, lächelten sie, flüsterten »Please, Sir« ... »A moi, Madame«... »Gepäckträg«. Andre, die noch niemand gefunden hatten, der sie ansah, sprangen brüllend, mit Gebärden der Verzweiflung von Tür zu Tür. Koffer und Handtaschen flogen aus den Fenstern und wurden von zappelnden Händen aufgefangen: »Madonna!« ... Zwei Schritte vom Zug entfernt, mit verschränkten Armen, ergingen sich die Schaffner in einer Art von kirchlichem Singsang. Als wollten sie die heiligen Streiter anhalten auszuharren, sangen sie: »Venezia! – Venezia!«

Ich stand, ängstlich an Sidonia gedrückt, vor dem Bahnhof. Stufen führten auf den gepflasterten Platz, von dem wiederum eine breite Treppe zum Kanal hinabstieg. Unter uns wogte unübersehbares Handgemenge. Uniformierte Männer eilten mit erhobenen Stöcken hin und her und brüllten Kommandos – niemand hörte auf sie. Massenhaft drängten schwarze Kähne an die Landungstreppe heran. Durch die Kähne kam plötzlich Ganymed gefahren. Er stand aufrecht in einer Gondel und rief. Einer der uniformierten Männer reichte ihm den Stock, so zogen sie die Gondel an die Treppe, Zeus und Europa stiegen ein.

Und Maria Capponi? Ich entdeckte sie am Ende der Treppe in einem Motorboot, von wo sie sowohl ihren Bruder, wie mich im Auge behielt. Mit einem Satz war Ganymed neben ihr. Der Motor fauchte, das Boot bahnte sich mit dem Hinterteil einen Weg durch die schaukelnden Kähne, und dann trieb es auf schwanken Spiegelbildern, die, flüssige Stücke von Kirchen, von Palästen, glucksend aus dem blauen Himmel zu laufen schienen. Während das Boot wendete, suchten Ganymeds Augen Europa. Ich sah Maria winken. Ich sah, daß alle Häuser im Wasser standen und das Wasser im Himmel, und wie, hoch über alledem, Sidonia in königlicher Haltung schwebte, nachlässig, sicher, und wartete. Worauf wartete sie?

Da erhob sich von der Kanaltreppe ein mehrstimmiger Schrei, auf den Stille folgte. Sidonia stieg die Treppe hinab. Ein weißes Motorboot landete, dem ein weißgekleideter Matrose entsprang, die uniformierten Männer umringten ihn mit geschwungenen Stöcken, ein Pfiff gellte. Sidonia und ich schritten durch ein Spalier stumm gaffender Menschen. Einige griffen verschüchtert an die Mütze.

Der weißgekleidete Matrose reichte Sidonia die Hand, um ihr ins Boot zu helfen, ein zweiter Matrose führte sie bis zum weißen Polster am Heck, wo eine schwarzgelbe Fahne hing, und als sie Platz genommen hatte, umschlang der erste meine Hüfte und sprang mit mir an Bord.

Schon hatten wir uns aus dem Knäuel der Gondeln gelöst, schon überholten wir das Boot mit Ganymed und Maria. Ganymed grüßte federnd, wie der kleine Mohr auf meiner Sparbüchse, ich winkte, stolz, in diesem Augenblick Marias würdig zu sein, und sie, sie war wiederum darauf stolz und winkte lebhaft zurück. Wir hatten alle Boote hinter uns gelassen und pflügten allein durch das seidenfarbene Wasser.

»Donja, was ist das für ein Boot, und wer ist es, der uns abholen läßt?

»Es gehört zu einem russischen Kriegsschiff.«

Trotz dieser offenbar ungenügenden Antwort wunderte ich mich nicht. Zu sehr erstaunte mich die Wasserstadt, die, in Teppichen hängend, wie ihr Spiegelbild sie unaufhörlich aus Millionen Stückchen Wassers und Himmels zusammenknüpfte, zugleich aufdringlich modisch und ein altes Guckkastenbild war.

Zwischen einem rosaweißen Palast aus Tausendundeiner Nacht und einem kleineren, weinroten mit Fenstern aus weißen Spitzen gingen wir an Land. Ich war aus allen Himmeln gerissen, denn gerade hatte ich große, graue Schiffe voller Kanonen gesichtet.

Ein Hotelportier mit den Petrusschlüsseln auf den Aufschlägen des Rockes erwartete uns an der Spitze grünbeschürzter Knechte. Hinter diesen trat auf einmal ein rundlicher, nicht mehr junger Kellner mit einem kahlen Kugelkopf hervor und reichte mir die Hand. »Guten Tag, Signor«, sagte er, und zur erstaunten Sidonia gewendet: »Ich bitte um Entschuldigung, Signora. Ich habe gehört, daß Kinder ankommen, deshalb bin ich da.« Darauf beugte er sich zu meinem Ohr: »Ich bin Emilio«, vertraute er mir an. In der Halle begrüßte uns der Direktor. Er ließ uns in den Lift steigen, der, kaum, daß er zu sausen begonnen, gleich wieder hielt, und geleitete uns in einen Saal, wo man das Meer und den Himmel und dazwischen, wie in die bunte Watte einer Weihnachtskiste gepackt, die Kriegsschiffe erblickte. Mich aber nahm er an der Hand und führte mich, während ein ahnungsvoller Zorn in mir aufstieg, einen endlosen Gang entlang bis vor eine Türe, die er mit einem Ruck vor mir aufstieß. Er wünsche, sprach er mit einer betont scherzhaften Verbeugung, dem kleinen Baron einen angenehmen Aufenthalt in Venedig, und der kleine Baron solle das runde Pappstück mit seiner Zimmernummer nicht verlieren, denn sonst könnte er vielleicht einmal nicht in sein Bett finden und müßte im Keller schlafen.

Zögernd trat ich ein. Das Zimmer war klein und verschlissen. In Breuschheim hatte kein Dienstbote ein solches Gemach. Der Hof, auf den das einzige Fenster hinausging, diente als Abzugskanal für die Küchendünste. Nein, da dankte ich. Das war kein Zimmer für einen Privatkaiser, der überdies im Begriff stand, sich eine Luxusstadt wie Venedig zu unterwerfen. Entschlossen ging ich den Korridor zurück, bis ich vor der Zimmernummer Sidonias stand. Auf mein Klopfen öffnete die Tante und trat zu mir hinaus.

»Was wünschst du?«

»Taschengeld«, sagte ich. »Wir sind in einer fremden Stadt.«

Sie lachte schwirrend auf. »Einen Augenblick. Warte hier.«

Bald darauf kam sie mit einem Zehnlireschein zurück, den sie mir in den Kragen schob. »Du Wackes«, sagte sie zärtlich, und obwohl ich eigentlich dafür schon zu schwer wog, hob sie mich auf, und obwohl nicht die geringste Veranlassung vorlag, küßte sie mich.

In der Halle schrieb ich ein Telegramm an meinen Vater, worin ich ihn bat, der Tante Geld zu schicken, damit ich ein anständiges Zimmer bekäme. »Wollen Sie mir die Depesche besorgen?« fragte ich den Portier. »Dringend.« Er las und stutzte. »Was kostet die Depesche?« fragte ich. Er zählte. »6 Lire, 80.« Ich reichte ihm den Zehnlireschein: »Bitte, behalten Sie den Rest« »Danke, Herr Baron«, hieß es. »Die Depesche geht sofort ab. Am andern Tag erhielt Sidonia ein Telegramm, das ich öffnen mußte. Vater schickte Geld für mich und bat, mir ein gutes Zimmer anzuweisen.

Dies geschah auf der Stelle. Das neue Zimmer lag im höchsten Stockwerk und bildete einen Erker im Himmel. Die Kriegsschiffe hingen unter mir in der Lagune. Auf kleinen Inseln läuteten Kinderglocken den Englischen Gruß. Weit hinten tauchte ein Ozeandampfer aus dem freien Meer in das Spiegelbild Venedigs. Es roch nach köstlicher Fäulnis.

Beim Abendessen saß ich allein am kleinen Tisch, Sidonia war in die Oper gegangen. Jedoch, dem Kellner mit dem Erdbeereis folgte Maria auf dem Fuß.

»Ich muß Sie um Verzeihung bitten, Baron«, sagte sie. »Mein Bruder hat in einem Buch nachgesehn – Sie sind so gut wie ein Marquis.« Sie machte eine Pause, als erwarte sie eine Antwort. Aber natürlich überhörte ich ihre Exküsen, übersah auch ihre noch kleinmütigeren Blicke, und so seufzte sie denn nach einer Weile reuig auf und fuhr fort: »Wissen Sie, daß wir auf demselben Stockwerk wohnen?« worauf unser Gespräch ohne weitere Schwierigkeiten sich munter fortsetzte.

Wie wir noch über dem Eis beisammensaßen, brachte der Portier ein zweites Telegramm, diesmal an mich. Er überreichte es mir auf dem Dach seiner Mütze. Es lautete:

»Mach' dir nichts daraus. Wenn genug hast, abreise. Geld bei deutschem Konsul. Ihm schreibe gleichzeitig. Portier führt hin.«

Mein Vater, muß ich hier einfügen, war außerhalb des Hauses eifersüchtig auf meine Bewegungsfreiheit bedacht, vermutlich, weil er selbst ein (allerdings nachlässiger) Tyrann war. So oft ich nach Rheinweiler fuhr, erhielt ich die ausdrückliche Ermächtigung, wenn »es nicht mehr ginge«, ohne vorherige Verhandlungen »durchzubrennen.« Das kam, weil Sidonia für »herrschsüchtig wie ein Zar« galt und »romantisch bis zur Verrücktheit.« In Wirklichkeit beseelte sie eine leidenschaftliche Energie, die sich mit ihrer ausgesprochenen praktischen Natur sehr wohl vertrug, und es bestand kein Zweifel, daß sie ihr Gut musterhaft verwaltete, während mein Vater an dem verhängnisvollen Fehler krankte, sein Steckenpferd allzuoft zu wechseln. Und mit ihrer Romantik war es so bestellt, daß sie alles, was sie liebte, wie Reiten in Feld und Wald, auch bei Mondschein, Debattieren, Lachen, Reisen und Lesen russischer Romane, mit dem gleichen inneren Drange gleichsam zu laden schien. Wirklich unverträglich wurde sie nur in Breuschheim, wenn ihr, die bei russischen Verwandten aufgewachsen war, plötzlich die Enge unsrer westeuropäischen Verhältnisse aufstieß und sie begann, Vater und Mutter mit dem Entwickeln vielleicht sehr vernünftiger, aber aussichtsloser Pläne für die gemeinsame Bewirtschaftung der Güter zuzusetzen. »Sie möchte uns alle regieren, begehrte dann mein Vater belustigt auf, »die ganze Familie bis in den zehnten und zwanzigsten Grad, von Rheinweiler bis Carcassonne, von Herbert Castle bis Madras und Cincinnati, vom Ural bis zu den Pyrenäen. Sicher macht sie auch noch einen Vetter linker Hand in Java ausfindig und bringt ihn unter ihr Zepter.« Auffallend war, daß der »Platzmangel« und die »Unzulänglichkeit unsrer Wirtschaftsform« ihr nur in Breuschheim bewußt wurde, wiewohl dieses das Rheinweilener Gut an Größe um das vielfache übertraf. Lag es an der tiefstillen, immer zufriedenen, jedes Gewitter in Gottvertrauen anlächelnden Art ihrer älteren Schwester, meiner Mutter, oder mehr an der unbesorgten Phantasterei meines Vaters, dieses »ewigen Kindes«, der »ein Ulrich Rheinweiler geworden wäre«, hätte er sich nicht damit begnügt, »einzig und allein seinen Launen zu leben«? Ich selbst machte mir wenig Gedanken darüber. Immerhin war mir soviel klar, daß Sidonia, die mit mir wie ein gleichaltriges Kind sein konnte, sich schrecklich erwachsen gab, sobald Vater oder Mutter ins Zimmer traten. Sie zog, wie ich den Vorgang im stillen nannte, »ihr Korsett an«. Korsette aber waren mir ein Greuel, sie schlossen mich aus der Gemeinschaft der Frauen aus, ich griff eine Säule, wo ich gehofft hatte, eine Mutter, eine Tante zu finden.

An jenem zweiten Abend in Venedig spielten Maria und ich bis zehn Uhr Dame, und wenn wir auch nicht, wie besonders Maria hoffte, die Heimkehr der schönen Sidonia erlebten, so gelang es mir dafür, nach meinem Familiennamen auch noch den eigenen Vornamen in Marias Gunst zu setzen. Lehrte ich doch die kleine Marchesa die für eine italienische Kehle tatsächlich schwierige Silbe »Claus« deutlich aussprechen. Dies brachte mir den zweiten Sieg an diesem Tage, den dritten, wenn auch nur schattenhaften Lorbeer pflückte ich beim Abschied im halbdunklen Korridor. Von einer flüchtigen Berührung Marias wie verwandelt, trat ich in mein Zimmer, den Himmelserker, der jetzt bestirnt war, und ein neues Gefühl, duftend und klangvoll zugleich, dehnte meine Brust.

Erstaunt betrachtete ich mich im Spiegel, lehnte aus dem Fenster, suchte das Bild Marias, ihren Mund, ihre vielfarbigen Augen in der Lagune und sann dem Wunder nach, das mit mir geschehn war, schritt lange hin und her und pflegte, was mein Auge im Zimmer und draußen sah und immer wieder sah, mit hundert zärtlichen und übermütigen Gedanken. Und wenn ich in meinem toll genußsüchtigen Wandern und Schauen innehielt, überfiel mich der Feuerschein einer fern lodernden Angst – so klopfte das Schicksal in meinen Adern Alarm.

Heute, nach mehr als zwanzig Jahren, wo ich hier im nachtverlorenen Waldbaus an Urgroßvaters Schreibtisch sitze und eine Wartezeit erdulde, wie sie nicht mehr von der armen zerstörten Tante, wohl aber von derselben Maria Capponi erfüllt werden kann, die damals, Dame spielend und »Claus« lernend, auf die Heimkehr der schönen Sidonia wartete, heute noch und während ich dies schreibe, sehe ich das hochgelegene Zimmer des Hotels Danieli in Venedig, und wie nachts auf der Lagune Mondkatzen mit Silbermäusen spielten, und wie auf den Stein fliesen der Riva degli Schiavoni (ich spuckte freundlich hinunter) die Sonne lag wie ein braver, dicker Hund.


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