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Eine Nacht in Breuschheim

Als sie Doris in Breuschheim beisetzten, lag ich zu Zürich im Krankenhaus, man verheimlichte mir alles, bis eine Mitteilung eintraf, die, von der Greisenhand meines Vaters geschrieben, lautete: »Doris ruhe bei uns in Breuschheim«. Sofort ließ ich durch den Arzt telephonisch anfragen, ob Jacquot beim Begräbnis gewesen sei. Nein – er hatte nichts gesehn und nichts gehört, und als wäre mein Gewissen nun beruhigt, verlangte ich nach ihm.

Meine Mutter brachte ihn im Auto nach Zürich. Sechzig Jahre ruhten sauber gefältelt auf ihrem Gesicht. Es war mein erstes Lächeln, als ich die alte Frau mit dem Kleinen an der Hand ins Zimmer treten sah. Ihnen folgte meine Schwägerin Pia. Gleich fielen mir ihre geübten Augen auf; sie maßen mich mit einem Blick. Davon abgesehen, glich sie Doris, doch schien sie größer, leichter, kühler. Ihr Gesicht hatte einen neugierig ernsten Ausdruck.

Ich wollte Mutter und Sohn an meine Brust reißen, aber die steifen Glieder erlaubten es nicht, mit Mühe unterdrückte ich einen Schmerzensschrei. Sie setzten sich zu mir. Da war er also, Jacquot! Ich betrachtete ihn.

Er sah sich immerfort nach der Tür um.

»Sag doch etwas, Jacquot!« bat ich, denn ich wollte seine Stimme hören. Statt zu antworten, lachte er leise auf, legte den Finger auf den Mund und begann im Zimmer zu suchen. Er öffnete den Schrank.

»Wir haben ihm gesagt,« flüsterte meine Mutter, »du suchtest sie, sie habe sich in den Bergen verlaufen.«

»Jacquot!« rief ich in befehlendem Ton...

Mit einem Ruck drehte er sich um. Er stand ernst und entschlossen. Da brach die alte Mutter in Tränen aus.

Jacquot indessen rührte sich nicht. Sein Gesicht blieb das gleiche und, wie mit Gewalt, mir zugewandt. Er sah mir ins Gesicht, und sonst sah er nichts. Er wollte nichts andres sehn.

»Jacquot,« sagte ich ruhig, »wir finden sie nicht. Keine Hoffnung mehr. Die Mutter ist verloren.«

Er schüttelte den Kopf. Das war alles.

Und dann erzählte ich ihm die Geschichte. Die Geschichte einer Verlegenheit, aus einer andern Verlegenheit geboren! Die Geschichte, wie seine Mutter »verloren gegangen...« Er stand noch immer da. Erst als ich einen Atlas bringen ließ und ihn fragte, ob ich ihm zeigen solle, wo die Mutter verloren gegangen sei, da nickte er und trat an mein Bett. Die Schwester mußte die Karte halten und ihm alles zeigen, was ich nannte. Meine Mutter hatte das Zimmer verlassen, Pia hielt sich still in einer Ecke beim Fenster.

Jacquot hörte aufmerksam zu und schwieg.

»Verstehst du denn das schon alles, du Kleiner?« fragte die Schwester schmeichelnd. Irgendwie empfand das Kind das Unschickliche der Frage, es nickte abweisend und war sichtlich befriedigt, als die Schwester sich darauf zurückzog, Ich wollte meine Geschichte zum drittenmal beginnen, da unterbrach er mich. Endlich hörte ich seine Stimme! Es war die Stimme, die in den Gletscherspalt gekommen war...

Ich ließ den Kopf ins Kissen fallen und schloß die Augen.

»Jacquot!«

Aber was hatte er denn gefragt?

Ich brauchte ihn nur anzusehn.

»Kaufst du mir eine solche Karte?« wiederholte er.

»Gern, Jacquot, und sie soll dir allein gehören.«

»Nicht nötig, aber es muß eine gute Karte sein.«

Ich nickte.

Da erst merkte er, wie elend ich war. Er glitt am Bett hin und legte seinen Kopf auf das Kissen neben den meinen. Die großen, blauen Augen waren voll Tränen, und vor lauter Anstrengung, nicht zu weinen, machte er ein mürrisches Gesicht. Nur der Mund zuckte – weil er gern sprechen wollte, jedoch unter der Bedingung, daß das Wort nicht die Tränenschleuse öffnete. Es gelang ihm, wenn auch unvollkommen. Zwei dicke Tränen traten über den vollen Rand. Er schluckte.

»Ich finde die Mutter«, sagte er mit gepreßter Stimme. Er hielt die Gewißheit in Fäusten.

Da trat unangemeldet wie immer, ich hatte um dieses Zeichen der Vertrautheit gebeten, Lord Berrick ins Zimmer. Pia reichte ihm die Hand, bemerkte sein krankes Auge, stutzte, hob ein wenig die Stirn, und ihr Lächeln, das bestirnte Lächeln Dorisens, wenn auch um einige Sterne ärmer, aber dafür um wieviel durchsichtiger, überflutete sein Gesicht. Sie zuckte auch, bei gewissen Fragen, liebreizend mit der Achsel wie Doris. Sie nahm gleichsam seinen Kopf in die Hände und schaute ihn an. Und er mußte erkennen: er war ihr angenehm, das arme Auge störte sie nicht, im Gegenteil, gerade das begann sie zu lieben... So war die Art meiner Doris.

Das gleiche wiederholte sich beim Abschied. Wie überaus gütig und zugleich forschend blickte sie auf die Knoten der Finger, das Gelenk und, als der Lord zur Tür ging, auf seinen Rücken. Und in dieser Haltung blieb sie, der geschlossenen Tür zugewandt, eine Weile stehn, als schickte sie ihm ihren Schutzengel nach. Ja, das war Doris!

Nein, es war nur ein Handgriff, der gemeisterte Ausdruck für eine Seelenregung, von der jüngeren der reiferen Schwester abgenommen und alsdann frei geübt. O schmerzliche Verwandtschaft! Doris hatte nicht ihresgleichen, hier sprang es mir in die Augen, und sie war tot. Eine steinerne Gestalt auf ihrem Grab, irgendein Bild in einem Museum hätten ihr ebenso geglichen. Verstümmelt, gleichsam geteilt, mit halbem Atem lag ich beim Abschied zwischen Jacquot und meiner Mutter.

Als ich halbwegs gesund war, jedenfalls wieder gehn konnte, holte ich den Jungen zu mir. Ich kam abends in Breuschheim an und fuhr am andern Morgen mit ihm fort.

Der Diener Joseph, Balthasar Breuschheims »Hand und Ohr«, der im Hause geboren und von meinem Vater mit viel Aufwand und Umsicht sowohl zum Diplomaten wie zum Kammerherrn, nämlich zu seinem Agenten bei den Bauern und Behörden und seinem persönlichen Mundschenk erzogen war, ein Prachtskerl, der »feinste Mann im Haus«, erwartete mich in Kehl am Bahnhof, Jacquot im Auto an der Rheinbrücke. Jacquot hatte es unter Berufung auf Vetter Léo durchgesetzt, daß der Wagen die Brücke passieren und bis zum deutschen Zoll fahren durfte. Er war sehr aufgebracht darüber, hier angesichts des Bahnhofs warten zu müssen, statt für seinen Vater vorzufahren, wie es sich gehört hätte, um so mehr, als der Wagen die neueste Schöpfung unserer Fabrik war.

Bei der Paßkontrolle fragte der französische Beamte in verdächtigem Französisch, ob ich bei den Kürassieren gedient hätte. »Nein,« antwortete ich, »das war mein Bruder Ernst«, und ich setzte ein erwartungsvolles Lächeln auf, bereit, dem Burschen bei einer etwa erfolgenden kritischen Äußerung über das rosige Schnäuzchen zu fahren. »Ich bin ebenfalls deutscher Offizier gewesen«, setzte ich hinzu, nicht, als ob ich mich dessen hätte rühmen wollen (es wäre wahrhaftig das erstemal gewesen), sondern um den Anschein zu vermeiden, als läge mir daran, mich bei einem jener seltsamen Patrioten, wie sie damals im Land herumstanden und die Böcke von den Schafen schieden, in Vorteil zu setzen. »Denke nure, Herr Baron,« kam es in wohllautendem Dialekt zurück, »ich hab Eich doch nemme kennt und hab schon g'meint, do reist einer uf em'e falsche Paß«... Frankreichs Wachtposten an der Kehler Rheinbrücke enthüllte sich errötend als ein früheres Mitglied unsrer Breuschheimer Räuberbande, es war ein Bauernsohn aus einem benachbarten Dorf, der auf dem Umweg über die Fremdenlegion zu der hohen Würde eines Commissaire spécial aufgestiegen war. Als ich ihn beglückwünschte, dankte er kokett, meinte aber, es sei nicht alle Tage Messti.

Erheitert fuhr ich in die große Brücke ein, die Deutschland von Frankreich trennt, und betrat meine, in einem tausendjährigen Leben und Lieben mein gewordene, durch viele Schmerzen geheiligte, bittersüße Erde... Mein Herz schlug wie beim Anblick der Geliebten, obwohl die Kohlenhaufen, Krane und Werktürme, an denen ich beglückt entlang flog, gerade diesen Winkel zum häßlichsten des ganzen Landes machten. Doch darunter quollen für mich noch immer die Fliederbüsche des wilden Gartens, wohin ich zwei oder dreimal mit Viviane von Bock im Ponywagen hinausgefahren war, bebten noch immer Kornfelder im sonnigen Wind, und der Kohlenstaub, das Knirschen von Eisen, das Heulen der Sirenen vermochten nicht, die weißen Kleider und das lustige Lachen einer ewig sommerlichen Kinderwelt zu verschütten. Und als wir das heiße, staubflimmernde Straßburg durchquert hatten, breitete sich unverdorben, unverändert das Paradies, mein reinstes Herz, mein Land, herbstlich bunt und fruchtbeladen, von seinen blitzblanken, blumenfrohen Dörfern durchtanzt. Es war fast ein Jahr her, da hatten Doris und ich an einem ähnlich überschwenglichen Tag Breuschheim verlassen, aber es hätte ebensogut erst gestern sein können, gestern erst oder vor zwanzig Jahren, in einem andern Leben oder gestern... Da war das Schloß. Am Eingang knieten die beiden steinernen Gestalten aus dem 16. Jahrhundert, ein Breuschheim und seine Gattin, die Erbauer des Schlosses. Mir kam es vor, als beteten sie für Doris.

Die Eltern erwarteten mich in der Halle, und da das Kind anwesend war, bemühten wir uns, möglichst unbefangen zu erscheinen und den Ton weder zu hoch, noch zu tief zu stimmen. Doch wollte dies nur dem Vater recht gelingen, dem die Mutter und ich bei den Betätigungen seiner leicht gedämpften, bewußten Liebenswürdigkeit mit Verwirrung zusahn. Jacquot an der Hand, geleitete er uns die Treppe hinauf, ein Blick und Händedruck des Großvaters genügte, daß Jacquot sich an der Tür des weißen Salons empfahl, und dann saßen wir in dem weiten hellen Raum, der jetzt vom Abendlicht erfüllt war, und in dessen Polstersesseln buntgewirkte Engel musizierten und dieselben paar Feldblumen sich zu immer neuen Sträußen vereinigten, während die Kristallzapfen der Leuchter, kühl funkelnd, die Farben des Sonnenuntergangs zerlegten, saßen da und blickten alle drei schweigend durch die offenen Glastüren auf die Wipfel der Parkbäume. Joseph brachte Wein und Makronen. Er kam und ging fast lautlos. Ich war meinen Eltern dankbar für alle die guten Gedanken, die sie nicht aussprachen, während wir über Dorisens, in diesem Abend zitternden Bilde gebeugt saßen... Die Flügeltüren des roten Salons standen auf, und der Schein der untergehenden Sonne auf den geschlossenen Vorhängen erweckte den Eindruck, als lodere hinter ihnen eine Feuersbrunst, als brenne das Dorf. Es beherrschte mich das gleiche Gefühl in diesen Räumen wie als Kind: daß ich hier am Ort der Liebenswürdigkeit und Selbstbeherrschung weilte, wo die Ausbrüche irgendwelcher Leidenschaft zu Fratzen würden, zerstörerisch und nicht zu ertragen. Und auch das Abendgeläut, das jetzt zaghaft einsetzte, rief nicht Hilfe und Not, es war eine religiöse Stimme voll schwindelnder Ergebung in das Ende.

Meine Mutter faltete die Hände, ihre Lippen bewegten sich, und, wie immer, wenn sie betete, schien sie plötzlich viel älter... Balthasar Breuschheims Augen ruhten ernst auf dem Antlitz seiner Frau. Beide saßen aufrecht in ihren Sesseln, zierlich beide, doch der Vater breit und rund, die Mutter schlank, von mädchenhafter Fülle, mit schmalen, abfallenden Schultern. Das Abendglöckchen entschlummerte wie ein Kind.

Endlich erhob sich mein Vater und sagte:

»Da streiten sich die Leute, ob Christus gelebt habe.« Er breitete die Arme aus: »Ja, wer soll denn gelebt haben, wenn nicht er

Es war das erstemal, daß ich von meinem Vater einen religiösen Ausspruch vernahm. Das Wort traf mich mit seltsamer Wucht, und dann durchdrang es mich, langsam und mild. Ich empfand es aus unklaren Gründen als einen Trost von solcher Stärke, wie ich ihn noch nie gekannt.

Da trat Ernst ein. Er drückte mir militärisch knapp die Hand und sprach, mit allen Anzeichen des Kummers im männlich schönen Gesicht, von meinem Schmerz, der ihm fast ebenso nahegehe, als wäre ihm selbst die Frau gestorben. Und er drückte mir noch einmal die Hand für meine Schwägerin Anne-Marie, die verreist war. Als er nunmehr dazu überging, von Geschäften zu sprechen, und im Anschluß an eine Kuhgeschichte auf die Juden schalt, unterbrach ihn Balthasar Breuschheim heftig mit dem Hinweis, daß man »bei uns« die Juden eher liebte als haßte. Das war nicht neu. Aber wiederum überraschte es mich, wie er diese Vorliebe begründete, und ich möchte fast annehmen, die Begründung sei ihm spontan aus dem Geiste der Stunde offenbart worden. Dafür sprach sowohl die Heftigkeit der Empfindung wie die Unklarheit der Formulierung. Die Juden, sagte er, erhielten den Gedanken an Christus lebendig, sie seien seine ewigen Vorläufer; solange ein einziger Jude lebe, könne Christus der Welt nicht verlorengehn, selbst wenn es keine Christen mehr gäbe – ja, er verstieg sich zu der Vermutung: gerade dann, in diesem gar nicht so unwahrscheinlichen Falle werde Christi Herrschaft am nächsten sein... Ernst kam auf die Kuh zurück, aber nicht auf den Juden.

Beim Abendessen traf ich Vetter Léo, der als Divisionär in Kehl garnisonierte. Er sprach nur die paar Worte, wie man sie in aller Welt gebraucht, um jemand sein Beileid auszudrücken, am geläufigsten in der französischen Sprache, aber er stammelte und sah mich dabei so hoffnungslos an, daß ich ihn gerührt auf die hingehaltenen Backen küßte, die ausdrucksvollsten, die ich je an einem dicken Mann gesehn. Offensichtlich um mich zu »zerstreuen«, begann Léo später, als das Kind im Bett war, von Politik zu reden. Nun war dies das denkbar schlechteste Mittel, mich zu zerstreuen, davon konnte ich nur traurig und böse werden, und ich sagte es ihm, mit diesen Worten.

Er rollte gerade eine Zigarette. Ohne aufzusehn, erwiderte er ernsthaft:

»Ich hätte es mir denken sollen! Schon als Kind konntest du deine Angelegenheiten und die der Allgemeinheit nicht auseinanderhalten. Mein Jüngster ist ebenso, es liegt in der Familie.

Ich selbst spreche übrigens nur mit Verachtung ... davon.

Worauf mein Vater:

»Die Angelegenheiten der Allgemeinheit sind genau so viel wert, wie sie sich mit unsern persönlichen vertragen, natürlich auch solchen höherer Art. Wenn ich fragen darf, was ist das, die Allgemeinheit?«

Mein Bruder behauptete, sie zu kennen.

»Er wird sich aber hüten«, rief mein Vater aus, »diese Dame in Gegenwart seiner Mutter näher zu beschreiben.« Er war sichtlich erregt.

»Nun,« lenkte die Mutter ab, »ich meine, die Allgemeinheit, das ist die Mehrheit.« So nahm sie an der Unterhaltung teil, lebhaft wie immer, mit kleinen, zierlichen Bewegungen, wobei man ihr anmerkte, daß ihre Gedanken aus weiter Ferne kamen und ständig dahin zurückkehrten. Und das weiße Licht jener Ferne lag auf ihrer sauber gefältelten Stirn.

Vetter Léo zündete seine Zigarette an.

»Richtig!« Im Schein des Streichholzes erinnerte sein Gesicht an einen schön gebratenen Truthahn. Ich bekam Hunger. Beim Abendessen hatte ich nur zugesehn, wie Jacquot aß.

»Leider«, meinte mein Vater, »scheint mir diese Mehrheit geistig die konfuseste aller Minderheiten zu sein. Und sie kommt uns alle teuer zu stehn, sehr teuer!«

Damit war das politische Gespräch zu Ende, und Vetter Léo erzählte von sich und den Seinen, am ausführlichsten aber von den Kindern. Viele und gewichtige Kapitel fuhren da heran, hintereinander und durcheinander, zusammengehörig, wie die Wagen einer Eisenbahn, mit der Kinder spielen, und jedes dieser Kinder war ein Original. Daran fand ich nichts Wunderbares, denn in der Tat ist jedes Kind ein Original, und die Erwachsenen brauchen verteufelt viel Zeit und Anstrengungen, bis sie die Kinder untergekriegt haben und diese ebenso platt geworden sind wie sie selbst. Das war auch die Meinung Vetter Léos. Ich kenne nur noch einen Menschen, der ebenso gern und so gut von Kindern erzählte, den Kellner Emilio im Hotel Danieli zu Venedig.

»Im Kriege«, sagte Vetter Léo, haben die Kleinen ein wenig Luft bekommen, aber die Obstbäume sind verdorben. Die Frauen können nicht pfropfen.« Nach den Kindern, den eigenen und den verwandten, waren nämlich die Obstbäume an die Reihe gekommen, dann erst folgten, schon recht weit vom Paradies entfernt, »les bonnes brutes«: die Menschen. Er beurteilte sie gnädig, aber liebte sie nicht ..

Wir saßen lange beisammen. Die hohen Fenster standen offen, unbehindert drang, in ihrer bebenden Ebbe und Flut, die Frühsommernacht herein, und wenn der Vetter schwieg, so lauschten wir dem Tumult, der aus dem Dorf heraufdrang, denn es war Patronstag und Tanz und Musik in den Wirtschaften. Gegen Mitternacht wurden alle müde, wir hier oben und die im Dorf.

»Also,« stellte Vetter Léo beim Gutenachtgruß fest, »also hat selbst der wildeste Krieg es nicht vermocht, unsre Familie auseinanderzureißen. Im Anfang konnte man es nicht wissen. Jetzt steht es fest. N'est-ce pas, mon eher Ernest?« Ich hörte, der frühere Pasewalker Kürassier ziere bereits als Reserveoffizier die französische Armee. Und damit war alles im Hause Breuschheim wieder in Ordnung.

»Morgen gehe ich zu euerm Pfarrer und stifte eine Dankmesse«, sagte Vetter Léo.

Ich küßte die Eltern und zweimal den schönen, rotbraunen Truthahn auf beide Backen, ließ mir vom großen Bruder gönnerhaft über die Haare streichen, und eilte die Treppe hinab in die Speisekammer hinter der Küche. Holte Wein aus dem Keller und zog mit allem Nötigen in mein Zimmer, um zu soupieren.

 

Ich dachte: so saß ich hier, als Achtzehnjähriger, wenn ich mit dem letzten Zug aus Straßburg heimkam und auf Socken, mit dem Scharfsinn eines Verbrechers alles zusammensuchte, was Küche, Keller und Vorratskammer einem ausgehungerten Studenten bieten konnten. So saß ich später mit Doris, war es doch mein erstes gewesen, sie in diesem Sport der spät heimkehrenden Kinder auszubilden! Sie hatte es schnell zur Meisterschaft gebracht. Der Tisch war wie von Heinzelmännchen gedeckt, kaum, daß ich einige hundert Schritte im Garten zurückgelegt hatte – im grenzenlosen Machtgefühl eines, den die liebende Frau erwartet, und vor dessen Blick sich zahllose Liebesstunden gleich einer Flucht erleuchteter, menschenleerer Säle eröffnen, in deren tausend Spiegeln er mit vollen Zauberkräften wird walten und schalten können, Welten herausziehend, Welten verwerfend, nach seinem Belieben, und immer die Geliebte entzückend, indem er sich selbst beglückte!... Die Nächte jenes Sommers waren heiß, oft liefen wir noch im Schlafanzug in den Garten... Allerdings, unser Garten mußte für einen der schönsten der ganzen Erde gelten, ein Wunderwerk, weit und tief und bei Nacht nicht wieder zu erkennen für einen, der ihn nur tags gekannt hätte, ein Nachtgarten aber, durch den ein Erblindeter fände, der ihn einmal nachts gesehn. So, wie ich mich jetzt in ihm zurechtfand, ohne ein einziges Mal anzustoßen... Ein Garten, klar wie die Geometrie und üppig wie ein verzaubertes Schachbrett, auf dem die Figuren mitten im Spiel plötzlich in Gruppen von Bäumen und Büschen verwandelt worden wären, von einem »Gardez la Dame!«, das gleichzeitig einen Felsen von einem lachenden Bächlein entbunden hätte... Ach, Liebende gingen nachts in unserm Garten so sicher wie Schlafwandler, das konnte ich wohl bezeugen! Ja, aber war ich denn jetzt, war ich denn noch ein Liebender?

Ich hatte mich über den Balkon meines Zimmers gehoben und war auf den Weg zwischen den Frühjahrsrabatten abgesprungen. Da stand ich nun und fragte mich, fragte mich ernsthaft, ob ich noch unter den Liebenden weilte, erstaunt, daß mein Herz so klopfte, gierig und angstvoll zugleich... Ich hob das Haupt: vor mir im Himmel hing das weitgezogene M der Kassiopeia. Und da beschloß ich, an Maria Capponi zu schreiben, auf der Stelle. So sehr begehrte ich sie, Maria, sie!

Wirklich? Mein Fuß stockte. Wirklich? War es Maria, die ich begehrte? Hatte ich nicht die ganze Zeit nur an Doris gehangen mit meinen Gedanken, Wünschen, Begierden? Lebte von Maria auch nur ein Hauch in diesem Garten, den ich fiebernd durcheilte? Ein Mädchenkleid, ein weißes Sommerfähnchen, das dort an der Brücke flatterte, das war alles, was hier von Erinnerungen an Maria übriggeblieben. Dagegen Doris – oh, wie fühlte ich sie brennend nahe bei jedem Schritt! Aber war es denn, ohnmächtig griffen meine Arme, meine Augen, alle meine Sinne ins Dunkel, war es Doris, konnte es denn überhaupt Doris sein, die mich mit dieser unsichtbaren Hand anrührte, daß ich atemstickend zu Boden sank? Wann hatte mich Doris je im Leben so berührt ... vor jener Nacht ... in der Gletscherspalte? Nie! Dagegen Maria: ach, deren Hand war voller Magie. Sie brauchte sie nur zu heben, damit gleich alle Dinge darum zu atmen und zu glänzen begannen. Alles Licht des Tages strömte in sie, eine alabasterne Ampel hing sie in der Nacht, oder sie flog auf wie der Saum eines Flügels. Oh, schon die vergessenen Handschuhe auf dem Deckel des Konzertflügels im Hotel von Cap d'Antibes, in die ich tief einatmend das Gesicht gedrückt hatte! Die Handschuhe, mit denen sie hereinkam, und die sie langsam aufknöpfte, während sie mich, aus den Augenwinkeln lächelnd, aufmerksam betrachtete, und die plötzlich ihre Hände entblößten, erst die Rechte, dann die Linke, worauf sie mit ihren nackten Händen dasaß, schmal, glatt, gefährlich, mit Zähnen, die den roten Mund öffneten, mit Beinen, die niemals dicht schlossen, und die sich jetzt leise rührten, indes ihr Blick ins Bodenlose ihrer Augen zurücksank – wahrhaftig eine große Blume, ein Tier fast, das sich entfaltete! Die Handschuhe, die im Laden mit vielen fremden, gleichgültigen vermengt waren, bis die Verkäuferin, diese Kupplerin, das für Maria Capponi bestimmte Paar, das lange geheimgehaltene, vermummte, einzige, ihr Paar ihr in die Hände auslieferte...

Auf der Stelle wollte ich ihr schreiben, wenngleich ich sie wohl nicht mehr liebte, obwohl sie mich vielleicht nicht mehr liebte.

»Vielleicht« war ein Wort, so weit und so tief und so voller Lichter wie der Sternhimmel über mir. Vielleicht liebte sie mich noch? In dieses »Vielleicht« stürmte ich, die Fahne eines neuen Lebens entfaltet, mit erhoben gespreizter Hand, Musik in den Ohren...

Ich war in mein Zimmer zurückgeklettert. Unter unaufgeschnittenen französischen Büchern, die der Buchhändler nach unsrer Abreise im Sommer 1919 geschickt hatte, lag eine elsässische Zeitung aus jenem Monat. Von einem zufällig erblickten Satz geködert, begann ich zu lesen. Es war eine Verteidigung der niederträchtigsten Spitzelei. Nach dem Einmarsch der Franzosen hatten die Hausknechte in Elsaß-Lothringen (Elsässer! Elsässer – nicht Franzosen!) ein neues Inquisitionsgericht gebildet, commission de triage genannt, dahin rannten alle Wackern (Elsässer, nicht Franzosen), die sich eines Konkurrenten zu entledigen hatten, denunzierten, logen, verleumdeten und ließen ihn absetzen, entrechten, aus dem Lande weisen. Ich hatte mir sagen lassen, daß in dem Gericht manchmal ein anständiger Mensch gesessen und, würgend vor Ekel, versucht habe, das Schlimmste zu verhüten. Der Artikelschreiber schien das zu bestreiten, nach ihm war bei jenen Foltern nur »Recht geschehn«. An der Rheinbrücke hatten dann Lausbuben gewaltet, um die Vertriebenen mit Roßäpfeln zu bewerfen. Eine glorreiche Zeit für uns, jenes Jahr 1918-1919, notre guerre à nous, der elsässische Nachkrieg!

Ich schüttelte mich, aber schließlich, so unmenschlich dumm war die Gemeinheit, mußte ich laut auflache ...

»So will ich an einem Glase Sekt umkommen!« rief ich mit Falstaff.

Ich brach im Sektkeller ein, genau, wie ich es Doris gezeigt hatte. Ein Kinderspiel. Der Sektkeller war mit einer Lattentür abgeschlossen, und an einer langen Kette baumelte ein Vorhängeschloß. Also hob man die Lattentür aus den Angeln.

Das erste Glas leerte ich auf das Wohl meines Vaters.

»Nicht drei wackere Leute leben ungehangen im Elsaß,« sagte ich wiederum mit Falstaff, »und der eine von ihnen ist fett und wird alt. Gott helfe uns! Eine schlechte Welt! Ich wollt', ich wäre ein Quäker: ich könnte Psalmen singen oder sonst was.«

»A la tienne«, rief ich beim zweiten. Damit war Vetter Léo gemeint. Denn, daß es unter den Siegern Männer mit solchen Pausbacken gab, schien mir – was denn? ... ein Augenzwinkern Gottes. »Am Ende«, dachte ich, »schaffen sich die Militärs noch selber ab. Denn andre als sie bringen das Kunststück nicht fertig.«

»Kind, mach' dir nichts aus den Militärs«, hörte ich da in Gedanken meinen Vater ausrufen. »Paß auf, sie machen es nicht mehr lange. Sie sind viel zu teuer.«

Ich machte mir nichts aus den Militärs, wiewohl ich sie im Verdacht hatte, sie dächten schon wieder an ihr Handwerk – den verdammten Krieg.

Nein, ich hätte damals nicht im Elsaß bleiben können, vor meinen eigenen Landsleuten war ich desertiert – heute bekannte ich es ohne Scham. Damals allerdings hatte ich es bestritten, selbst Doris gegenüber, die nicht sah und nicht hörte, und die nur hatte bleiben wollen, hier bleiben, wo meine und Jacquots und also auch ihre Heimat war. »Ein halbes Jahr Ferien, Doris,« hatte ich gesagt, »ein halbes Jahr Friede in unserm Waldhaus, mit kleinen Ausflügen in die Schweiz, bitte, Doris – dann kommen wir wieder. Jacquot bleibt als Pfand in Breuschheim...«

Nun brachte ich es nicht über mich, ein drittes Glas zu trinken. Warum trank ich sonst? Um zu schlafen. Es war, als ob ich mich einmal (und ich wußte, wann) allzu blindwütig gegen den Schlaf gewehrt hätte und er mich seitdem flöhe, kaum daß die müde Hand sich nach ihm hob. So hatte ich denn zu den Zaubermitteln gegriffen, Narkotika und Wein – ach! es war nicht schwer für einen, der die Kunst verstand, der Schlaf ließ sich locken wie eine Meise und saß ihm zahm auf der Hand. Man konnte ihn hänseln, ihm zupfeifen, ihn jagen und aus dem Fenster klatschen – fort war er, und man brauchte nur die Hand zu heben, da saß er auch schon wieder gehorsam darauf. Die Kunst hatte ich im Zürcher Krankenhaus gelernt.

Heute aber wollte ich nicht schlafen, und ich hatte meine Gründe. Mir schien, ich brauchte mich nur ins Bett zu legen, in »unser Bett«, und gleich führe es wie ein Lift in die Tiefe, in die Gruft der Kapelle, zu Doris. Denn es war ja ebenso gut ihr Bett wie das meine. Sie konnte mit demselben Recht ihren Platz darin beanspruchen wie ich. Nicht, als ob ich im Ernst an eine solche Möglichkeit gedacht hätte! Nein, das nicht. Ich glaubte nicht geradezu an Bilder und Vergleiche, obzwar, ... obzwar sie einen oft genug nicht mehr von der Wirklichkeit trennten, als die Fensterscheibe den Mann draußen von dem andern, der ihn aus dem Innern der Stube anschaut. Kurz und gut, ich zog es vor, hier in meinem Arbeitszimmer zu wachen. Die Nacht war lau, und ich liebte mein Zimmer. Als Kind hatte ich darin gespielt, alles, aber auch in der Tat alles, was Kinder spielen, denn zwischen diesen vier Wänden, deren beide großen Fenster alles Licht des Himmels und auch den Abendstern einließen, hatte mich der Abbé Simon unterrichtet: wieviel hatte ich hier gelacht, geweint, wie mich bei sichtbarem Leibe versteckt und gebetet! Der Balkon war die Schiffslände meiner Jungensträume, das Zimmer das Kontor dazu, und beide hatte ich, wie sie waren, mit Doris geteilt, feierlich und in gutem Glauben, wie Kinder das tun, so daß es von diesem Augenblick an ebensowohl ihre Schiffslände und ihr Kontor gewesen war wie das meine... Mein Blick fiel auf eine unaufgezogene Photographie, die auf einer Ecke des Tisches lag. Das Bild zeigte Doris im Radfahrkleid vor dem Tor des Salemer Schlosses. Sie lachte mich an.

Ihr Götter – wer war Maria Capponi?! Eine braunhäutige Amazone, eine Fremde, die man im Walde fand, und die man im Walde verließ. In meinem Leben, im Hellen, unter den Dingen, die zählten, hatte es nur Doris gegeben, nur sie!

Ich sah auf die Uhr. Es war vier.

Außer mir wachte niemand mehr im Haus. Ich wußte es, wie ich wußte, daß Doris »tot« war, aber ich empfand es nicht. Ich trat auf den Balkon und blickte zum Gästehaus, zum Kavalierhaus hinüber, das sie im Dorf »Kavalleriehüs« nannten, und, da, im Eckfenster, wo Doris vor der Hochzeit gewohnt hatte, brannte Licht... Ich wagte mich nicht von der Stelle, krampfhaft hielten meine Hände das Balkongitter, ich wagte nicht, mich umzudrehn... Alle Muskeln gespannt, mit bebendem Gehör, wartete ich... Worauf? Daß Doris ins Zimmer träte? Nein, das war unmöglich, denn – sie lag auf dem Diwan und horchte nach mir, wie ich hier auf dem Balkon nach ihr. Wir lauschten auf unsere Atemzüge.

Gewaltsam lenkte ich meine Gedanken auf die Kapelle, wo sie »begraben« lag. Ich beschloß sogar, hinüberzugehn und mich zu überzeugen, daß eine der Steinplatten ihren Namen trug, mit ihrem Familienwappen in der einen Ecke, der Mörtel in den Fugen war noch frisch. Aber – wozu sich erst »überzeugen«? Ich sah sie ja vor mir, die Sandsteinplatte, so deutlich, wie wenn ich davor gestanden hätte. Obwohl ich die Kapelle heute nicht betreten, die Grabplatte noch nie mit leiblichen Augen erblickt hatte, sah ich sie dennoch, und das genügte. Ebenso konnte ich unter ihrem Namen den meinen lesen und in der andern Ecke das Breuschheimer Wappen erkennen, wie es wäre, wenn mein Sarg einmal neben dem ihren im Gewölbe stände. War ich darum etwa tot? Oder Doris weniger lebendig? Sagte mir nicht jeder Nerv, daß sie da war, fühlte ich nicht mit meinem ganzen Körper, wie sie drinnen auf dem Diwan lag und nach mir hin horchte?

Da – was war das? Eine rote, eine grüne Laterne. Ich schaukelte, roch Wasser und Kohlenrauch. Es war still. Wir schwammen auf dem nächtlichen Bodensee. Doris lag, von der Radfahrt ermüdet, auf dem Sofa der Kabine. Wir hatten auf dem Rad Salem besucht und dann in Überlingen das letzte Schiff nach Konstanz genommen ... Eine große Welle Helligkeit, Heiterkeit ging über mich hin! Ich sah, wie wir unter dem Tor des Salemer Schloßhofes durchfuhren, und hörte den Schlauch meines Fahrrads platzen. Pum! ...

Jetzt konnte ich das Geländer des Balkons loslassen und ruhig in mein Zimmer gehn. Die helle, fröhliche Welle bettete mich auf den leeren Diwan. Doris und ich fuhren auf dem Bodensee, sie ruhte auf der einen Seite der Kabine, ich auf der andern. Ich schloß die Augen und dachte an den vergangenen Abend... Es war um die siebente Stunde, und vom Himmel sank eine Güte, die speiste Wald und Feld. Eine Birkenallee, die rechter Hand einen sanften Bogen um die Wiesen schlug, hielt die zärtliche Stunde ernst im Arm Später gesellte sich der Straße ein Bach zu, sein dunkelgrünes Wasser floß um Perlenbänke. Linker Hand flog ein pfingstliches Leuchten über die Wiesen, das fast blendete, und alles Licht schaukelte, soweit wir blickten, auf den Millionen Spitzen des Grases, an vielen Stellen dunkler gefärbt vom Sauerampfer, an andern verwehend zwischen den zarten Büscheln von Schilfgras. Die Wiesen schwollen zu weiten Hängen, bis zum Wald, der, groß und still, seine schönste Krone trug über dem Tal... Jetzt blickten wir, der Weg war gestiegen, in dieses Tal hinab, es glich einem See, dessen Wasser sich verlaufen hatte – ja, bei einer plötzlichen Wendung des Kopfes, vom hellen Westen nach dem dunkleren Osten, glaubte ich wahrhaftig den Bodensee zu erkennen. Die Häuser schimmerten wie Wellen, die Wiesen waren fast blau...

In Lippertsreute nahmen wir einen Abendimbiß, indes der Schlosser einen neuen Schlauch um das Hinterrad legte. Wir waren beide vom Abend erregt, sprachen nicht, maßen uns nur mit Blicken, die uns von einem strengen und wollüstigen Gott in die Augen gelegt waren. Dorisens Locken (sonst leichtsinnige Mädchen, die selbst siegreiche Gladiatoren auslachten) ergaben sich, ohnmächtig über die Stirn hängend, ihrem Mund, der mit müdem Trotz das Antlitz beherrschte. Sicher blickte ich böse drein, denn ich hätte sie auf der Stelle besitzen mögen, in diesem verqualmten Wirtshauszimmer...

Wir fuhren weiter, nach Überlingen, und ließen die Räder laufen. Es ging einen ziemlich steilen Weg hinab: an Steingeländern vorbei, unter denen ein Bach rief, durch Wälder, in denen der Mond umging, Obstbäume begruben die Straße mit ihrem Gewölbe. So sanken wir, ohne die Füße zu rühren, in eine üppige Stadt am Südmeer, die von einem vergnügten Fest ausruhte! Noch hing die Freude, zwischen gewaltigen Schlafschatten, in mondweißen Teppichen bis auf die Mitte der Straße. Ein paar Lautenklänge irrten noch auf den Dächern. Ein junges Frauenlachen schlug auf mit dem bestimmten Klang eines Springbrunnens... Ich mußte mich wachrütteln, gähnen, mir die Arme um die Schultern schlagen, wiederum gähnen, so leibhaftig lebte ich im Geiste die Stunden jenes fernen Abends.

Vielleicht ist sie wirklich »tot«, dachte ich und erhob mich vom Diwan. Mit leisen Schritten begann ich, im Zimmer auf und ab zu wandern und alles aufmerksam zu mustern, Möbel, Bücher, Bilder. Vielleicht stimmt es. Aber in diesem Fall lebe ich zehnfach mit ihr, der Toten. Ich habe für unser Leben ein Gedächtnis, wie es mir früher völlig abging, ich weiß von ihr in einer Art, daß ich staune. Vielleicht ist sie tot. Aber sie ist da – wie nie zuvor. Wir leben miteinander – wie nie zuvor. Es sei denn, daß ich selber sterbe, in den Tod hinüberschlafe, daß ich mich mit allen meinen werbenden Gedanken beeile, sie trotz ihres Vorsprungs einzuholen...

Ich warf noch einen Blick durchs Zimmer, dann schlich ich die Treppe hinab und über einen langen Korridor, trat in Jacquots Stube, machte Licht. Er schlief, blond in seinem schmalen, weißen Bett, mit Backen so rot, als wären sie gemalt.

An der Tür war ich stehn geblieben, die Hand am Schalter. Das Bett stand neben mir an der Wand. Als das Kind sich rührte, löschte ich rasch das Licht. Leise in mich hinein lachend, lief ich den Korridor entlang, hörte meine Mutter husten, so wie man hustet, wenn ein andrer es hören soll, sagte mir: die alte Frau hat noch immer den leichten Schlaf der Mütter, überschlug in Gedanken ihr Zimmer, das große, mit blauer Seide ausgeschlagene Gemach (das Greisinnengesicht unter der Spitzenhaube, das die Liebe in lauter Falten gelegt hatte, um Platz darin zu finden, nistete in dem großen Raum nicht anders als wie eine Meise im Garten) und das lange, schmale Zimmer daneben mit der Tapete voller Märchenbilder, die, weil sie aus allen Sprachen genommen waren, ein zwischen ihnen verteilter Schwarm von Papageien verdolmetschte, diesen ersten, herrlichen, später in keinem Luxuszug der Erde wieder auffindbaren Schlafwagen, wo, blond, weiß und rot, Jacquot schlief. »Wir leben alle, gute Mutter, keiner von denen, die wir lieben, ist tot!«

Am Ende des Korridors stand eine Tür auf. Die Dusche, Boden und Wand mit weißen Kacheln belegt. Wenn der Vater aus den Feldern heimkam, duschte er hier und wechselte den Anzug. Ich warf die Kleider ab, zog an der Kette, sprang in den prasselnden Strahl. Keiner von denen, die wir liebten, war tot...

 

Der Morgen dämmerte. Ich nahm Abschied vom Garten. Er ließ sich nichts anmerken von seiner Verlegenheit, von mir in der vergangenen Nacht überfragt worden zu sein, und der Atem eines schönen Tages half ihm, indem er eine ganze Herde goldener Schäfchen über den Gipfel des Donon-Berges trieb. Er half sich selbst, indem er im Bächlein die Goldfische hieß, um die Steine herum nach der Schwanzflosse einer Forelle auszuschauen, und den Forellen, darüber abzustimmen, welche von ihnen so früh aus dem Bett sollte, um die Front der zahnlosen Schnapphähne zu durchbrechen. Da flitzte sie unter einem Stein heraus und in das nächstliegende Ufer, die Erwählte. Sicher hatte man das Versteck zuvor auf der Generalstabskarte ermittelt, sie wäre sonst nicht so unfehlbar geschossen.

Jenseits der Breusch klingelten die Schnitter gleich Meßdienern, sie schwitzten, soviel Tau hatten sie schon der Sonne vor der Nase weggeschnitten. Dann trat Stille ein. Die Sonne!

Schweigen.

Nur die Hähne, die das katholische Morgengebet nicht gelernt hatten, spektakelten weiter, die Dorftrottel! Als aber der Wetzstein wieder gegen die Sense klingelte und alle gut geartete Kreatur sich aus der Kniebeuge erhob, erwies es sich, daß die Hähne nicht etwa selbstsüchtig geredet und getatet, sondern im Gegenteil nur brav die Signale für die tägliche Formierung der Arbeitsbataillone geübt hatten, um, kurz gesagt, die Menschheit rechtzeitig auf den Trab zu bringen. Sie machten ihre Sache so gut, daß sie, je höher die Sonne stieg, um so entbehrlicher wurden. Sie empfanden es selber. Auf einmal schwiegen sie. Die Erwachsenen waren an der Arbeit, die Kinder in der Schule und die Herren der Welt fuhren im Auto zu ihren Befehlsständen.

Als ich, Punkt zwölf, mit Jacquot über die Breisacher Rheinbrücke kam, waren weit und breit keine Hähne mehr zu vernehmen, nur Zollbeamte. Zehn, vielleicht auch zwanzig Millionen Männer waren eines gewaltsamen Todes gestorben, damit dieser Familienvater mit der grünen Mütze Jacquots Taschen am großartig strömenden Rhein nach Schokolade durchsuchte. Jacquot hatte den Hut voll davon. Der Familienvater mit der grünen Mütze fand keine Schokolade.

»Hübscher Junge«, sagte Grether Fritz, als er den Jungen aus dem Wagen hob.

 

Jacquot aber war traurig. Dies war nicht die Schweiz. Er sah nicht das kleinste Schneefeld. Kein Zweifel, man erlaubte ihm nicht, die Mutter zu suchen. Als ich ihm, zum Ausgleich, erzählte, daß er in diesem Haus zur Welt gekommen, zuckte er die Achsel, genau so, als wollte er mich mit seinem ungeschickt nachgeahmten Achselzucken daran erinnern, daß er seiner Mutter Sohn sei und also gewisse Rechte auf sie habe... In seinem Gesicht, das er zu mir aufhob, stand lebensgroß der Vorwurf der Treulosigkeit.

Indes, als Kind war er an Überraschungen gewöhnt. Einmal aufmerksam gemacht oder auch nur von einem Argwohn erfaßt, liebte er es, ihnen zuvorzukommen... Die Nacht hatte ihm Rat gebracht. Am Morgen fand ich ihn im Dachstock, wie er in den leeren Gastzimmern suchte.


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