George Sand
Die Grille oder die kleine Fadette
George Sand

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Dreißigstes Kapitel

Anfangs empfand Sylvinet eine Art selbstsüchtiger Befriedigung, als er erfuhr, daß die kleine Fadette fort sei. Er schmeichelte sich damit, daß sein Zwillingsbruder künftig nur noch ihn allein lieben werde und ihn für niemanden in der Welt mehr verlassen würde. Allein die Dinge verhielten sich ganz anders. Wohl war es Sylvinet, den Landry nächst der kleinen Fadette am meisten liebte, aber dennoch konnte es ihm in seiner Gesellschaft nicht lange behagen, denn Sylvinet wollte sich von seinem Widerwillen gegen die Fadette durchaus nicht lossagen. Sobald Landry nur versuchte in seiner Gegenwart von ihr zu reden und ihn mit in sein Interesse zu ziehen, wurde dieser betrübt darüber und machte ihm Vorwürfe, daß er so hartnäckig an einem Gedanken festhalte, der ihren Eltern so widerwärtig und auch ihm höchst unangenehm sei. Von da an hörte Landry auf mit ihm darüber zu sprechen; da er aber nicht sein konnte, ohne von seiner Geliebten zu reden, teilte er seine Zeit zwischen Cadet Caillaud und dem kleinen Jeanet, den er mit sich herumführte, seinen Katechismus aufsagen ließ und ihn nach besten Kräften tröstete. Wenn man ihn mit dem Kinde an der Hand begegnete, hätte man sich gern lustig über ihn machen mögen, wenn man es nur gewagt hätte. Aber, ganz abgesehen davon, daß Landry sich niemals eine Verspottung gefallen ließ, worin es auch sein mochte, war er viel eher stolz darauf, als daß er sich geschämt hätte, seine Freundschaft für den Bruder von Fränzchen Fadet offen zu zeigen, und grade dadurch widersprach er dem Geschwätz von Leuten, welche da behaupten wollten, er habe wohlweislich seiner Liebe beizeiten den Zügel anzulegen gewußt. Mit großem Kummer sah Sylvinet, daß sein Bruder sich ihm nicht in dem Maße, wie er es wünschte, wieder zuwandte, und daß er sich nun gar darauf beschränken mußte seine Eifersucht gegen Cadet Caillaud und den kleinen Jeanet zu richten. Zu alledem mußte er es auch noch erleben, daß seine Schwester Nanette, welche ihn bisher immer getröstet und durch ihre zärtliche Fürsorge und zarten Aufmerksamkeiten wieder erquickt hatte, jetzt großes Wohlgefallen an der Gesellschaft eben jenes Cadet Caillaud zu finden schien, und daß diese Neigung von beiden Familien sehr gebilligt wurde. Der arme Sylvinet, der sich einbildete, er müsse die Gefühle von allen, die er liebte, nur ganz allein für sich besitzen, verfiel endlich in einen tödlichen Kummer. In ein sonderbares Hinbrüten versunken, verdüsterte seine Stimmung sich so sehr, daß man nicht mehr wußte, was man mit ihm anfangen sollte, um ihn nur etwas zufriedener zu sehen. Kein Lächeln trat auf seine Lippen, an nichts fand er mehr Geschmack und er vermochte kaum noch zu arbeiten, so sehr verzehrte er sich in seinem Schmerz. Schließlich welkte er dahin, sodaß man endlich für sein Leben zu fürchten begann; das Fieber verließ ihn fast nicht mehr, und wenn er es etwas mehr als gewöhnlich hatte, führte er Reden, als ob der Gram ihm die Vernunft zu erschüttern beginne, und die für das Herz der Eltern grausam anzuhören waren. Er, den man stets gehätschelt und verzogen hatte, mehr als alle anderen in der Familie, behauptete, daß er von niemanden geliebt werde. Er wünschte den Tod herbei, weil er ja doch zu nichts tauge; daß man ihn damit verschonen möge, ihn wegen seines Zustandes zu bemitleiden; er sei nur noch eine Last für seine Eltern, und es würde die größte Gnade sein, die der liebe Gott ihnen erzeigen könnte, wenn er sie von ihm erlösen wolle.

Manchmal, wenn der Vater Barbeau diese wenig christlichen Reden vernahm, tadelte er ihn streng deshalb. Es wurde aber nichts dadurch gebessert. Mitunter beschwor der Vater seinen Sohn unter Thränen, daß er seine Liebe doch besser erkennen solle. Dies machte die Sache noch schlimmer: denn Sylvinet fing an zu weinen, empfand heftige Reue und bat seinen Vater, seine Mutter, seinen Zwillingsbruder, ja die ganze Familie um Verzeihung. Wenn er bei solchen Gelegenheiten der übergroßen Zärtlichkeit seines kranken Gemütes einen freien Erguß gestattet hatte, kehrte das Fieber um so stärker zurück.

Man befragte aufs neue die Ärzte um Rat. Sie wußten nicht, was sie raten sollten. An ihren Mienen war es aber zu erkennen, daß sie der Meinung waren: das ganze Übel entstamme der Zwillingsschaft, die dem einen oder dem anderen tödlich sein müsse, folglich den Schwächsten von beiden hinwegraffen werde. Man befragte auch noch die Badefrau von Clavières, welche nächst der Sagette, die gestorben war, und nächst der Mutter Fadet, welche begann kindisch zu werden, die weiseste Frau des Bezirkes war. Diese geschickte Frau gab der Mutter Barbeau die folgende Auskunft:

»Es giebt nur ein Mittel Euer Kind zu retten, und dies ist: daß er die Frauen liebt.«

»Und grade die kann er nicht leiden,« sagte die Mutter Barbeau. »Nie hat es einen Burschen geben können, der stolzer und verständiger gewesen wäre; aber seit dem Augenblick, wo sein Zwilling sich die Liebe zu einer Frau in den Kopf gesetzt hat, begann er von allen Mädchen unserer Bekanntschaft nur noch böses zu reden. Er mißachtet sie alle, weil eine von ihnen, – und unglücklicherweise ist dies nicht die beste, – wie er behauptet, ihm das Herz seines Bruders geraubt hat.«

»Nun wohl,« sagte die Badefrau, die alle Krankheiten des Körpers und der Seele recht gut zu beurteilen wußte, »von dem Tage an, wo Euer Sohn Sylvinet eine Frau zu lieben beginnt, wird er sie noch viel heftiger lieben, als er jetzt seinen Bruder liebt. Das laßt Euch von mir im voraus gesagt sein. Er hat in seinem Herzen ein Übermaß von Liebesbedürfnis, und da er dies bis jetzt immer auf seinen Zwillingsbruder übertragen hat, vergaß er darüber, sozusagen, sein Geschlecht, und darin hat er sich gegen das Gebot des lieben Gottes verfehlt, nach dessen Willen der Mann eine Frau mehr lieben soll als Vater und Mutter, als Schwester und Bruder. Indessen tröstet Euch, denn es kann ja nicht lange auf sich warten lassen, daß die Natur in ihm erwachen muß. Und dann zögert nur nicht, die Frau, die er lieben wird, – mag sie nun arm oder reich, häßlich oder schön, gut oder böse sein, – ihm zum Weibe zu geben. Denn, allem Anscheine nach, wird er in seinem Leben nicht eine zweite lieben. Sein Herz ist einer außerordentlichen Treue und Ergebenheit fähig, und wenn schon ein Wunder geschehen muß, um seine Gefühle nur ein wenig von seinem Zwilling abzulenken, so würde es eines noch viel größeren bedürfen, um ihn von einer Frau zu trennen, der es gelungen wäre jenen aus seinem Herzen zu verdrängen.«

Die Ansicht der Badefrau schien dem Vater Barbeau sehr richtig zu sein, und er suchte Sylvinet bei den Familien einzuführen, wo es schöne und brave Töchter zu verheiraten gab. Aber, obgleich Sylvinet gewiß ein hübscher und wohlerzogener Bursche war, fühlten sich die Mädchen doch durchaus nicht zu ihm hingezogen, wegen seiner eignen gleichgültigen und traurigen Miene. Sie kamen ihm also nichts weniger als aufmunternd entgegen, und er selbst, der so schüchtern war, begann sie zu fürchten und bildete sich dazu noch ein, daß sie ihn gar verabscheuten.

Der Vater Caillaud, welcher der aufrichtigste Freund und der bewährteste Ratgeber der Familie war, trat jetzt mit einer anderen Meinung hervor:

»Ich habe es euch immer gesagt, daß es kein besseres Heilmittel giebt, als ihn fortzuschicken. Da seht einmal Landry! Er raste für die kleine Fadette, und doch hat er durch die Entfernung derselben weder an Vernunft noch an Gesundheit irgendwie eingebüßt; er ist sogar weniger traurig, als er dies, wie wir selbst bemerkten, ohne die Ursache davon zu wissen, schon oft gewesen ist. Jetzt scheint er nun ganz vernünftig geworden zu sein und sich gefügt zu haben. Grade so würde es mit Sylvinet gehen, wenn er einmal fünf oder sechs Monate lang seinen Bruder nicht mehr zu Gesichte bekäme. Ich werde euch das Mittel angeben, wie man sie ganz allmählich voneinander entwöhnen kann. Mit meiner Meierei in la Priche steht es gut; aber mit meinem Anwesen, das nach Arton zu liegt, steht es dagegen um so schlechter. Mein Großknecht, den ich dort habe, ist schon seit ungefähr einem Jahre krank und kann sich nicht wieder erholen. Ich will ihn gewiß nicht beiseite schieben, denn er ist wirklich ein tüchtiger und fleißiger Mann. Aber wenn ich ihm einen guten Arbeiter zur Unterstützung schickte, würde er sich gewiß wieder erholen, weil er vielleicht nur durch Überanstrengung krank geworden ist. Wenn es euch also recht ist, werde ich Landry dahin schicken, damit er den Rest des Jahres dort zubringen kann. Wenn er geht, darf aber Sylvinet nichts davon erfahren, daß es für längere Zeit ist. Wir sagen im Gegenteil, daß er nur auf acht Tage fort geht. Und, wenn diese acht Tage vergangen sind, sprechen wir von noch weiteren acht Tagen, und so treiben wir es fort, bis Sylvinet sich an die Trennung gewöhnt hat. Thut nach meinem Rat, statt immer der Laune eines Kindes zu stöhnen, das ihr zuviel verwöhnt habt, bis es euch über den Kopf gewachsen ist.«

Der Vater Barbeau war geneigt diesen Rat zu befolgen, aber die Mutter Barbeau erschrak davor. Sie fürchtete, dies könne für Sylvinet der Todesstoß sein. Es war daher nötig, daß man sich auf eine Unterhandlung mit ihr einließ. Sie verlangte, daß man zuerst den Versuch machen solle, Landry vierzehn Tagelang hintereinander im elterlichen Hause zu behalten, um zu sehen, ob es sich zunächst mit Sylvinets Gesundheit nicht bessern würde, wenn er seinen Bruder zu jeder Stunde um sich habe. Sollte sich im Gegenteil der Zustand des Leidenden verschlimmern, dann wollte sie sich den Ratschlägen des Vaters Caillaud ergeben.

Man kam also überein, in dieser Weise einen Versuch zu machen. Landry war gern bereit, wie man es von ihm verlangte, die bestimmte Zeit auf dem Zwillingshofe zuzubringen. Unter dem Vorwande, daß Sylvinet nicht mehr arbeiten könne, und daß der Vater seiner bedürfe, um den Rest des Getreides zu dreschen, ließ man ihn dahin kommen. Landry bot nun alles auf, seinen Bruder durch Sorgfalt und Güte zufriedenzustellen. In jeder Stunde suchte er ihn auf, schlief mit ihm in demselben Bette und pflegte ihn, als ob er ein kleines Kind gewesen wäre. Am ersten Tage zeigte sich Sylvinet hocherfreut; aber schon am zweiten behauptete er, Landry langweile sich bei ihm, und Landry war nicht imstande ihn von diesem Gedanken wieder abzubringen. Am dritten Tage geriet Sylvinet in Zorn, weil der Grashüpfer sich einfand, um Landry zu besuchen, und dieser es nicht über das Herz bringen konnte, das Kind wieder fortzuschicken. Endlich, gegen den Schluß der Woche mußte man die Sache wieder aufgeben, denn Sylvinet wurde immer ungerechter und anmaßender, und war zuletzt eifersüchtig auf seinen eignen Schatten. Man dachte also jetzt daran, den Plan des Vaters Caillaud zur Ausführung zu bringen. Landry, der so sehr an seiner Heimat hing, der seine Arbeit so gern verrichtete und seiner Familie und seiner Dienstherrschaft so ergeben war, war keineswegs besonders geneigt nach Arton unter lauter Fremde zu gehen. Dennoch unterwarf er sich allem, was man im Interesse seines Bruders von ihm verlangte.


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