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Sechsunddreißigstes Kapitel.
Das Theatersouper

Der Wagen hielt vor dem Theater, und Trent war Irene beim Aussteigen behilflich – ein wenig gezwungen vielleicht, aber doch nicht ungewandt. Es war kurz vor Beginn der Vorstellung. Beide nahmen ihre Plätze am Ende der Loge ein, Trent den an der Außenseite, während noch ein Sitz neben ihm freiblieb. »Ihr hättet euch ein wenig beeilen können!« rügte Lady Tresham.

»Wir sind ja noch zur rechten Zeit da!« erwiderte Irene und legte ihren Mantel über die Sessellehne.

Der Vorhang ging auf, und das Spiel begann. Es war ein modernes Drama aus der großen Welt, dessen Verlauf Trent mehr und mehr verwirrte. Gegen Ende des ersten Aktes tauchte ein schöner dramatischer Moment wie eine Rakete in der Dunkelheit auf. Das Publikum, bisher nur angenehm unterhalten, schien plötzlich gefesselt. Trent beugte sich vor. Der Fächer in Irenes Hand ruhte. Mann und Frau standen sich auf der Bühne gegenüber – das oberflächliche Gespräch, das sie bisher geführt, geriet ins Stocken. Der Mann, eines Vergehens wegen öffentlich und mitleidlos an den Pranger gestellt, wurde von der Frau in leidenschaftlich fließender Rede beschuldigt. Die Zuschauer wußten, was der Frau im Stück unbekannt war, daß der Mann nur aus Liebe zu ihr gesündigt hatte, um sie vor einer ihr Leben bedrohenden Gefahr zu bewahren.

Der Vorhang fiel, während die Frau mit einer letzten Drohung das Gemach verließ und der Mann am Tisch, unbeweglich und mit Augen, die nichts zu sehen schienen, ins Feuer stierte. Die Zuschauer atmeten auf und applaudierten.

Jetzt erst bemerkte Irene, wie sehr Trent an ihrer Seite in Gedanken vertieft war. Seine Hände umklammerten die Armlehnen seines Sitzes, seine Augen waren starr auf den Vorhang gerichtet, hinter dem das Drama wieder versunken war – als ob sie den schweren Stoff durchdringen und in das Zimmer sehen könnten, wo die Luft noch von der Heftigkeit, mit der die Frau ihre Entrüstung geäußert, erschüttert schien. Irene sprach ihn an, und der Klang ihrer Stimme riß ihn in die Wirklichkeit zurück.

»Gefiel es Ihnen?«

»Der letzte Teil sehr. Welch unerwarteter Umschlag! Erst fand ich das Stück ziemlich unbedeutend, doch nachher wurde es anders.« Er wandte sich zu ihr, und sie ward von dem großen Ernst seiner gestrafften Züge betroffen. »Der Mann sündigte aus Liebe zu einer Frau? War das richtig von ihm gehandelt? Kann eine Frau einem Mann verzeihen, der sie um ihretwillen betrog?«

Irene studierte aufmerksam das Programm. »Das kann ich nicht beurteilen. Das hängt von den näheren Umständen ab.«

Er holte schnell Atem und sah vor sich hin. Eine ruhige Stimme neben ihm flüsterte: »Die Frau würde ihm verzeihen, wenn sie ihn liebt.«

Trent blickte sich hastig um, und das Licht schwand aus seinen Augen. Den leeren Platz neben ihm hatte Hauptmann Francis eingenommen, der mit unwirschem Lächeln sein Erstaunen bemerkte.

»Ein langweiliges Stück. Finden Sie nicht auch? Übrigens, Herr Trent, bitte ich Sie, mich Fräulein Wendermot vorzustellen. Ich habe in Attra ihren Neffen kennengelernt.«

Irene hörte es und beugte sich lächelnd vor. Mit zusammengebissenen Zahnen machte Trent die beiden bekannt. Von diesem Augenblick an bis zu der Minute, da der Vorhang zum zweiten Akt aufging, beteiligte er sich nicht an der Unterhaltung.

Die Entwicklung der Handlung entsprach nicht ganz den geweckten Erwartungen. Im dritten Akt hatte Trent alles Interesse verloren. Plötzlich bekam er einen Einfall. Er nahm eine Visitenkarte aus der Tasche, schrieb hastig einige Worte darauf und reichte sie Lady Tresham.

Sie lächelte zustimmend. »Eine glänzende Idee, Herr Trent.«

Er nahm Hut und Mantel und flüsterte Irene zu: »Ich habe die ganze Gesellschaft zum Souper eingeladen. Ich werde im ›Milan‹ einen Tisch bestellen.«

»Wie nett!« strahlte Irene. »Aber sollen alle mitkommen?«

»Ja. Weshalb nicht?«

Zehn Minuten später hatte er das Milan-Restaurant erreicht. Der Geschäftsführer machte eine bedenkliche Miene. »Ein Tisch für achtzehn Personen, mein Herr? Dazu dürfte es zu spät sein. Höchstens in einem kleinen separaten Saal.«

»Den Damen wäre das Restaurant lieber,« antwortete Trent bestimmten Tones. »Sie müssen es ermöglichen. Die Zusammenstellung des Soupers überlasse ich Ihnen; aber es muß vom Allerbesten sein.«

Der andere verbeugte sich. Das war wahrscheinlich ein Millionär, wenn er im teuersten Restaurant Londons eine solche Sprache zu führen wagte. »Und für wen darf ich den Tisch reservieren?«

»Scarlett Trent – vielleicht kennen Sie mich nicht. Unter meinen Gästen aber befinden sich Lady Tresham, Lord Collestone und Graf Horthon.«

Man erhob keine Einwände mehr. »Wir werden aus dem Tisch eine T-Form machen, Herr Trent. Was für Blumen wünschen Sie?«

»Die schönsten, und soviel Sie nur bekommen können! Ich habe eine Hundertpfundnote bei mir und werde nicht ungehalten sein, wenn ich nicht viel von ihr zurückbekomme. Aber ich will gute Ware für mein Geld.«

»Werden Sie haben, Herr Trent!« beteuerte der Geschäftsführer mit Nachdruck – und er hielt Wort.

Als Trent vor dem Theater anlangte, strömten die Zuschauer bereits auf die Straße. Im Vestibül stieß er auf Irene und Francis. Sie waren in ernstem Gespräch begriffen, schwiegen aber bei seinem Auftauchen.

»Ich habe dem Herrn Hauptmann von Ihrer liebenswürdigen Einladung erzählt,« erklärte Irene.

»Ich hoffe, er wird sich uns anschließen,« bemerkte Trent kühl.

»Recht gern, mein Herr!«

Das Souper war in jeder Hinsicht ein Erfolg. Alle Gäste Lady Treshams hatten der unerwarteten Aufforderung stattgegeben. Jeder schien in glänzender Stimmung und froh, nach den Stunden des Schweigens im Theater nach Herzenslust plaudern zu können. Das Souper selbst erwies sich als erstklassig. Vom Kaviar und den Kibitzeiern bis zu den verschiedensten Eissorten war alles von auserlesener Qualität. Der Saal gehörte zu den schönsten Londons. Es dünkte Trent fast ein Traum, als er sich in seinen Stuhl zurücklehnte und die Gesellschaft überblickte – die Damen in Abendkleidern, geschmückt mit Juwelen, die in dem rotgedämpften Licht funkelten; die Fülle herrlichster Blumen, das schimmernde Silber und der in den Gläsern perlende Wein. Die Musik auf dem Balkon mischte sich mit dem leisen, fröhlichen Geplauder.

Nur ein Gesicht befand sich am Tisch, das ihn an die Launen der Glücksgöttin erinnerte – ein Gesicht, dessen er seit den letzten Stunden nur mit Haß gedachte. Doch Francis gehörte zu dem Kreis der andern; man kannte seine Familie, er schloß neue Freundschaften und frischte alte wieder auf.

Als die allgemeine Unterhaltung einen Augenblick stockte, schlug plötzlich eine Stimme laut an Trents Ohren: »Afrika ist ein Land der Überraschungen. Attra zum Beispiel erscheint mir ein trostloser Verbannungsort aller Weißen. Als ich das letztemal dort war, sah ich täglich einen betagten Greis, der in dem Gemüsegarten eines kleinen Missionshauses beschäftigt war. Stundenlang starrte er, auf seinen Spaten gestützt, immer mit dem gleichen leeren Blick aufs Meer. Endlich erzählte mir jemand seine Geschichte. Es war ein Engländer von guter Herkunft, der in jungen Jahren gestrauchelt war und seinen Leichtsinn im Gefängnis büßte. Als er wieder frei wurde, ließ er sich, um seiner Familie nicht zur Last zu fallen, für tot erklären und reiste unter falschem Namen nach Afrika. Dort ist er geblieben, mit zunehmendem Alter noch tiefer sinkend, manchmal im Begriff, sein Glück zu machen, aber im letzten Augenblick immer wieder in seinen Erwartungen enttäuscht; dazu verschiedenen schlechten Gewohnheiten ergeben, immer aber voll unbezwingbarer Sehnsucht nach Vaterland und Familie. Vor wenigen Monaten noch sah ich ihn, in der gleichen niedergeschlagenen Haltung. Ich kann nicht umhin, auch diesen Mann als Helden zu betrachten.«

Das Klirren von Gläsern, das leise Stimmengemurmel hatten während Francis' Erzählung geschwiegen. Jeder stand ein wenig unter dem Eindruck – die jetzt wieder einsetzende gedämpfte Musik war fast eine Erleichterung. Dann fielen hier und da mitfühlende Worte – nur Trent saß mit bleich gestrafftem Gesicht am Kopf der Tafel. Seine Augen schossen Feuer. Der Mann spielte falsches Spiel mit ihm. Er wagte nicht, Irene anzusehen; und er wußte, daß ihr Atem schwer ging, ihre Augen voll Tränen standen.

Die frühere heitere Stimmung bei den übrigen kehrte bald zurück. Eine halbe Stunde später löste die Gesellschaft unter lautem Lachen und Scherzen sich auf. Irene aber verließ den Gastgeber, ohne scheinbar die Hand, die er ihr entgegenstreckte, auch nur zu sehen. Er ließ sie wortlos gehen.

Als Francis ihr folgen wollte, legte Trents Hand sich schwer auf seine Schulter. »Ich muß Sie einen Augenblick sprechen, Herr Hauptmann.«

»Dann werde ich zurückkommen. Ich möchte erst Fräulein Wendermot zum Wagen begleiten.«

Doch Trent zog die Hand nicht zurück – und es war ein eiserner Griff, aus dem es kein Entkommen gab. Francis sagte nichts. Er kannte seinen Mann und wollte kein Aufsehen erregen. Daher blieb er, bis der letzte Gast gegangen war und ein riesiger Neger ihnen die Mäntel aus der Garderobe brachte.

»Begleiten Sie mich bitte!« forderte ihn Trent auf. »Ich habe Ihnen einiges zu sagen.«

Achselzuckend folgte ihm der andere.


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