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Einunddreißigstes Kapitel.
Verstohlene Geständnisse

Trent hatte schon viel Nervenaufpeitschendes erlebt, aber nie zuvor war er sich einer derartigen Spannung bewußt gewesen wie in den wenigen Augenblicken des nun folgenden Schweigens. Irene war ein Spielball der verschiedensten Stimmungen. Er hatte ihren Glauben an seine Schuld ins Wanken gebracht; er hatte sie von seinem Gesichtspunkt aus sehen gelehrt. Sie dachte sich in seine Lage, und das gab ihr kein angenehmes Gefühl. Einen Augenblick lang schien sie geneigt, ihm die Wahrheit über ihr Versteckspiel einzugestehen. Vielleicht waren ihre Vermutungen übereilt gewesen. Außerdem hatte die persönliche Bemerkung in seinen letzten Worten tiefen Eindruck auf sie gemacht. Auch war sie sich bewußt, daß ihr Schweigen ihn ermutigen mußte.

»Als ich Sie zum erstenmal sah,« begann er wieder, »fiel mir sofort die Ähnlichkeit auf. Ich hatte das Gefühl, jemandem zu begegnen, den ich bereits mein ganzes Leben lang kannte.«

Sie lachte gezwungen. »Und statt dessen kamen Sie zu der Entdeckung, das Opfer einer Journalistin geworden zu sein! Welche Enttäuschung! Von der Poesie in die Prosa!«

»Von Enttäuschung kann keine Rede sein. Sie glichen immer dem Bild – waren etwas Kostbares und Besonderes. Vielleicht bedeutet Ihnen das nicht viel. Ich stamme aus dem Volk und war ebenso roh wie die meisten Menschen meines Standes. Ich würde mir lieber die rechte Hand abhacken, als manche Dinge meines früheren Lebens wiederholen. Aber das geschah alles, als ich noch im Dunkeln lebte – bevor Sie kamen.«

»Herr Trent, wollen Sie mich bitte zu Lady Tresham bringen!«

»Sofort,« nickte er ernst. »Glauben Sie nicht, daß ich voreilig sein werde! Ich weiß, meine Zeit ist noch nicht da. Mehr möchte ich nicht sagen. Aber eines sollen Sie wissen: Der ganze Erfolg meines Lebens bedeutet nichts im Vergleich zu der Hoffnung, einmal – –«

»Kein Wort weiter, bitte!« Glühende Röte bedeckte ihre Wangen. Ihre Stimme vibrierte leicht. »Wenn Sie mich nicht begleiten wollen, werde ich meine Verwandte allein aufsuchen.«

Sie kehrten zurück, aber als sie ungefähr in der Mitte des Terrains angekommen waren, war an ein Weiterkommen nicht zu denken. Die Bahnglocken hatten das Hauptrennen des Tages angekündigt, und die Nummern der Starter wurden aufgezogen. Der Platz war von Menschen überfüllt. Vom Sattelplatz her klang Stimmengewirr, überall wuchs die Erregung, die einer bedeutenden Sportentscheidung stets vorangeht.

»Ich glaube, wir verfolgen das Rennen besser von hier aus,« riet Trent. »Es würde nur Ihrem Kleid schaden, wenn wir versuchten, uns durch die Menge zu drängen, und Sie würden wahrscheinlich doch nicht mehr rechtzeitig zu Ihrem Platz gelangen.«

Sie nickte schweigend. Sie wußte, daß er einstweilen nicht mehr auf das peinliche Gesprächsthema zurückkommen würde, obwohl er es nicht in Worten zu verstehen gab. Trent, der die nächsten Minuten voller Ungeduld herbeigesehnt hatte, mit dem gespannten Verlangen eines Turfneulings, der zum erstenmal einen Favoriten in einem Klasserennen laufen läßt, lächelte unwillkürlich, als er bedachte, wie gern er hier stehenblieb, wo man nichts sah, bis das Rennen vorüber war. Sie lehnten sich gegen einen Zaun.

»Haben Sie Iris gewettet?« erkundigte sich das junge Mädchen.

»Tausend Pfund nach beiden Seiten. Ich riskiere nicht viel. Da ich aber bereits früh zur Stelle war, bekam ich 10:1 und 7:2. Da! Es geht los!«

Lauter Stimmenschwall, gefolgt von atemloser Stille. Der Lärm am Sattelplatz nahm ab. Statt dessen hörte man erregte Ausrufe auf den Tribünen. In weiter Ferne sahen Irene und Trent auf der Bahn die kleinen farbigen Punkte heranrücken. Vielfältiges Tosen brausender Schreie.

»Nero II gewinnt!«

»Der Favorit ist geschlagen!«

»Nero II liegt immer noch vorn!«

»Iris – Iris! Iris kommt!«

Jetzt waren auch die Pferde zu sehen, Nero II und Iris galoppierten Gurt an Gurt, hinter ihnen ein dichtes Rudel. Schulter an Schulter stürmten sie durchs Ziel, so schien es wenigstens Irene und vielen andern, aber Trent schüttelte den Kopf und sah sie lächelnd an.

»Iris ist geschlagen. Nur gut, daß Sie nicht auf den Gaul setzten. Das Pferd des Prinzen ist übrigens allererste Klasse.«

»Wie schade, daß Sie verloren haben! Wissen Sie es auch bestimmt?«

Er zeigte auf die Nummern, die das Resultat bekanntgaben. Sie sah ihn flüchtig an mit einem Blick, der ihn für seinen Mißerfolg voll entschädigte. Wenigstens an diesem Tage hatte er sich ihre Achtung verdient. Er war ein Mann, der eine Niederlage würdig zu tragen wußte. Langsam schritten sie über das Feld und blieben in der ersten Reihe einer Menschenmenge stehen, als ein schlanker Herr unter tobendem Beifallssturm den Sieger zur Wage geleitete.

Zufällig bemerkte er Trent, streckte ihm die Hand entgegen. »Iris hat sich wacker gehalten, Herr Trent! Ich fürchte, nur durch einen Zufall gewonnen zu haben. Hoffentlich sind Sie das nächstemal glücklicher!«

Trent antwortete mit einigen schlichten Worten, doch ohne jede Gezwungenheit. Sein Pferd wurde herangeführt, und er drückte dem geschlagenen Jockei die Hand, während er mit der Linken der dampfenden Stute den Hals klopfte.

»Es macht nichts!« sagte er freundlich. »Sie haben prachtvoll geritten! Nur das schnellere Pferd hat gewonnen!«

Verschiedene Bekannte näherten sich Trent, aber er wandte sich Irene zu. »Darf ich Sie zu Lady Tresham bringen?«

»Bitte!« antwortete sie ruhig.

Er schlug einen Seitenweg zu einer Bank unter einer Ulme ein, wohin sie ihm nach einem Augenblick des Zögerns folgte. Innerlich frohlockte er. Wenn dies eine Niederlage war – was in der Welt konnte dann köstlicher sein?

»Dies ist gewiß Ihr erstes Rennen?«

Er nickte.

»Und Ihre erste Niederlage?«

»Ich glaube wohl«, erwiderte er heiter. »Trotzdem hatte ich zu siegen gehofft.«

»Dann sind Sie nun sehr enttäuscht?«

»Ich habe den ›Goldenen Becher‹ nicht errungen – aber dafür habe ich ...«

Sie erhob sich und strich die Falten ihres Kleides glatt, als ob sie weitergehen wollte.

Er bedachte sich und gab seinem Satz einen anderen Schluß. »... Erfahrungen gewonnen.«

Ein schwaches Lächeln spielte um ihre Lippen. Sie nahm wieder Platz. »Ich freue mich, daß Sie so philosophisch veranlagt sind. Erzählen Sie mir doch, bitte, noch etwas über Ihre Erlebnisse in Afrika!«

Er tat nach Ihrem Wunsch, und bald vergaß sie die elegant gekleideten Damen und Herren ihrer Umgebung, das fröhliche Stimmengewirr, die Musikkapelle, die die Schlager des Tages spielte. Statt dessen sah sie eine Menschenschar aller möglichen Rassen, bis zu den Hüften entblößt, sich unter der Glut der tropischen Sonne plagen, als ob ihre Seligkeit davon abhinge; sie sah, wie die großen braunen Wasserkrüge von Hand zu Hand gingen, wie Männer von der Hitze ohnmächtig und ihre Plätze von anderen eingenommen wurden. Sie hörte die schrillen Alarmpfeifen, die Trommelwirbel; sie sah das Gewehr den Spaten ablösen und die lange Arbeiterreihe hinter der natürlichen, durch das Ausschachten aufgeworfenen Verschanzung verschwinden. Sie sah dunkle Gestalten sich verstohlen aus dem hohen Gras lösen, sah das Funkeln blitzender Speere und hörte wildes Kriegsgeschrei. Ein Drama aus dem Erleben des Mannes neben ihr entfaltete sich vor ihren Augen zu bildhafter Wirklichkeit. Daß der Erzähler sich selbst dabei völlig ausschaltete, täuschte sie nicht. Sie erblickte ihn vielleicht deutlicher als alle anderen, als Mittelpunkt des Ganzen – als die hervorragende Persönlichkeit, die kraft ihrer Energie eine solche Riesenaufgabe zu bewältigen vermochte. Manche Sätze aus Freds Brief hatten sich tief in ihr Gedächtnis gegraben und wurden jetzt wieder heraufbeschworen.

Eine unbeschreibliche Rührung beschlich Irenes Herz. Sie konnte nicht mehr an diesen Mann wie an einen Ungebildeten denken, einen Parvenü ohne Manieren und Phantasie. In vieler Hinsicht zog er den Kürzeren, wenn man ihm den Maßstab ihrer Standesangehörigen anlegte. Aber sie erkannte plötzlich, daß er etwas besaß, das ihn alle anderen weit überragen ließ. Er hatte Genie! Neben ihm schienen die Menschen auf dem Rasen plötzlich wie Puppen. Ihre selbstverständlichen Umgangsformen und die Ungezwungenheit ihrer Sprechweise verloren unvermittelt an Bedeutung. Der Mann an ihrer Seite besaß das alles nicht, und doch gehörte er einer größeren Welt an. Sie fühlte ihre Feindseligkeit schwinden; nur ihr Stolz konnte ihr jetzt helfen – und sie rief ihn mit aller Kraft zu Hilfe. Er war doch der Mann, von dem sie bestimmt annahm, er trüge am Tod ihres Vaters Schuld – der Mann, den sie in die Falle locken wollte! Krampfhaft verscheuchte sie die gefährliche Stimmung, die sie zu milderem Denken einzulullen drohte.

Trent dagegen fühlte warme Freude in sich, als er bedachte, wie ihm ein guter Stern an diesem Tage zuzulächeln schien. Wenn er auch noch nicht zu Irenes Kreis gehörte, so wußte er doch, daß dies nur eine Frage der Zeit war. Er sah durch das grüne Blätterdach zum blauen Firmament, an dem weiße Lämmerwölkchen trieben. Er fragte sich, ob sie wohl vermutete, daß alles – seine Anwesenheit auf der Rennbahn, »Iris« Erwerbung und die peinliche Sorgfalt, mit der er sich den Händen eines erstklassigen Schneiders anvertraute – ihretwegen geschah.

Von der Seite warf er einen Blick auf sie – ein reizendes Bild, von den tadellosen weißen Schuhen bis zum weißen Filzhut. Das Kostüm war so einfach, wie es nur ein kunstverständiger Geschmack erdenken konnte. Sie trug keinen Schmuck außer einer schmalen Armbanduhr.

Aber inzwischen rüstete sich das Schicksal zu einem Schlag, der ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel treffen sollte.


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