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Glas und Eisen

Des Hammers Schlag
Zertrümmert Glas,
Macht hart den Stahl

Wir glauben alle daran, daß das Eisen Rußlands heute unter dem Schmiedehammer zu Stahl wird. Was aber das Eisen unter dem Hammer sagt, das hören wir nicht. Das Volk ist noch immer stumm, und sein Schweigen ist vielleicht das Allerschrecklichste in diesen schrecklichen Tagen.

Dafür hören wir aber das zerbrechende Glas klirren. Es ist wohl überhaupt das einzige, was wir hören. Wieviel zerschlagenes Glas gibt es auf einmal, wieviel klirrende Scherben und Splitter! Wie wenn das Treibhaus, in dem wir bisher wuchsen und blühten, aus einmal eingestürzt wäre und wir über uns statt des gläsernen Himmels einen echten Himmel erblickten: wie schwarz, wie rot ist dieser Himmel!

Da liegt so ein Haufen Glasscherben: es ist der russische Nationalismus, jener gotteslästerliche Glaube an sich selbst, der wie ein Tier heult: »Gott ist mit uns! Mit uns allein und sonst mit niemand!« Wenn uns doch jetzt Gottes Hand treffen wollte, damit wir begreifen, daß Gott nicht nur mit uns allein ist!

Ist es lange her, daß der russische Nationalismus die »Ansiedlungsgrenze für die Juden« als unwankbare Mauer errichtete? Wo ist jetzt diese Mauer? Sie ist hinweggefegt wie ein Spinnengewebe, doch leider weniger durch die russische Gutmütigkeit als durch den Einmarsch der Deutschen.

Ist es lange her, daß der russische Nationalismus, wie ein Wolf die Zähne fletschend, sich über Galizien stürzte? Und wo ist heute dieses Galizien?

Ist es lange her, daß der russische Nationalismus die Polen ebenso zu kaufen trachtete, wie einst Tschitschikow Tschitschikow – Held der Gogol'schen »Toten Seelen«. Anm. d. Ü. die toten Seelen? Und wo sind jetzt die Polen?

Im letzten August noch sprach jemand von den »Tapferen«, daß er sich die Hand abhauen lassen wolle, wenn wir nicht in spätestens zwei Monaten in Berlin wären. Wo ist diese abgehauene Hand?

Warum schweigen diese »Tapferen« jetzt? Wo haben sie sich versteckt?

Man muß sich schämen, man will vor Scham in die Erde versinken.

Und wenn es nur ein Häuflein Wahnsinniger wäre! – Aber fast die ganze russische Gesellschaft ist so vom Nationalismus geblendet. Ach, wenn sie doch wenigstens jetzt, wo sie mit Strömen kalten Wassers überschüttet wird, zur Besinnung kommen wollte!

Ein zweiter Haufen von Glasscherben ist die »Einigkeit«, die Abschaffung der Scheidung in »wir« und »sie«. Rußland wird wohl schneller »einig« werden, als es sich die »Einer« denken. Dann wird es auch siegen: vielleicht zweifelt jemand von »ihnen« an dem Sieg, – von »uns« zweifelt niemand! Das einige Rußland wird durch den Hammer des Krieges geschmiedet. Die Einigkeit wird bald kommen, heute ist sie aber noch nicht da. Darum gibt es ja auch noch keinen Sieg, weil es kein einiges Rußland, sondern zwei Rußland gibt. Und wenn auch das eine von den beiden nur ein trügerisches Gespenst, ein Doppelgänger ist – solange es den Doppelgänger gibt, muß man ihn bekämpfen. Und wehe uns, wenn wir in diesem Kampfe unterliegen, wenn wir den Worten des Doppelgängers Glauben schenken: »Du bist ich. Ich und du sind eins.«

Das ist ja eben so schrecklich, daß es jetzt zwei Rußland gibt, zwei Kriege, zwei Feinde, – und daß wir nicht wissen, welcher von ihnen der gefährlichere ist.

Um dieses Schreckens Herr zu werden, müssen wir ihm gerade in die Augen blicken. Wir wissen nicht, welcher von den beiden Feinden der gefährlichere ist; laßt uns darum gegen alle beide so kämpfen, wie wenn beide gleich gefährlich wären. Wir stehen zwischen zwei Feuern; das ist schlimm; noch schlimmer ist es aber, aus dem einen Feuer ins andere zu stürzen. Wir wollen nicht mehr auf die Einflüsterungen der Verräter hören: »Versöhnt euch mit dem einen Feinde, um den andern bezwingen zu können!« Laßt uns hoffen, daß es nur einen Sieg über die beiden Feinde gibt. Nur ein freies Rußland kann siegen; nur ein siegreiches kann frei werden. Man kann aber nicht zuerst frei werden, um nachher zu siegen, oder zuerst siegen, um nachher frei zu werden: man kann nur beides zugleich.

Die höchste Wahrheit des Nationalismus ist der »Patriotismus«, die Liebe zum Vaterlande. Patriotismus ist kein russisches Wort: für den nächsten, lebendigsten Begriff haben wir ein totes Fremdwort. »Liebe zum Vaterlande« – drei Worte statt des einen fehlenden. Es ist, als ob das Volk von seiner Liebe zum Vaterlande nicht sprechen wollte. Es liebt schweigend. Man muß sich vom Volke loslösen, um sagen zu können: »Ich liebe das Volk, ich liebe das Vaterland.« Wenn die Mutter im Sterben liegt, spricht doch der Sohn nicht davon, wie sehr er sie liebt. Vom Heiligsten darf man nicht sprechen: Scham und Scheu hindern uns daran. Vor nicht langer Zeit sprachen wir von unserer Liebe zum Vaterlande ohne jede Scham und Scheu. Und jetzt, wo diese Liebe wirklich notwendig ist, haben sich alle unsere Worte als hohles Glas erwiesen. Wer heute liebt, der schweigt.

Ist die Liebe zum Vaterlande die höchste Wahrheit in diesem Kriege? Wir lieben das unsrige, die Deutschen das ihrige, vielleicht sogar nicht weniger als wir. Wenn wir keine höhere Wahrheit besitzen, so wird der Sieg nicht durch die Wahrheit sondern durch die Macht entschieden werden: wer die Macht hat, der hat auch das Recht.

Um jemand zu kennen, muß man ihn lieben. Wir kennen heute die Deutschen nicht, weil wir sie nicht lieben. Daß sie alle »Tiere« seien, ist so dumm, daß es davon gar nicht zu reden lohnt. Augenblicklich kennen wir sie nicht, wir können uns aber aus alter Erfahrung wohl vorstellen, daß es unter ihnen auch gute Menschen gibt, die ebenso denken wie wir. Wir glauben, daß das alte gute Deutschland Goethes und Schillers noch lebt.

Die Deutschen sind ja sonst ein vernünftiges Volk, Und wenn die Vernunft alles ist, wenn es im Menschen und in der Menschheit nichts außer der Vernunft gibt, so sind sie auch jetzt vernünftig, die ganze übrige Menschheit ist aber wahnsinnig. Aber die Behauptung, daß die Vernunft alles sei, ist der größte Wahnsinn, Raserei nicht des Wollens, nicht des Gefühls, nicht der Leidenschaft, sondern Raserei der Vernunft selbst. Es ist schrecklich, wenn ein gewöhnlicher Mensch rasend wird; um wieviel schrecklicher ist aber »ein wahnsinnig gewordener Kant«, eine »rasende Vernunft«.

Die Deutschen sind metaphysisch geschult und in ihrer Metaphysik konsequent. Sie zogen aus dem Nationalismus den durchaus richtigen, aber von niemand noch gemachten Schluß: die Bejahung der Nation als eines Absoluten, die Bejahung der nationalen Wahrheit als der allmenschlichen. Der Schluß ist richtig, aber die Prämisse ist wahnsinnig.

Vielleicht irren wir auch, vielleicht ist das würdigste Ende der Weltgeschichte die Kaserne, und wenn auch in Gestalt einer sozialdemokratischen Republik, – die Menschheit kann aber ein solches Ende nicht hinnehmen; und wenn sie sich nicht retten kann, so ist es besser, wenn sie Selbstmord begeht: sie kann nicht auf einer so geschändeten Erde leben.

Weder der Historiker, noch der Politiker, noch der Soldat selbst wissen, was der Krieg ist; das weiß der Landmann, dessen Feld verwüstet ist, der Künstler, dessen Werk vernichtet ist, die Mutter, deren Sohn gefallen ist. Aber auch sie sagen: »Wir wollen keinen Frieden, wir wollen den Krieg bis ans Ende!«

Laßt uns also bis ans Ende kämpfen und eingedenk sein, daß in diesem Kriege nicht die Liebe zum Vaterlande und zum Volke siegen wird, sondern die Liebe zu allen Völkern, zur ganzen Menschheit.

Soll nur unter dem schweren Hammer des Krieges das Glas zersplittern und das Eisen zu Stahl werden. Das Glas klirrt, – es schweigt das Eisen. Wir aber wissen schon, was es sagen wird:

»Keinen Frieden, keinen Frieden, keinen Frieden, solange wir nicht gesiegt haben,« wird das Eisen sagen.


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