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Tschaadajew (1794-1856)

Adveniat regnum tuum

I.

Im vorigen Jahre jährte sich zum hundertzwanzigsten Male der Geburtstag des Pjotr Jakowlewitsch Tschaadajew, und niemand dachte daran, diesen Tag zu feiern; im nächsten Jahre wird wohl auch niemand der sechzigsten Wiederkehr seines Todestages gedenken. Wir haben jetzt zwar ebensoviel Jubiläen wie Denkmäler auf den Friedhöfen, Tschaadajew ist aber vergessen. Für solche Männer haben wir ein kurzes Gedächtnis.


»Es war wie ein Schuß in finsterer Nacht; ob irgend etwas unterging und seinen Untergang verkündete, ob es ein Signal oder ein Hilferuf war, die Kunde vom nahenden Morgen oder von Dingen, die noch kommen werden, – jedenfalls mußte man erwachen.« So beschreibt Herzen die Wirkung des »Philosophischen Briefes« von Tschaadajew (1836).

»Seitdem in Rußland Bücher geschrieben und gelesen werden; hat noch kein einziges wissenschaftliches oder literarisches Ereignis eine so große Wirkung gehabt und eine so schnelle und lärmende Verbreitung gefunden,« berichtet ein anderer Zeitgenosse (Schicharjow) über denselben »Brief«.

Der Brief ist ein »Racheakt«, ein »erzwungener Fluch« gegen Rußland. »Gebt jede Hoffnung auf.« Rußland geht zugrunde. Seine Vergangenheit ist leer, seine Gegenwart unerträglich, eine Zukunft hat es aber überhaupt nicht. Rußland ist nichts als »eine Lücke im Verstande, ein abschreckendes Beispiel, das den andern Völkern zeigen soll, wozu die Sklaverei und gegenseitige Entfremdung führen können.«

So wurde Tschaadajew von Herzen aufgefaßt; so faßten ihn auch alle andern auf: die Slavophilen und die Westler, die Liberalen und die Konservativen, die Klugen und die Dummen, die Anständigen und die Gemeinen.

Es entstand eine solche Panik wie in einem aufgewühlten Ameisenhaufen. »Alles vereinigte sich in einem einzigen Aufschrei der Empörung und der Verachtung für den Menschen, der sich erdreistet hatte, Rußland auf diese Weise zu beschimpfen.«

»Tschaadajews Brief ist nichts als eine Verneinung jenes Rußlands, das Karamsin Karamsin (1766-1826) – berühmter russischer Historiker. Anm. d. Ü. nach dem Leben gezeichnet hat.« (Fürst Wjasemskij.) – »Tschaadajew ergoß über sein Vaterland einen so furchtbaren Haß, wie er ihm wohl nur von den höllischen Mächten eingeflößt sein kann.« (Tatischtschew). – »Man hat unsere geliebte Mutter beschimpft und ins Gesicht geschlagen ...« (Wiegel). – »Es ist der Kampf gegen unser Blut, gegen die Asche unserer Väter, gegen uns und alles, was unser ist ... Es ist der Gipfel des Wahnsinns ... Für so etwas sperrt man einen Menschen ins Irrenhaus.« (Fürst Wjasemskij).

Man wandte sich an den Metropoliten Seraphim, daß er gegen den »gotteslästerlichen Brief« einschreite, in dem »der Glaube und das Vaterland so frech beschimpft werden«. Die Moskauer Studenten äußerten gegen den Kurator der Universität, den Grafen Stroganow, den Wunsch, »mit den Waffen in der Hand die Ehre des beleidigten Rußland zu rächen«. – »Sibirien, die Katorga, die Knute, die Festung wären eine noch zu gelinde Strafe für diesen Verräter an seinem Vaterlande und an seinem Gott.« (Marquis de Custine).

Selbst der klügste von allen Russen, Puschkin, hatte Tschaadajew nicht verstanden: »Ich schwöre es bei meiner Ehre, daß ich kein anderes Vaterland und keine andere Geschichte haben möchte, als die, die uns Gott gegeben.« Als ob Tschaadajew ein anderes Vaterland haben wollte!

»Glauben Sie mir, ich liebe mein Vaterland wohl mehr als irgend jemand ... Ich verstehe aber nicht, mit geschlossenen Augen, gesenktem Kopf und stummen Lippen zu lieben ... Ich glaube, daß wir unserm Vaterlande vor allen Dingen die Wahrheit schulden,« antwortete Tschaadajew in seiner »Apologie eines Verrückten« allen seinen Anklägern, darunter auch Puschkin.

»Die Vergangenheit Rußlands war bewundernswert, die Gegenwart ist mehr als glänzend, und die Zukunft wird alles übertreffen, was sich selbst die kühnste Phantasie ausmalen kann: nur von diesem Gesichtspunkte aus soll man die russische Geschichte betrachten und darstellen,« pflegte Graf Benckendorff, der Chef der Gendarmen unter Nikolai I., zu sagen. Tschaadajew liebte sein Rußland natürlich ganz anders.

Kaiser Nikolai Pawlowitsch schrieb auf den »Philosophischen Brief« folgende Resolution: »Ich las den Aufsatz und finde, daß sein Inhalt ein frecher und wirrer, eines Verrückten würdiger Unsinn ist.«

Nun erinnerte man sich, daß Tschaadajew einst dem Verband der »Öffentlichen Wohlfahrt« und vielleicht auch der Geheimen Gesellschaft vom 14. Dezember angehört hatte, und versuchte, einen Zusammenhang zwischen dem »Brief« und irgendeiner »politischen Sekte«, vielleicht sogar einer Verschwörung zu konstruieren.

Man setzte eine Untersuchungskommission ein. Obwohl natürlich keinerlei Verschwörung aufgedeckt wurde, bekamen die »Schuldigen« harte, selbst nach den Begriffen jener Zeit grausame Strafen zudiktiert: die Zeitschrift »Teleskop«, in der der »Brief« abgedruckt war, wurde verboten, der Redakteur Nadeschdin nach Ust-Ssysolsk verbannt, der Zensor Boldyrjow abgesetzt, und Tschaadajew selbst auf allerhöchsten Befehl für »verrückt« erklärt, was dem Militärgouverneur von Moskau durch einen eigenen Ukas mitgeteilt wurde.

So wiederholte sich die Geschichte Tschatzkijs in »Verstand bringt Leiden«. »Verstand bringt Leiden« – klassisches Lustspiel von Gribojedow Tschatzkij – dessen Held. Anm. d. Ü. Und niemand wunderte sich über diese nie dagewesene Strafe.

Es war noch eine besondere Gnade für Tschaadajew, daß man ihn nicht ins Irrenhaus sperrte, sondern der »polizeiärztlichen Aufsicht« unterstellte.

Er war wohl ein Weiser, doch kein Märtyrer. Wie es bei kühn denkenden Menschen oft der Fall ist, erwies er sich, wo es zu handeln galt, als feig. In den ersten Augenblicken tat er zwar sehr tapfer und erklärte, daß er »sich von seinen Gedanken nicht lossage und bereit sei, sie mit seinem Blute zu unterschreiben«; schließlich hielt er es aber doch nicht aus.

»Als ihm der Ukas (von seiner Verrücktheit) vorgelesen wurde,« meldete der Chef der Moskauer Gendarmerie dem Grafen Benckendorff, »erschrak er, wurde bleich, weinte und war nicht imstande, auch nur ein Wort zu sagen. Schließlich nahm er sich doch zusammen und sagte mit bebender Stimme: ›Es ist gerecht, durchaus gerecht!‹ Und er bezeichnete seinen Brief als ›verrückt und gemein‹.«

»Tschaadajew ist durch die Strafe aufs Tiefste erschüttert,« berichtete Alexander Turgenjew. »Er sitzt zu Hause, ist plötzlich furchtbar abgemagert und hat seltsame Flecken im Gesicht bekommen ... Ich fürchte, daß er nun tatsächlich verrückt wird.«

»Ich muß jeden Tag die Herren Arzte empfangen, die mich ex officio besuchen. Der eine von ihnen, ein betrunkener Stabsarzt, beschimpfte mich neulich auf die gemeinste Weise,« berichtete später Tschaadajew selbst.

Ist dieser betrunkene Stabsarzt, der den verrückten Philosophen beschimpft, nicht ein ewiges Symbol der russischen »Aufklärung«?

»Ich sehe vorläufig noch kein Ende ab und kann mir, offen gestanden, gar kein Ende vorstellen. Einem Menschen zu sagen: ›Du bist verrückt‹, ist gar nicht schwer; wie kann man ihm aber sagen: ›Nun bist du wieder bei Vernunft‹? ... Die irdischen Grundlagen meines Seins sind nun für ewig erschüttert.«

Nach einem Jahr wurde er von der »polizeiärztlichen Aufsicht« befreit, doch unter der Bedingung, daß er sich nie wieder unterstehen dürfe, etwas zu schreiben.

 

II.

Tschaadajew wurde zwar nicht verrückt, aber seine ganze Existenz war auf einmal »auf den Kopf gestellt«: er konnte sich nie wieder erholen. Er schloß sich in sich selbst ein, zog sich in sein Gehäuse zurück, erstarrte, wurde zu Stein, zu einem lebenden Leichnam und verbrachte die letzten zwanzig Jahre seines Lebens in Moskau, der »Nekropolis«, in der Stadt der Toten wie ein Toter.

Wie tot lag ich im Wüstensand ... Aus dem Puschkin'schen Gedicht »Der Prophet«. Anm. d. Ü.

»Mein lächerliches Leben ... Im Traurigsten steckt immer auch etwas Lächerliches,« sagte er mit bitterem Lächeln. Die Strafe der »Verrückterklärung«, die Strafe der Lächerlichkeit – dieses Mal blieb auf ihm haften. Man sprach von ihm nur noch als von dem »Weisen von der Basmannaja«, dem »kahlköpfigen falschen Propheten«, dem »Philosophen für Frauenzimmer«, dem »Beichtvater der alten Damen«, dem »kleinen Abbé«.

Er ist ein Mann seiner Zeit – Stabs-Rittmeister in einem Leibgarde-Husarenregiment a. D., echter russischer Gutsbesitzer (obwohl er sein Gut verkauft hat, um keine leibeigenen Sklaven zu besitzen), verwöhnter, verzärtelter, fauler, müßiger und verschuldeter Grandseigneur.

In seiner Jugend war er hübsch und elegant gewesen und ist bis an sein Ende um sein Äußeres besorgt. »Er ist wie ein kokettes Frauenzimmer: ganze Stunden verbringt er am Toilettentisch, putzt sich die Zähne, die Nägel, schminkt sich, wäscht sich und besprengt sich mit Parfüm ...«

Er ist ängstlich wie alle Hypochonder (in der Jugend ließ er sich gegen die »Hypochondrie« wie gegen eine richtige Krankheit behandeln). Vor der Cholera hat er eine lächerliche Angst. »Mir scheint immer, daß er ein wenig verrückt ist ... Ich möchte ihm in zarter Form andeuten, daß man seinem lieben Ich weniger Aufmerksamkeit schenken soll, daß man nicht fünf Halsbinden an einem Vormittag wechseln und nicht andauernd seine Nägel und seine Zähne putzen und seinen Magen reinigen soll ... Dann wird er auch etwas weniger Angst vor der Cholera haben.« (Alexander Turgenjew).

Er ist von einem kindlichen Ehrgeiz. Er liebt es, das ganze hochherrschaftlich-freigeistige Moskau an seinen Montagen bei sich zu sehen. »Er empfängt die Besucher auf einem erhöhten Sitz unter zwei Lorbeerbäumen in Kübeln; rechts hängt das Bildnis Napoleons, links das Bildnis Byrons und ihnen gegenüber sein eigenes Bildnis, auf dem er als ein gefesselter Prometheus dargestellt ist.« (Wiegel). Aus dieser weniger gehässigen als boshaften Karikatur kann man schließen, was für Legenden über ihn im Umlauf waren.

Mit den Jahren kam er immer mehr herunter und versank in »Oblomowerei«. »Oblomowerei« (nach dem Helden des »Oblomow« von Gontscharow gebildet – bekanntes Schlagwort, soviel wie Passivität, Faulheit, Trägheit. Anm. d. Ü. Sommer und Winter lebte er in seiner Wohnung in der Neuen Basmannaja-Straße, in einem der Seitenflügel des Ljewaschowschen Hauses (in einem anderen Flügel des gleichen Hauses wohnte Bakunin, der seinen Nachbarn oft besuchte). Während der dreißig Jahre hatte er kein einziges Mal außerhalb der Stadt übernachtet. Er konnte sich niemals entschließen, die Fußböden und Wände seiner Wohnung neu streichen und die Öfen reparieren zu lassen. Das Haus fiel vor Altersschwäche allmählich ein und machte mit seinem schiefen Aussehen dem Hausherrn und seinen Gästen große Angst.

Er ging fast nie aus dem Hause. »Nur ab und zu suche ich Vergessen in der stumpfen Langweile des Englischen Klubs« (1845).

Wie kleinmütig er zuweilen sein konnte, zeigt seine Geschichte mit Herzen. Als Herzen in einem seiner im Auslande erschienenen Werke (»Von der Ausbreitung der revolutionären Gedanken in Rußland«, Paris 1851) Tschaadajews Namen erwähnte, bekam dieser heillose Angst, richtete an die Obrigkeit eine erniedrigende Verteidigungsschrift, in der er Herzen einen »frechen Verleumder« nannte. Gleichzeitig bedankte er sich aber bei ihm und schwur ihm seine ewige Liebe. Als ihn jemand wegen dieser »zwecklosen Gemeinheit« (bassesse gratuite) zur Rede stellte, antwortete Tschaadajew nach kurzem Besinnen:

»Mein Lieber, der Mensch hängt eben an seiner Haut!« (Mon cher, on tient à sa peau!)

Natürlich sah er alles, was mit ihm vorging, so erbarmungslos klar wie ein Mensch, der in der Lethargie liegt. Er hielt über sich selbst ein strenges Gericht: »Wenn ich mich genau betrachte, so sehe ich, daß ich zu nichts tauge ... Verdiene ich aber auch kein Mitleid?«

Äußerlich war er ruhig, zurückhaltend, höflich und kühl, – wie »erfroren«. Wie ein Unbeteiligter beobachtete er die an ihm vorbeieilenden Geschehnisse und Personen »mit beißender Nachsicht«.

»Mag uns die Zukunft bringen was sie will; wir wollen die Hände auf die Brust kreuzen und warten.«

Nur ab und zu entrang sich ihm ein Aufschrei der Verzweiflung:

»Wir sitzen in einer Stube ohne Rauchfang, der Ofen qualmt, und vor Rauch sieht man nicht die Hand vor den Augen ...«

»Es ist die größte Dummheit, noch auf irgend etwas zu hoffen, wenn man in diesem faulen Sumpf sitzt, in den man mit jeder Bewegung noch mehr einsinkt ...«

Er litt furchtbare Qualen. »Ich hatte Augenblicke, wo ich nicht wußte, was mit mir geschehen soll, und wo ich unwillkürlich an Selbstmord dachte.«

So wurde dieser »verrückte Weise«, aus dem »in Rom ein Brutus und in Athen ein Perikles geworden wäre«, ganz langsam totgequält.

Schelling hielt ihn für »einen der bedeutendsten Menschen seiner Zeit«. Puschkin nannte ihn seinen Retter:

Als ich am Rande schon des grausen Abgrunds schwebte,
Da hieltest du mich fest mit treubesorgter Hand.

»Niemals werde ich dich vergessen. Deine Freundschaft ersetzte mir das Glück. Nur dich allein kann meine Kühle Seele lieben.« (Puschkins Kischinewer Tagebuch, 1821.)

Auch heute nach achtzig Jahren genügt es, den »Philosophischen Brief«, diese zwanzig Seiten, die wie die Verse Puschkins leben werden, solange Rußland lebt, durchzulesen, um die Überzeugung zu gewinnen, daß Tschaadajew eine der bedeutsamsten Erscheinungen des russischen Geistes gewesen ist.

In seinem Äußern war etwas, was »selbst auf die Kinder einen ungewöhnlichen Eindruck machte«.

Er war groß, hager, schlank und immer tadellos gekleidet. »Sein bleiches, zartes Gesicht ist, wenn er schweigt, so unbeweglich, wie wenn es aus Wachs oder Marmor wäre«; »sein Kopf ist wie ein nackter Totenschädel«; seine frauenhaften feinen Lippen lächeln spöttisch, und die graublauen Augen blicken mit trauriger Güte: »Das Beste auf Erden ist Güte,« pflegte er zu sagen.

Die Frauen beten ihn an. Nur sie allein scheinen ihn wirklich zu kennen.

»Die Vorsehung hat Ihnen ein Licht anvertraut, das für unsere Finsternis viel zu blendend ist ... es ist wie das Licht vom Berge Tabor, vor dem die Menschen auf ihr Angesicht fielen,« schrieb ihm eine von ihnen. »Ich möchte Sie um Ihren Segen bitten ... Ich wäre glücklich, wenn ich vor Ihnen niederknien und Ihren Segen empfangen könnte ... Wundern Sie sich nicht und weisen Sie meine tiefe Verehrung nicht zurück, – Sie sind gar nicht imstande, meine Ehrfurcht zu vermindern,« schrieb ihm eine gewisse Awdotja Ssergejewna Norowa. Ihre unglückliche Liebe zu ihm brachte sie ins Grab. Aber zwanzig Jahre später gedachte er ihrer und bestimmte, daß man ihn dereinst an ihrer Seite beerdigen möchte.

Er hat wohl niemals eine Frau geliebt. Wie fast alle russischen Romantiker der zwanziger und dreißiger Jahre – Stankewitsch, Aksakow, Bakunin – war er von Natur aus jungfräulich.

Ein Gesicht war ihm erschienen,
Schier unfaßbar dem Verstand,
Und der Eindruck blieb für immer
Seinem Herzen eingebrannt.
Seine Seele ward zu Asche,
Frauen sah er niemals an ... Aus Puschkins, Tschaadajew gewidmetem Gedicht »Der arme Ritter«. Siehe auch Seite 55. Anm. d. Ü.

Was war das für ein Gesicht?

 

III.

»In der Gesamtheit hat die Menschheit immer danach gestrebt, sich allmenschlich einzurichten. Viele große Völker mit großer Geschichte hat es gegeben, doch je höher diese Völker standen, um so unglücklicher waren sie, denn um so stärker erkannten oder empfanden sie die Notwendigkeit der allweltlichen Vereinigung der Menschen.« (Dostojewskij.)

»Allweltliche Vereinigung« – das ist der wichtigste und wohl der einzige Gedanke Tschaadajews. »Ich habe nur einen Gedanken. Wenn in meinem Geiste noch andere Gedanken wären, so würden sie sich an diesen einen kleben.« Es ist nicht nur ein Gedanke, sondern sein ganzes Denken, Fühlen und Wollen zugleich, – sein ganzes Wesen, seine ganze »Entelechie«, wie Goethe sagen würde; jenes »Gesicht, schier unfaßbar dem Verstand«, das ihm seine Seele versengt hatte.

Nur wenn man das begriffen hat, wird Tschaadajew begreiflich. Der »Philosophische Brief« ist nur ein Fragment, ein Bruchstück von einem Riesenbau. Es ist ein politischer Schluß ohne eine religiöse Prämisse. Wenn die Prämisse unbekannt ist, so ist auch der Schluß nicht verständlich. Es ist eine Verneinung ohne eine Bejahung; wenn man die Bejahung nicht kennt, kann man auch die Verneinung nicht begreifen. Ein tiefer Zweifel beruht auf einem tiefen Glauben; den Zweifel zeigt er uns, aber den Glauben verbirgt er vor uns. Alle fühlten den furchtbaren Schlag, niemand aber sah das Schwert und die Hand, die das Schwert führte. Alle hörten »den Schuß in finsterer Nacht«, niemand erfuhr aber, wer auf wen schoß und warum ... Darum blieb der wahre Sinn des »Briefes« unbekannt.

Dieses ist aber sein Sinn:

Die römisch-katholische Kirche strebt mehr als alle andern Kirchen nach allweltlicher Vereinigung: nicht umsonst heißt »katholisch« – »allen gemein«. Die Völker des Westens lebten während fünfzehn Jahrhunderten im Schatten der römischen Kirche das gleiche Leben, wie die Mitglieder einer einzigen Familie. Sie halfen und unterstützten einander und leiteten einander auf dem gleichen Wege zum gleichen Ziele hin. Dank diesen gemeinsamen Anstrengungen überholten sie alle andern Völker. Von der Kirche zum Reiche Gottes geleitet, fanden sie unterwegs alle irdischen Güter – Wissenschaft, Kunst, Staatswesen. Der erste Anstoß war aber so stark, daß er auch heute noch die Völker antreibt, ebenso wie die Anziehungskraft der Sonne die Planeten auf ihrer Bahn bewegt.

Rußland allein nimmt an dieser allgemeinen Bewegung nicht teil. Rußland hat sein Christentum »aus einer verseuchten Quelle, aus dem verderbten, verfallenen Byzanz, das sich von der Einheit der Kirche losgesagt hat«, geholt; dieses Christentum hat Rußland isoliert, es aus dem Wirkungsbereiche der Anziehungskraft hinausgestoßen und wie einen irrenden Meteor in den leeren Weltenraum geworfen.

Die römische Kirche hatte sich im tausendjährigen Kampfe gegen das Römische Reich ihre Unabhängigkeit von der weltlichen Macht des Staates errungen, und die Freiheit der Kirche wurde zur Quelle aller bürgerlichen Freiheiten: »alle politischen Revolutionen des Westens sind im Grunde genommen geistige Revolutionen.«

Die russische Kirche ist eine Sklavin des Staates, und die Versklavung der Kirche wurde zur Quelle unserer eigenen Versklavung. Die russische soziale Entwicklung ist wohl die einzige, in der alles von Anfang an auf die Unterjochung der Persönlichkeit und der Gesellschaft gerichtet ist.

Darum haben wir keine Geschichte im wahren Sinne des Wortes. Wir stehen gleichsam außerhalb der Zeit und haben gar kein Gefühl für die welthistorische Stetigkeit. Wir leben von der Gegenwart in ihren engsten Grenzen, wir haben weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft und kennen nur einen toten Stillstand ... Unsere Bewegung innerhalb der Zeit ist so geartet, daß jeder entschwundene Augenblick für uns unwiederbringlich verloren ist.

»Darum sind wir so einsam in der Welt und haben der Welt nichts gegeben und sie nichts gelehrt ... Wir nahmen alles von den andern und entstellten es ... Auf dem unfruchtbaren Boden unserer Heimat ist noch kein einziger nützlicher Gedanke gewachsen; keine einzige große Wahrheit ist noch in unserer Mitte geboren.« – »Wer kann sagen, wann wir uns einmal innerhalb der Menschheit finden werden und wieviel Leid wir erdulden müssen, ehe wir unsere Bestimmung erfüllen?"

Das ist Tschaadajews Verneinung, sein »Grabgesang« auf Rußland, den alle hörten. Hier aber ist die Bejahung, der Ruf zur Auferstehung, den niemand hörte: »Solange nicht aus unserem Munde das Eingeständnis aller Fehler, die wir in der Vergangenheit begangen haben, dringt; solange sich unserm Innern nicht der Aufschrei des Schmerzes und der Reue, dessen Widerhall die Welt erfüllt, entringt – werden wir keine Rettung sehen.«

Der wahre Sinn des »Briefes« und aller übrigen Schriften Tschaadajews ist nicht die Verdammung Rußlands und nicht die Prophezeiung von seinem Untergange, sondern der Ruf nach Buße und die Verheißung der Rettung. Es ist die Stimme des Täufers, die Stimme des Predigers in der Wüste: »Tut Buße, bereitet dem Herrn den Weg!«

Wir haben keine Vergangenheit; dafür haben wir in der Gegenwart zwei große Vorzüge: erstens die Unerfahrenheit, Unberührtheit und Keuschheit der Seele (»ein Blatt weißes Papier, auf dem noch nichts geschrieben steht«, wie sich einmal Mickiewicz ausdrückte); zweitens die Möglichkeit, uns die Erfahrungen unserer älteren Brüder, der Völker Westeuropas zunutze zu machen.

Hinter uns ist alles leer. Diese Leere kann aber die Freiheit sein. Der Russe kann der freieste Mensch in der Welt werden.

»Wir sind die große Plötzlichkeit, ohne inneren Zusammenhang mit der Vergangenheit, ohne direkten Zusammenhang mit der Gegenwart.« Der Weg des Westens ist die stetige Entwicklung, die Evolution; unser Weg ist die Revolution: im Gegensatz zu Westeuropa tun wir nichts anderes, als alle Fäden, die uns an die Vergangenheit binden, zerreißen.

Rußland hat früher als alle anderen Völker die Verwirklichung aller Verheißungen des Christentums anerkannt. Unser Leben hat noch nicht begonnen. »Einst kommt aber der Tag, wo wir im geistigen Leben Europas den gleichen Platz einnehmen werden, den wir jetzt in seinem politischen Leben einnehmen, und unsere Bedeutung wird auf jenem Gebiete viel größer sein als auf diesem. Das ist die natürliche Folge unserer langen Vereinsamung, denn alles Große reift in der Einsamkeit und im Schweigen.«

Die Kraft der Westlichen Kirche liegt in der Erweiterung, im äußeren, gesellschaftlichen, sozialen Wirken; die Kraft der Östlichen Kirche – in der Vertiefung, im persönlichen, innerlichen Tun, in der asketischen Tat. Das sind aber nur zwei Hälften des gleichen Ganzen. Wir müssen die persönliche religiöse Wahrheit mit der sozialen religiösen Wahrheit verbinden, denn nur durch diese Verbindung können wir die Fülle der christlichen Wahrheit erlangen. In der Verwirklichung dieser Fülle liegt aber unsere Bestimmung in der Welt.

 

IV.

Von Tschaadajew kann man mit größerem Recht als von irgend jemand sagen, daß bei ihm der Ton die Musik macht. Seine Gedanken kann man wohl wiedergeben, nicht aber ihren Ton, den Ton der »Allweltlichkeit«. Vor ihm hat noch kein Russe diese Sprache gesprochen. In ihm leuchtet zum ersten Male das welthistorische Bewußtsein Rußlands auf; in ihm sieht man zum ersten Male den welthistorischen Querschnitt des wahren russischen Geistes. In ihm mündet der russische Strom in den Ozean der Allmenschheit.

Ja, Tschaadajew hatte wohl das Recht, seinen Anklägern, den Slavophilen zu sagen: »Ich liebe mein Vaterland mehr als jemand von euch.« Sie lieben die Vergangenheit, die sie zur Gegenwart und zur Zukunft machen wollen. Sie lieben also ihr Rußland viel zu wenig, und ihr Glaube an seine Zukunft ist viel zu schwach. Tschaadajew liebt das zukünftige Rußland und glaubt daran, wie es vor ihm noch kein Mensch geliebt, wie daran noch kein Mensch geglaubt hat.

»Vaterlandsliebe ist eine herrliche Sache, noch herrlicher ist aber die Wahrheitsliebe. Nicht durch die Heimat, sondern durch die Wahrheit führt der Weg in den Himmel.« Daß die Wahrheit des Christentums nicht national, sondern allmenschlich ist, ist in abstrakter Form schon längst zu einem Gemeinplatz geworden; die Verwirklichung dieses Gedankens im Leben ist aber unerhört neu und unerträglich blendend. Die schrecklichen Mächte des Nationalismus treten die Allmenschlichkeit des Christentums nieder, wie das Pferd Attilas das Steppengras niedertritt: wo dieses Pferd seine Hufe setzt, wächst kein Gras mehr. Gegen diese furchtbare Kraft erhebt sich Tschaadajew.

Es ist eine der stärksten menschlichen Erhebungen. Und Herzen, der die religiöse Tiefe Tschaadajews gar nicht verstand, hat dennoch recht, wenn er seinen Namen in das Martyrologium der russischen Revolution einträgt. Die neueren Forscher aber, die seinen Namen daraus streichen wollen, haben Unrecht.

Und wenn Tschaadajew sich auch nichts aus Politik macht; und wenn er auch kleinmütig behauptet, daß der 14. Dezember ein Unglückstag sei, »der Rußland um ein halbes Jahrhundert zurückgeworfen hat«, – er ist und bleibt doch der Lehrer und Prophet des Dezemberaufstandes.

Das Volk erwacht beim Lenzesweh'n,
Und auf des Thrones morschen Trümmern
Wird unser Name leuchtend stehen! Aus einem Gedicht Puschkins an Tschaadajew, zitiert nach der Fiedlerschen Übertragung (Reclam). Anm. d. Ü.

Niemand kann Tschaadajews Namen von diesen Trümmern streichen.

 

V.

»Die Welt lebte noch vor kurzem ruhig und ihrer Gegenwart und Zukunft sicher dahin ... In diesem glücklichen Frieden der ganzen Welt, in dieser sicheren Zukunft fand ich meinen eigenen Frieden und sah meine eigene Zukunft. Und plötzlich beging ein einzelner Mensch eine Dummheit, und der Friede und die Zukunft zerfielen zu Staub ... Ich fühle, wie mir Tränen in die Augen treten, wenn ich meine alte Gesellschaft in diesem Elend sehe. Dieses allgemeine Unheil, das mein Europa so plötzlich betroffen, hat meinen persönlichen Schmerz verdoppelt,« schrieb Tschaadajew an Puschkin anläßlich der Julirevolution von 1831.

»Mein Europa« – das hat noch kein Russe und vielleicht auch kein Europäer so ausgesprochen, wie Tschaadajew. Dostojewskij sagt: »Wir haben zwei Vaterländer – unser Rußland und Europa.« Nein, wir haben nicht zwei sondern nur ein Vaterland. Es gibt nur eine Erde – »die Erde gehört Gott« – dieses Gefühl der Allweltlichkeit ist ein spezifisch russisches Gefühl.

Den Slavophilen, den Schülern des Deutschen Hegel, erscheint Tschaadajew als ein Verräter an Rußland, als ein fremdländischer Wechselbalg. Dann sind aber auch Peter der Große und Puschkin die gleichen Wechselbälge. Die Fähigkeit der Verwandlung, der Seelenwanderung aus einem nationalen Körper in einen andern ist gleichfalls eine spezifisch russische Eigenschaft. »Russe sein, heißt Allmensch sein,« sagt der Nationalist Dostojewskij. Auch der Slavophile Tjutschew sagt sich scheinbar von seiner Heimat los:

Nein, nicht diese leere, öde Gegend
Ist die liebe Heimat meiner Seele ...

Auch Herzen, Bakunin, Tolstoi und Ssolowjow sind gleich Tschaadajew »ewige Wanderer«, die »hier keine bleibende Stätte haben, sondern die zukünftige suchen«.

Ihr kennt kein Heimatland, noch der Verbannung Pein ... Aus Lermontows Gedicht »Wolken«. Anm. d. Ü.

Sie alle verkörpern das Geheimnis der russischen Heimatlosigkeit und Obdachlosigkeit. Es sieht wie Verrat an der Heimat aus, in der Tat ist es aber höchste Treue. Sie alle verkörpern auch das Geheimnis der russischen Allweltlichkeit.

Die Allweltlichkeit ist kein Kosmopolitismus, keine Internationalität, keine Anämie, keine Blutarmut der Nation, sondern ihr rötestes und heißestes Blut; keine Verneinung des Nationalen, sondern seine höchste Bejahung, denn das Nationale findet nur im Allweltlichen seine Erfüllung.

Ja, sie alle sind die russischsten von allen Russen. »Viel zu frühe Vorboten eines viel zu frühen Frühlings ...«

Der früheste von allen aber ist Tschaadajew. Der unzeitgemäßeste in seiner Zeit und der zeitgemäßeste in der Zukunft.

»Es ist eine große Umwälzung ... Die ganze Welt stürzt ein ... Ist es nicht das Ende der Welt?« schreibt er in demselben Briefe an Puschkin anläßlich der Julirevolution.

Jede welthistorische Umwälzung ist wie ein Berggipfel, von dem aus man den letzten Horizont, das Ende der Weltgeschichte, vom Christentum »Ende der Welt«, »Apokalypse« genannt, überblicken kann. Das Gefühl der Allweltlichkeit ist auch das Gefühl des Endes.

Darum ist eine solche Freude und eine solche Trauer in Tschaadajews Augen. Sie scheinen etwas zu sehen, was noch niemand gesehen hat; als ob sich in ihnen schon die Vision des Endes spiegelte. Darin ist er der russischste von allen Russen.

Die Frage, was das russische Volk in religiöser Beziehung sei, kann auf folgende Weise beantwortet werden: es ist das Volk, das das »Ende der Weltgeschichte« am stärksten vorausahnt und mehr als die andern Völker nach der Stadt Gottes, nach dem Reiche Gottes strebt.

» Adveniat regnum tuum – Dein Reich komme« – dieses Gebet sprach Tschaadajew sein Leben lang.

In unseren Tagen, den Tagen des Weltkrieges, der Zersplitterung der ganzen Welt, scheint dieses Gebet überflüssig und von allen vergessen zu sein. Wir werden aber »keine Rettung finden, solange sich nicht unserem Innern der Aufschrei des Schmerzes und der Reue entringt, dessen Widerhall die Welt erfüllt« – diese Worte Tschaadajews könnte man heute nicht nur auf Rußland, sondern auch auf ganz Europa und auf die ganze Menschheit anwenden.

Darum ist uns heute dieser seltsame Mensch mit dem zarten, bleichen, wie aus Wachs geformten Gesicht, den freudigen und traurigen Augen und dem ewigen Gebet auf den Lippen »Dein Reich komme« – besonders nahe.


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