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Das heilige Leid

Geleitwort zu »Abschied und Tod«, acht Handzeichnungen von Käthe Kollwitz

Sünde. Irrtum. Leiden. Hat die Sünde das Leiden hervorgerufen? Hat der Irrtum das Leiden hervorgerufen? Menschliche Sünde und menschlicher Irrtum oder göttliche Sünde und göttlicher Irrtum? Das Leiden ist da und erhebt sein Haupt. Im Buddhismus wird Abkehr von diesem Leiden und seine Überwindung gelehrt. Die Antike kennt und beachtet es in diesem Sinne nicht. Erst mit dem Bilde und in dem Bilde des Gekreuzigten wird das Leiden heiliggesprochen. Das ist der Gewinn des Christentums.

Diese eine große Empfindung dem Leiden gegenüber bedeutet mehr für den Aufstieg der Menschheit als irgendeine andere Errungenschaft. Diese eine Empfindung bedeutet das Senfkorn, das kleinste unter den Sämereien, unter dessen heiligem Schatten das Menschengeschlecht einst seiner erhabenen Bestimmung nahe wohnen soll.

Leiden! Was ist Leiden? Eine Macht, eine Allmacht, so vielfältig in seinen Formen wie das Leben. Unter allen Formen aber ist diejenige die erhabenste und tiefste, an der Körper und Seele gleichermaßen beteiligt sind. Und diese Form findet sich am vollkommensten ausgeprägt in der Mutterschaft.

Ist hiermit über die große Künstlerin etwas ausgesagt worden, der wir die nachfolgenden Blätter verdanken? Ich meine, ja: das Leiden, wo es am tiefsten, wo es am erhabensten ist, bildet ihren Gegenstand. Die Mutter ist ihr Gegenstand, die Liebe und das Leiden der Mutter, die Mutterschaft, in die natürlich das Kind einbezogen werden muß. Dabei handelt es sich freilich nicht allein um das Leiden der Mutterschaft an sich, sondern es kommt noch die Tragik hinzu, welche düster über der Welt der Enterbten lastet.

Die Kunst, die wir mit dem Namen Käthe Kollwitz in Verbindung bringen und verehren, kennt nur diese Welt.

Sollen wir uns nun rein artistisch mit den hier zusammengestellten Blättern beschäftigen? Ich denke, es genügt, wenn wir auf ihre elementare Kraft hinweisen. Ihre schweigenden Linien dringen ins Mark wie ein Schmerzensschrei. Ein solcher Schrei ist zu Zeiten der Griechen und Römer nicht gehört worden; gehört, wäre er nicht beachtet worden; beachtet aber, wäre er nicht verstanden worden, – weil das Leiden noch nicht heiliggesprochen war.

1923.


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