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Achtzehntes Kapitel

In Weimar erhielt er einen Brief von Daniela, die ihm im Namen ihrer Mutter mitteilte, der Großvater möge nicht nach Bayreuth kommen, die Mutter könne jetzt unmöglich Gäste empfangen, sie sei in einem fürchterlichen Seelenzustand. Wenn es ihr besser ginge, werde sie ihn verständigen. Er legte den Brief beiseite und sagte niemandem etwas davon. Aber er litt sehr.

Ein Trost waren ihm seine Schüler und seine unzähligen Reisen. Als ob sein zigeunerhafter Wandertrieb in ihm noch einmal, zum letzten Male aufgeflackert wäre wie die Flamme einer ersterbenden Kerze. Er fuhr nach Meiningen, wo Bülow ein Konzert gab, mit überraschender Kraft und neuerwachter Frische, als ob ihn der Tod Wagners erlöst hätte. Er fuhr nach Preßburg, um bei der goldenen Jubiläumsmesse des dortigen Pfarrers Heidler die Krönungsmesse zu dirigieren. Er fuhr nach Wien, wo ihn Tilgner modellierte. Dann wieder nach Weimar. Unruhig fuhr er hierhin und dorthin, obwohl er am liebsten nur an einen einzigen Ort gefahren wäre: nach Bayreuth. Dorthin lud man ihn aber nicht ein. Cosima sehnte sich noch immer nicht nach ihrem Vater. Der Greis erwartete ängstlich mit schmerzendem Herzen und jedesmal wieder von neuer Hoffnung erfüllt die Einladung. Sie kam aber nicht.

Schon mehr als ein Jahr war seit Wagners Tod vergangen. Da schrieb er nach Bayreuth, daß er sie vielleicht jetzt besuchen könne. Er fühle sich sehr alt, er lebe vielleicht noch ein oder zwei Jahre, vielleicht aber auch nur noch einen oder zwei Monate. Und er möchte seine Enkel sehen. Cosima antwortete auch diesmal nicht. An ihrer Stelle schrieb nur Daniela, daß die Villa Wahnfried jetzt nicht geeignet sei, Gäste aufzunehmen, denn ihre Mutter hätte wegen der Aufführungen des »Parsifal« sehr viel zu tun. Sie hätten ihm aber in der Nähe des Hauses eine Wohnung besorgt: dort würde er sich sicherlich sehr wohl fühlen.

An der linken Seite der Villa Wahnfried zog sich eine kleine, enge Gasse entlang, in der infolge des reißend zunehmenden Fremdenverkehrs hübsche Häuser entstanden waren. Diese kleine Straße hieß Siegfried-Straße. An der Ecke stand jenes Haus, in dem man ihm eine Wohnung besorgt hatte. Bei einer vornehmen Dame, der Frau Forstrat von Fröhlich, hatte man ihm zwei Zimmer gemietet. Es war eine ziemlich angenehme Unterkunft. Der Greis legte seine Sachen ab und eilte in die Villa Wahnfried. Im Hofe rannten ihm zwei mächtige Bernhardiner mit gefährlichem Bellen entgegen, erkannten ihn aber sogleich und sprangen ihn mit wilder Begeisterung an, um ihn zu begrüßen. Der alte Herr konnte sich kaum aufrecht halten, die Hunde warfen ihn beinahe zu Boden, er mußte um Hilfe rufen. Aus der Villa eilte ein Diener herbei und nahm sich der Hunde an.

»Melden Sie mich meiner Tochter. Sind die Kinder zu Hause?«

»Sie sind alle spazierengegangen, Hochwürden. Melden darf ich niemanden. Die gnädige Frau hat strengstens befohlen, daß sie nicht zu Hause sei, wer auch kommen möge. Sie hat sich eingeschlossen und arbeitet.«

»Ist gut. Richten Sie aus, daß ich angekommen bin: sie soll mich dann holen lassen.«

Er wandte sich um und ging spazieren. Als er nach Hause kam, erkundigte er sich bei Frau von Fröhlich, ob man nicht aus der Villa Wahnfried nach ihm geschickt hätte. Man hatte nicht nach ihm geschickt. Anderntags besuchte ihn Daniela. Sie erklärte, daß ihre Mutter furchtbar beschäftigt wäre, der Großvater möge sich hier in Bayreuth nur recht wohlfühlen, die Familienloge stünde ihm zur Verfügung. Daniela eilte dann auch bald weg, sie hatte gleichfalls viel zu tun, denn in Verbindung mit den Festspielen mußte auch sie schon repräsentieren. Mit jedem Zuge kam jemand an, den man abholen mußte. Der Großvater wollte nachmittags mit den Kindern spielen und schickte eine Botschaft in die Villa Wahnfried. Von da kam der Bescheid zurück, daß die Kinder Sprachunterricht hätten und die Stunden zu versäumen strengstens untersagt sei. Der Großvater ging also abermals spazieren. Abends trat er dann aufgeregt in die Familienloge, die vielen Besucher versammelten sich schon langsam. In der Loge war aber niemand. Cosima wohnte der Aufführung nicht bei.

Am nächsten Tage erwartete er abermals eine Nachricht von Cosima, daß sie ihn doch noch holen ließe. Den ganzen Tag über kam aber keine Nachricht. Spät am Nachmittag, vor der Vorstellung, kamen die Kinder, die beiden kleinen Töchter und Fidi. Glücklich plauderte er mit ihnen, erzählte ihnen allerlei. Dann gingen sie wieder. Cosima kam wieder nicht ins Theater. Am anderen Tage benachrichtigte ihn Daniela, daß ausländische Gäste die Familienloge in Anspruch nehmen würden, daß sie dem Großvater aber eine Karte im Parterre zurückgelegt hätten. Der Mutter täte es außerordentlich leid, sie sei aber auch heute noch so entsetzlich beschäftigt, daß es ihr unmöglich wäre, den Großvater zu empfangen. Vielleicht böte sich in den nächsten Tagen Gelegenheit dazu.

Der Greis lächelte nachsichtig, aber seine Augen füllten sich mit Tränen. Er ließ niemanden etwas ausrichten, packte seine Sachen und fuhr ab. Als er tagelang um die Villa Wahnfried herumgeschlichen war und nur über den Gartenzaun das vornehme, stumme Haus sah, hatte er sich wie ein ausgestoßener Hund gefühlt. Cosima schrieb er gar nicht mehr. Er fand sich damit ab, daß er seiner Tochter nur zur Last fiel, wenn er sie sehen wollte. Er fuhr zurück nach Weimar. Zu den Schülern.

Das war nunmehr seine wirkliche Familie, die bunte Schar der Schüler, die sich aus der ganzen Welt hier zusammenfanden. Eugen d'Albert, der leidenschaftliche Bursche, der jede Woche in eine andere Frau unsterblich verliebt war und sofort heiraten wollte, bis ihn der Meister tüchtig abgekanzelt hatte. Albeniz, der liebenswürdige, immer lächelnde junge Spanier, Zarembski, der unbeherrschte Pole, himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, Emil Sauer, ein junger Hamburger, den er von Rubinstein übernommen hatte, und der durch seine verblüffende Entwicklung der Nachfolger ihrer beider zu werden versprach. Felix Weingartner, der große Hoffnungen an seine Dirigentenlaufbahn knüpfte. Lamond, ein Junge aus Glasgow, Da Motta, ein Portugiese, der von einer noch Sklavenhandel treibenden Insel Guineas nach Weimar gekommen war, Siloti, ein Russe aus Charkow. Dann der kleine Stefan Thomán, der Sohn des Kreisarztes von Homonna, Stavenhagen, der Sohn des Generaldirektors der Berliner Reinigungsgesellschaft Spindler, ein auffallend hübscher Junge, der Abgott der Schülerinnen gleich nach dem Meister. Friedheim, ein Russe, der mit seiner Mutter kam. Göllerich, der schon verheiratet war, seine Frau, eine bewunderungswürdig dicke Dame. Und die Frauen. Allen voran selbstverständlich Lina Schmalhausen. Dann Arma Senkrah, eine Amerikanerin, auf die ihre Mutter aufpaßte. Der Meister nannte die Mutter den »griechischen Chor«, weil sie in alles dreinredete und alles kommentierte wie die Chöre der antiken Tragödie. Amy Fay, eine andere Amerikanerin, eine holde Schönheit, die so verliebt in den greisen Meister war, daß ihre Hand andauernd zitterte. Der Königsberger Alfred Reisenauer, der nach seinen ersten Erfolgen sich dem Studium der Rechtswissenschaft zugewandt hatte und dann doch wieder zum Klavier zurückkehrte, den trinkfesten Korpsburschen aber nie verleugnen konnte. Marie Lipsius, die sich unter dem Pseudonym »La Mara« auch schriftstellerisch betätigte. Adele Aus der Ohe mit ihrem schönen Namen. Die feurige Russin Vera Timanow und noch eine ganz lange Reihe von Talenten, aber auch Talentlosen, die er alle mit freundlichem Wohlwollen anhörte und höflich lobte. Sie mochten ruhig nach Lust und Laune spielen, sie schadeten ja niemandem damit. Aber die wirklich begabt waren, an denen hatte er dauernd etwas auszusetzen. Die waren es der Mühe wert, sie zu schelten, zu piesacken, zu leiten, ihre Fehler zu hobeln und sich an ihren Fortschritten zu erfreuen.

Er lebte unter ihnen wie ein Herrscher. Er hatte eine ungeheuerliche Autorität, keiner wagte ihn anzureden, ehe er nicht eine Frage an sie gerichtet hatte. Wie es an einem Herrscherhof üblich ist, bildeten sich Parteien, die Bevorzugten intrigierten heftig gegeneinander, eine einzige Bemerkung des Meisters brachte das ganze Lager für Tage durcheinander. Aber auch mit ihren Privatangelegenheiten, ihren Liebesnöten, den Sorgen ihrer Zukunft wandten sie sich an ihn. Er gab ihnen Rat, die einzelnen Pärchen versöhnte er wieder miteinander, die Drohungen verlassener Eifersüchtiger entkräftete er, und wenn er aus der Heimat der einzelnen Schüler sorgenvolle Briefe bekam, bestellte er die jungen Leute zu sich und putzte sie heftig herunter, warum sie ihrer Mutter nicht eifriger schrieben.

Als er nach Pest fuhr, fanden sich auch einige, die mit ihm zurückreisten. Mit ihnen wurde die ungarische Gruppe noch größer. Diese bildeten wiederum eine neue Welt, wie die zweite Hofhaltung eines Königs, der zwei Länder beherrscht. Karl Aggházy, der sich nicht entschließen konnte, ob er Maler oder Klavierkünstler werden sollte, Karl Rausch, der reiche Junge, der gerne die musikalische Laufbahn betreten hätte, dessen Familie es aber nicht zuließ. Arpad Szendy, nach Juhász der Begabteste, der sich am besten in den Liszt-Stil einleben konnte. Vilma Warga, in deren geräumiger Villa in Kroisbach er angenehme, sorglose Tage verbracht hatte. Isabella Kuliffay, die Tochter eines bekannten Journalisten, und auch hier Lina Schmalhausen ebenso segensreich wie schicksalhaft. Seine körperliche Kraft nahm zusehends ab. Insbesondere die Augen begannen unaufhaltsam schwächer zu werden. Auch mit Brille konnte er kaum noch lesen, die Briefe von Carolyne, Sophie und Olga, die er anderen nicht zeigen durfte, vermochte er nur mit großer Mühe und Not zu entziffern. Linas Anhänglichkeit nahm seine Nerven schwer mit, viele Nächte verbrachte er schlaflos, morgens stand er mit rot unterlaufenen, dauernd tränenden, müden Augen auf. Er wurde mit der Zeit auch reizbar. Kleinigkeiten schon brachten ihn aus der Fassung, geschweige denn größere Aufregungen. Und auch diese wurden ihm zuteil. Die unerklärliche, grausame Unnahbarkeit Cosimas nagte ständig an seinem Herzen. Dann passierten ihm solche Sachen, wie die mit dem Königslied. Die ritterliche Freigebigkeit Franz Josefs hatte Pest ein Opernhaus geschenkt. Das prächtige Gebäude wurde auf dem Herminenplatz errichtet, und zwar mit der Front nach der Andrassy-Straße. Für die Eröffnung hatte man bei dem alten Tondichter eine der Gelegenheit entsprechende Königshymne bestellt. Er schuf sie auch, aber der Intendant, Baron Friedrich Podmaniczky, untersagte die Vorführung des Liedes, weil der Tondichter den musikalischen Gedanken eines Kurutz-Liedes » Hej, Rákóczi, Bercsényi« eingeflochten hatte und der Baron der Meinung war, daß das gegen die gebührende, untertänigste Ehrfurcht verstoße. Den Greis nahm diese Angelegenheit außerordentlich mit, er schlief abermals nächtelang nicht und hielt sich von der Eröffnung des wunderschönen Opernhauses trotzig fern. Seinen Besuchern erklärte er zornig, wie unsinnig man mit ihm verführe: einmal hielte man ihn für keinen richtigen Ungarn, das andere Mal wieder für einen viel zu übertriebenen Ungarn. Er sei aber doch immer derselbe.

Und mit einem Male ergriff ihn von neuem der unstillbare Wandertrieb. Ohne Hilfe konnte er fast kaum noch den Eisenbahnwagen besteigen, trotzdem fuhr er unermüdlich von einer Stadt in die andere. Er fuhr nach Preßburg zum Konzert Rubinsteins, von dort nach Wien. Von dort nach Weimar. Von dort nach Karlsruhe, wo er den ehemaligen Inspizienten des Bayreuther Theaters, Felix Mottl, als einen sich fabelhaft anlassenden Dirigenten wiedersah. In Straßburg wohnte er einem Konzert bei, in dem nur seine Werke aufgeführt wurden. Von hier fuhr er nach Antwerpen, weil man dort seine für Männerchor geschriebene Messe vortrug. In Aachen spielte man auch Werke von Liszt, da fuhr er auch dorthin. Dann fuhr er nach München, weil dort die Oper von Cornelius aufgeführt werden sollte, der für ihn einst so bedeutungsvoll gewesene »Barbier von Bagdad«. Von da wollte er eigentlich an den Chiemsee, um einen seiner Schüler zu besuchen, aber über dem See stand solch ein Sturm, daß der Verkehr unterbrochen war. Er aber blieb nicht stehen, bestieg den Zug und fuhr nach Itter, dem kleinen Ort in Tirol, wo sich Sophie eine bescheidene Villa gekauft hatte und den Urlaub von ihrer russischen Tätigkeit verbrachte. Zwei Tage lang war er bei Sophie, er hörte sich ihre russischen Erfolge an, klagte über die Mühseligkeiten des Alters, dann fuhr er nach Innsbruck, wo er sich mit dem kleinen Thomán und Lina verabredet hatte. Zu seinem Geburtstag wollte er nach Rom fahren, aber der Po war über die Ufer getreten und hatte den Bahndamm überschwemmt. So wurde er in Innsbruck vierundsiebzig Jahre alt, an einem lustigen Abend zwischen seinen Schülern. Als man endlich wieder reisen konnte, fuhr er mit Lina und Thomán zusammen nach Rom.

Carolyne schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie ihn wiedersah:

»Fürchterlich, wie Sie sich zugrunde gerichtet haben! Aber gar kein Wunder. Es ist ja entsetzlich, was ich alles über Sie höre. Diese Schmalhausen genannte Bestie müßte man totschlagen. Die richtet Sie zugrunde.«

»Lassen Sie, das ist eine sehr gute Seele. Sie sorgt sich um mich und betreut mich.«

»Schön betreut sie Sie, das kann man wohl sagen! Furchtbar, furchtbar! Im übrigen gratuliere ich Ihnen zum Urgroßvater.«

»Ich Urgroßvater?«

»Wissen Sie es denn nicht? Die Gräfin Gravina hat in Sizilien einen Jungen bekommen. Er heißt Manfred. Erst in der vorigen Woche habe ich's gehört. Haben Sie es nicht gewußt?«

»Ich hab's nicht gewußt«, stammelte der Greis, »mich haben sie nicht benachrichtigt.«


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