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Dreizehntes Kapitel

Anscheinend war es Wagner gelungen, die erforderlichen Kapitalien zu gewinnen, denn in den Zeitungen erschien die Nachricht, daß er in Bayreuth das Fest der Grundsteinlegung begehen werde. Auch die Fürstin Carolyne wußte davon und schrieb Franzi mindestens zehnmal, daß ihm, wenn man ihn einladen würde, um Himmels willen nicht einfallen möge hinzufahren, denn dieses Theater würde das Werk des Satans. Der Abbé winkte solche Behauptungen aber nur ab. Ihn würde man zu dieser Grundsteinlegung sicherlich nicht einladen.

Er hatte sich geirrt. Nach langem Schweigen schrieb ihm Wagner.

 

»Mein großer, lieber Freund! Cosima behauptet, Du würdest doch nicht kommen, auch wenn ich Dich einlüde. Das müßten wir ertragen, wie wir so manches ertragen mußten! Dich aber einzuladen, kann ich nicht unterlassen. Und was rufe ich Dir denn zu, wenn ich Dir sage: komm? Du kamst in mein Leben als der größte Mensch, an den ich je die vertraute Freundesanrede richten durfte; Du trenntest Dich langsam von mir, vielleicht weil ich Dir nicht so vertraut geworden war, als Du mir. Für Dich trat Dein wiedergeborenes innigstes Wesen an mich heran und erfüllte meine Sehnsucht, Dich mir ganz vertraut zu wissen. So lebst Du in voller Schönheit vor mir und in mir, und wie über Gräber sind wir vermählt, Du warst der Erste, der durch seine Liebe mich adelte; zu einem zweiten, höheren Leben bin ich ihr nun vermählt, und vermag, was ich nie allein vermocht hätte. So konntest Du mir alles werden, während ich Dir so wenig nur bleiben konnte: wie ungeheuer bin ich so gegen Dich im Vorteile!

Sage ich Dir nun: komm! so sage ich Dir damit: komm zu Dir! Denn hier findest Du Dich. – Sei gesegnet und geliebt, wie Du Dich auch entscheidest!

Bayreuth, 18.Mai 1872.

Dein alter Freund Richard.«

 

Der Abbé ging nicht hin. Nicht, weil er vor der Fürstin Angst hatte, sondern weil ihn Cosima nicht eingeladen hatte. Und er wäre sehr gerne dabeigewesen. Er wollte sich aber nicht dem Schmerz aussetzen, daß ihm seine Tochter, die er über alles liebte, mit kalter, abweisender Höflichkeit gegenübertreten könnte. Lange dachte er über die Antwort nach. Er suchte nach einer Wendung, die die hartnäckige Cosima gebührend strafen sollte. Aber er wurde weich. Wenn es jemanden auf der Welt gab, nach dessen Liebe er sich sehnte, so war es Cosima. Deshalb antwortete er so, daß Cosima seine Versöhnungsbereitschaft daraus ersehen sollte. Die verzehrende Liebe des Vaters ließ ihn den ersten Schritt zu seiner Tochter tun. Er schrieb also:

 

»Erhabener, lieber Freund! Tief erschüttert durch Deinen Brief, kann ich Dir nicht in Worten danken. Wohl aber hoffe ich sehnlich, daß alle Schatten, Rücksichten, die mich ferne fesseln, verschwinden, und wir uns bald wiedersehen. Dann soll Dir auch hell einleuchten, wie unzertrennlich von Euch meine Seele verbleibt, innigst auflebend in Deinem ›zweiten‹, höheren Leben, wo Du vermagst, was Du allein nicht vermocht hättest. Darin beruht meine Begnadigung des Himmels:

Gottes Segen sei mit Euch, wie meine ganze Liebe.

20. Mai 72. Weimar.
F. L.

Es widersteht mir, diese Zeilen mit der Post zu schicken. Sie werden Dir am 22. Mai übergeben von einer Frau, welche seit mehreren Jahren mein Denken und Empfinden kennt.«

 

Diesen Brief nahm die Baronin Meyendorff mit nach Bayreuth. Der Abbé hatte sie eingehend unterrichtet, was sie bei Wagners sagen sollte: Cosima möge den ersten Schritt zu ihrem Vater tun, nichts anderes wäre notwendig. Die Baronin erfüllte ihren Auftrag, – mit welchem Erfolg, war noch nicht zu ersehen. Dann kam aber ein Brief von Wagner, in dem er geradezu anfragte, auf welchen Empfang das Ehepaar in Weimar rechnen könne.

»Aus dem Heiligsten meiner Seele sage ich Dir Dank«, erwiderte er, »und Willkommen.« Anfang September erschienen Wagner und Cosima in Weimar.

Das Wiedersehen erschütterte ihn im ersten Augenblick sehr. Er hatte beschlossen, stark zu bleiben und seiner Erregung Herr zu sein. Er wollte liebenswürdig, ungezwungen und liebevoll sein, als ob nichts geschehen wäre, wollte den heiteren Ton des künftigen Verkehrs von vornherein anschlagen. Seine Gefühle waren aber stärker als er. Als Cosima vor ihm stand, rüttelten Sorge und Schmerz des Vaters unwiderstehlich an seiner Seele. Er umarmte seine Tochter und raunte unter Tränen:

»Cosette, – meine kleine Tochter, darf man denn so etwas tun?«

Cosima erwiderte ruhig:

»Ich möchte darüber nicht mehr streiten, Vater. Vergessen wir, was war, und freuen wir uns aneinander.«

Der Vater trocknete seine Tränen. Cosima hatte auch diesmal gesiegt. Sie hatte also doch erreicht, daß er sich versöhnte, ohne Entschuldigung, ohne Reue, ja sogar ohne Klärung der ganzen Angelegenheit. Das war jetzt aber gleichgültig, der Vater hatte seine Tochter wieder; er wußte jetzt ganz genau, daß seiner Seele weder in der Liebe noch in der Freundschaft jemand so nahe stand, nie jemand so nahe gestanden hatte.

Das Ehepaar verbrachte zwei Tage in Weimar. Von etwas anderem als von Bayreuth konnte man mit ihnen kaum reden. Nur das Theater lebte in ihnen beiden, nichts anderes. In freudiger Erregung gingen sie auf alle Einzelheiten ein, insbesondere auf all das Neue, worin Wagners Bau vom üblichen Theatertyp abwich. Und wenn einer von beiden sprach, sah der andere ihn voller Hingabe, mit entzückten Blicken an. Man sah, daß sie vollkommen, ganz und gar glücklich waren. Was im Leben so selten geschieht: zwei füreinander geborene Menschen hatten sich gefunden. Ihr Weg ging über Verzweiflung und Qualen anderer, aber sie hatten ihn gehen müssen. Alle, die die beiden zusammen sahen, mußten zugeben, daß diese zwei Wesen das Recht hatten, Himmel und Hölle zu trotzen und zueinanderzustehen. Und auch der Vater sah das ein. Er hatte Wagner oft überschwenglich seine Liebe laut betonen hören, schwärmerisch herzlich, zärtlich sah er ihn aber jetzt zum ersten Male. Und Cosima, das hochmütige und kalte Wesen, sah er jetzt zum ersten Male demütig. Aber nur bei Wagner. Jedem anderen, sogar dem eigenen Vater gegenüber, bewahrte sie die aufrechte, stolze Haltung des Hauptes und die Unbeweglichkeit ihrer Gesichtszüge. Sie waren Tristan und Isolde, aber ohne König Marke, glücklich, zielbewußt und tatenfroh.

Vor dem Abschied saßen sie noch in der Gärtnerei zusammen. Cosima bemerkte einen blühenden Blumentopf, der mit Trauerflor umwunden war.

»Was ist das?« erkundigte sie sich.

»Das ist das Ankenden an die Gräfin Liline D'Artigaux. Du weißt gar nicht, wer sie war?«

»Doch, ja, Ihre große Jugendliebe. Meine Mutter hat mir viel davon erzählt.«

»Ja. Sie ist vor kurzem gestorben, die Arme, das bedeutete zwar für sie wenig, denn sie war schon zeit ihres Lebens ein Engel. Ich bete jeden Tag für sie. Es ist aber eine eigentümliche Sache ums Altwerden. Ihre Gesichtszüge kann ich mir nur sehr schwer ins Gedächtnis zurückrufen. Es gelingt nur manchmal, wenn ich mich sehr anstrenge, sie mir vorzustellen, wenn sie lachte. Sonst ist es nur noch eine Erinnerung. Und oft ist mir, als ob nicht einmal ich derjenige gewesen wäre, der sie so sehr geliebt und so unendlich viel um sie gelitten hat. Mit ihr wäre ich glücklich geworden, das glaube ich heute noch hoch und heilig. Dann wärst du aber nicht geboren worden. Der liebe Gott weiß doch besser als wir, was er tut.«

Cosima belohnte ihren Vater mit einem Lächeln, ihre Blicke suchten aber dauernd ihren Mann.

Dann reisten sie ab. Der Vater hatte ihnen versprochen, ihren Besuch baldigst in Bayreuth zu erwidern. Diese Absicht teilte er auch schriftlich Carolyne mit, die ellenlange Bogen mit ihrem Widerspruch füllte. Auf jede nur erdenkliche Art und Weise wollte sie den Abbé von Bayreuth zurückhalten. In ihrem grenzenlosen Haß ging sie so weit, daß sie sogar musikalische Einwände vorbrachte. Franzi hatte ihr versprochen, zu Ehren des polnischen Heiligen Stanislaus ein Oratorium zu komponieren. Er hatte auch schon damit begonnen. Während dieser Arbeit erhielt er einen Brief von Carolyne:

»Wenn Sie den Stanislaus komponieren wollen, so hören Sie sich die Götterdämmerung zuvor nicht an, nur um gewisse Effekte daraus zu holen. Das ist weder Ihrer noch der Sache würdig.«

In ihren verzweifelten Bemühungen wollte sie ihn bei seiner musikalischen Eitelkeit packen und unterschob ihm plagiatorische Absichten. Ihm, ohne den Wagner nach seinem eigenen Geständnis weder in der Instrumentation noch in der Harmonie der geworden wäre, der er war. Ihm, der in Wagners Werken Schritt für Schritt einen seiner eigenen kühnen Übergänge fand, ein paar kleine Melodiebruchteile, eine besondere Klangfarbe … Darüber hielt er sich aber nie auf, er fand es selbstverständlich, daß Künstler sich gegenseitig inspirierten.

Carolyne konnte ihn von Bayreuth nicht mehr zurückhalten. Er besuchte zuvor in Schillingsfürst noch den Kardinal Hohenlohe, der sich mit dem Papst überworfen und die Konsequenzen dieser inneren Auseinandersetzung im Vatikan nicht als demütiger Priester, sondern als hochmütiger Fürst gezogen hatte: ohne die Erlaubnis des Papstes hatte er sich nach Hause auf sein Familiengut begeben und kam einfach nicht wieder nach Rom zurück. Er fühlte sich stark genug, um dem Papst trotzen zu können. Fürst Chlodwig von Hohenlohe war Vizepräsident des Deutschen Reichstages und in Berlin eine politische Macht. Fürst Konstantin, der Schwiegersohn Carolynes, war Oberhofmeister von Franz Josef und eine politische Macht in Wien. Es schien unwahrscheinlich, daß der Papst den ungehorsamen Kardinal maßregeln würde. Der Kardinal lebte ruhig in Schillingsfürst und wartete darauf, daß sich Papst Pius damit einverstanden erklärte, daß er der Gesandte Deutschlands beim Heiligen Stuhl werde, – denn damit hatte ihr Streit begonnen.

»Ich sehe Sie sowohl hier als auch in Tivoli stets gerne«, sagte er zu dem Abbé. »Die Villa d'Este steht Ihnen zur Verfügung. Sie verpflichten mich sogar, wenn Sie zeitweise dort wohnen und sich im Park umsehen. Ich werde in der nächsten Zeit kaum dorthin kommen.«

»Ich danke herzlich, Eminenz, und wenn wir schon darüber sprechen, möchte ich auch wegen einer Sache um Verzeihung bitten. Olga Janina, diese Bestie, hat in ihrem Buch auch die Villa d'Este mit Schmutz beworfen … ich kann mir vorstellen, daß das einem Kardinal nicht angenehm ist.«

»Macht nichts«, unterbrach ihn der Kardinal Hohenlohe, »Sie haben kein Keuschheitsgelübde abgelegt, Sie tun, was Ihnen beliebt. Gehen Sie ruhig nach Tivoli, wenn Sie dazu Lust haben. Ein skandalöses Buch kann man über jeden schreiben, dem sind wir alle ausgesetzt.«

Von Schillingsfürst aus fuhr er dann nach Bayreuth, wo er bis jetzt noch nicht gewesen war. Wagners waren in einer provisorischen Wohnung untergebracht, der Plan zu ihrer eigenen Villa lag aber bereits vor. Gleich am ersten Tage gingen sie zum Hügel an der Stadtgrenze, wo, einem wimmelnden Ameisenhaufen gleich, die Arbeiter schufteten. Tief unten, auf vielen plankenbelegten Wegen schoben sie Schubkarren, ziegelsteinstaubig und kalkig war alles, sogar die Blätter der in der Nähe stehenden Herbststräucher hatte der Kalkstaub belegt. Wagner blieb an einer Stelle des zunächst unübersichtlichen Geländes stehen.

»Schau her, hier wird die Bühne sein. Tief unten das Orchester. Hier wird Siegfried stehen. Du wirst es von dort aus hören.« Und er zeigte schräg gegen den blauen Himmel.

»Aus dem Himmel?«

»Mach' keine schlechten Scherze. In dieser Richtung werden die beiden Hauptlogen liegen. Die Hofloge und die unsere. Dort wirst du mit uns an den ersten vier Abenden sitzen. Wenn wir doch schon so weit wären … Im übrigen wünsche ich das gar nicht. Gerade das ist ja das Herrliche: erleben, wie das Ganze aus dem Boden wächst, zur Welt kommt, sich entwickelt und so wird, wie ich es mir erträumt habe.«

Aus dem Boden war zunächst noch nichts herausgewachsen. Die Bauarbeiter waren erst bei den Grundmauern. Wagner hatte die ganze Sache kühn begonnen; Geld, wie sich während der Unterredungen herausstellte, hatte er noch nicht, die Eintrittskarten zum Preise von dreihundert Mark gingen nur sehr schwer ab. Er dachte aber nicht eine Sekunde lang daran, daß er materielle Schwierigkeiten haben könnte. Cosima und er glaubten blind an das Gelingen des Planes. Zu Hause zeigte er die Pläne, blaue Papierbogen von der Größe eines Leinentuches breitete er vor seinem Schwiegervater aus, auf denen weiße Linien die verschiedenen Querschnitte des Theaters andeuteten. Und er konnte lang und breit auseinandersetzen, was es bedeutete, ob die Bühne einen halben Meter tiefer oder schmäler sei.

Ein sonderbares Verhältnis entstand zwischen ihnen: er war der Vater, der dem einen das körperliche Leben, dem anderen die Geltung zum Leben gegeben hatte, er hätte eine gütige Macht sein müssen, zu der man mit warmer Achtung emporschaut. Statt dessen war er der Bescheidene, der ihre Gunst suchte. Die beiden, Cosima und Wagner, benahmen sich wie ein königliches Paar, das sich in neuerobertem Lande eine Residenz baut. Auf ihre Vergangenheit sahen sie nicht mehr zurück, und was sie nicht mehr nötig hatten, beachteten sie gar nicht. Und wenn sie mit ihm auch über alle Gebühr höflich waren, so mußte er doch fühlen, daß man ihn bei der Musik Wagners nicht mehr brauchte. An Cosimas Haltung sah er das noch deutlicher als bei Wagner. Der Vater trug es ihnen aber nicht nach. Er übertrug die Verantwortung still dem natürlichen Lauf der Welt: das Leben schiebt beiseite, wen es nicht mehr braucht.

Wagner las ihm den Parsifal vor. Der Text war schon vollständig abgeschlossen. Es war die Krönung seines großen Lebenswerkes. Das war Religion, der Glauben Christi, die ideale Verkörperung der Reinheit. Als von der Kuppel her die weiße Taube über dem Haupt Parsifals schwebte, der Gral rot zu glühen begann, über die heilige Halle und den Leichnam Titurels sich der Schein der Glorie ergoß, beendete Wagner flüsternd die Vorlesung:

»Und kaum hörbar singt der Chor noch einmal: ›Höchsten Heiles Wunder: Erlösung dem Erlöser …‹.«

Dem Abbé fehlten die Worte. Er war verlegen, unendlich ergriffen und suchte nach Worten. Er begann von Klingsor zu sprechen, von dem Zauberer, der auch in diesem Stück ein Ungar war. War es nicht sonderbar, daß Sage und Volksglauben Hexen und Zauberer so gerne aus Ungarn herleiteten? Dann sagte er, daß er seine Meinung brieflich mitteilen würde.

Er reiste früher ab, als er geplant hatte, und zwar wegen eines Briefes der Fürstin. Carolyne war außer sich vor Zorn, daß er doch nach Bayreuth gefahren war. Sie warf ihm vor, daß er sich anläßlich seines Geburtstages in Bayreuth nur feiern lassen wolle.

»Sie wollen sich von jenen feiern lassen, die Christus mit Wort und Tat verleugnet haben, die Böses tun und behaupten Gutes zu tun. Das wird einst ein trauriges Kapitel in Ihrer Biographie werden, denn Sie müssen ja zugeben, daß Sie sich feiern lassen wollen, wenn Sie gerade jetzt nach Bayreuth gefahren sind.«

Es war tatsächlich schon Mitte Oktober, und es fehlten nur noch wenige Tage bis zu seinem Geburtstage. Carolynes Brief hatte ihn geärgert. Ein kindlicher, unverständiger Trotz übermannte ihn. Er strafte eher sich selber, als jemand anders, als er trotz allen Bitten zu bleiben abreiste, nur um an seinem Geburtstag nicht in Bayreuth zu sein. Er verlebte den Tag in Regensburg. Am Abend seines Geburtstages war er ganz allein und trauerte still darüber, daß man ihn nach zweierlei Richtungen zerrte und beunruhigte.

An Cosima schrieb er: »Diese Vorlesung ist lebendig in meinem Herzen geblieben. Ich war hinterher ganz verklärt, und nur die Angst hielt mich zurück, daß Ihr mich affektiert finden könntet. Sonst hätte ich mit dem Heiligen Petrus gesagt: ›Hier ist gut sein, hier laßt uns Hütten bauen‹.«

Denn dieser Gedanke ging ihm tatsächlich durch den Sinn, daß es gut wäre, sich in dieser Bayreuther Stille niederzulassen, neben Cosima und neben der Geburtsstätte der Tetralogie. Jetzt war er jedoch sowohl an Weimar wie auch an Pest gebunden. Der Fürstin aber antwortete er:

»Ich verstehe nicht, wie Sie behaupten können, daß Cosima und Wagner Jesus Christus verleugnet hätten. Sie haben nie etwas gesagt, was eine solche Meinung rechtfertigen könnte. In den acht gedruckten Bänden von Wagners Werken finden Sie nicht ein einziges solches Wort. Seine philosophischen und religiösen Ansichten stimmen haargenau mit den Ansichten vieler unserer Freunde überein, und er gibt immer maß- und taktvoll den Ton an. Wagner gehört zweifellos nicht zu den orthodoxen und auf die Äußerlichkeiten der Religion achtenden Christen, ihn deswegen aber sofort unter die Ungläubigen stellen? …«

So stritten sie sich über Erwiderungen und Gegenerwiderung hinweg, jetzt aber noch in Briefen. Der Abbé ging nicht gerne nach Rom, denn er hörte dort von jedem und von allem, was ihm lieb war, nur Schlechtes: von Cosima, von Wagner, von Augusz, von Ungarn. So machte er auch jetzt wieder einen Umweg um Rom und fuhr zuerst nach Horpács zum Grafen Emmerich Széchenyi, wo er abermals mit Edmund Mihalovics zusammentraf. Graf Széchenyi hatte einen Kriegsmarsch komponiert, den schrieb der Meister um und bearbeitete ihn so gründlich für Klavier, daß der Komponist über sein eigenes Können verwundert war, als er ihn hörte. Sie fuhren auch zu dritt nach Raiding, da floß wieder reichlich Wein für die Bauern, und als sich der weltberühmte Raidinger von seinem Geburtsort verabschiedete, ließ man ihm zu Ehren sogar die Kirchenglocke läuten.

Dann kam abermals Pest an die Reihe. Überall empfingen ihn die wohlbekannten lieben Gesichter, das vertraute freundliche Lächeln. Hans Richter war schon da, Eötvös hatte ihn also tatsächlich heimgeholt. Der Heimgekehrte war schon mitten in der Arbeit, auch jetzt gab er gerade ein Orchesterkonzert. In der ersten Reihe saßen drei Geistliche: Haynald, Ipolyi, Liszt. Und schon trafen die täglichen Einladungen ein. Er hielt sich oft bei Franz Pulszky auf und freundete sich mit Polixena, der Hausfrau an, er war viel bei Augusz', die den Winter in Pest zu verbringen pflegten. Seine Schüler wurden auch immer zahlreicher. Und wenn das Labyrinth der Kanzleien die Angelegenheit der Musikakademie auch noch so sehr verzögert hatte, so kam der Vorschlag trotz allem vor das Parlament. Es ging nicht gerade glatt, die Opposition machte zu schaffen. Es fand sich sogar ein Abgeordneter, der neugierig dazwischen rief: »Wer ist dieser Franz Liszt?« Was aber Deák und Andrássy versprochen hatten, das mußte gelingen. Am 9. Februar 1873 schlug der Abbé den »Pester Lloyd« auf und las, daß das Parlament der Gründung der Musikakademie zugestimmt hatte. Die Würfel waren gefallen, Carolyne konnte nicht mehr hoffen, daß ihr Freund die Jahre des Alters an ihrer Seite verbringen würde.

Nein, diese Jahre konnte er Carolyne nicht geben. Er war über einundsechzig Jahre alt, in jeder Minute konnte irgendeine hinterlistige Krankheit kommen und ihn ins Grab bringen, wenn er sich auch noch so kräftig und gesund fühlte. Und er wollte jetzt erst auch ein wenig leben. Er, der seit seinem zehnten Jahre ununterbrochen nur gearbeitet hatte. Er wollte gerne gute Musik hören, den Vorführungen der Kompositionen langer Jahre in den verschiedensten Städten Europas beiwohnen, neben der Baronin Olga endgültig in Weimar verbleiben und sich in Pest daran ergötzen, wie die Musikkultur einer jungen Weltstadt von seinem bloßen Namen und seiner Anwesenheit wächst und gedeiht und wie auch ungarische Talente durch seine Anleitung den Weg zur Weltberühmtheit finden. Alles das hätte er schmerzenden Herzens beiseite schieben müssen, wenn Carolyne ihn gebraucht haben würde. Aber Carolyne brauchte ihn nicht mehr. Carolyne arbeitete an einem mehrbändigen religionsphilosophischen Werk, sie lebte nur dafür, und ihr Freund kam erst an zweiter Stelle. Und wenn sie sich schon einmal um ihn kümmerte, ließ sie ihrem Haß und ihrer Voreingenommenheit Cosima gegenüber freien Lauf.

So frei aber war das Leben schön und angenehm. Er entdeckte langsam, daß plötzliche Entschlüsse, lebenswichtige Anläufe, hart angepackte Grundsätze ziellos und unbequem waren. Er wollte nichts anderes, als fröhlich und unbeschwert leben, solange Gott es noch gestattete. Manchmal, wenn er Lust hatte, spielte er auch vor einem größeren Publikum, besonders dann, wenn man ihn nicht darum gebeten hatte. Auch seinen großen Entschluß hängte er an den Nagel. Er hatte Ungarisch lernen wollen. Als die Gründung der Musikakademie beschlossen war, erwachte sein Gewissen. Er hatte einen netten Rechtsanwalt gefunden, der sehr gut französisch sprach, und mit dem hatte er ungarische Stunden vereinbart. Mit größtem Eifer legte er sich ins Zeug, und schon in der ersten Stunde fragte er, wie » je suis Hongrois« auf ungarisch heiße.

» En magyar ember vagyok, ich bin ein Ungar«, sagte langsam, jede Silbe betonend, sein Sprachlehrer.

Eifrig war er bestrebt, es nachzusprechen. Es ging sehr schwer. In der zweiten Stunde wurden ihm die Schwierigkeiten dieser sonderbaren Sprache schon klar. Ihr Bau war von dem jeder anderen Sprache grundverschieden. Anders als die lateinische, anders als die deutsche, französische, englische und italienische Sprache. Diese Sprachen beherrschte er alle sehr gut. Aber beim Ungarischlernen hatte er keinen Nutzen davon. Er hatte etwa fünf Stunden genommen, dann kam ein Wort vor: » tántorithatatlanság«, Unerschütterlichkeit. Er konnte es vom Papier kaum ablesen, geschweige denn aussprechen. Er nahm zehnmal Anlauf, aber es ging nicht. Sein Lehrer versuchte, dieses Wort in einzelne Teile zu zergliedern, es ging nicht. Mit diesem einzigen Wort quälte er sich eine ganze Viertelstunde lang. Die nächste Stunde sagte er dann ab. Mit einiger Selbstironie stellte er den Zufall fest, daß sein großer Entschluß gerade bei diesem Wort ins Wanken gekommen war. Aber er gab sich damit zufrieden. Er mußte an Daniel, an die letzten Stunden des unvergeßlichen Jungen denken. Der Sterbende sagte damals ein ungarisches Gedicht auf. Der Sterbende hatte es verstanden, er nicht. Auf keine Art und Weise konnte man erfahren, welches ungarische Gedicht das gewesen sein mochte. Die unverständlichen Worte hatten sich für ewig verloren. Derentwegen allein wäre es der Mühe wert gewesen, Ungarisch zu lernen. Für die Zeit, die ihm noch übrigblieb, würde er auch noch ohne die ungarische Sprache auskommen.

Er hatte ja eine Sprache, in der ihn seine Landsleute verstanden. Maurus Jókai, der berühmteste Schriftsteller der Ungarn, hatte ihn neulich zum ersten Male Klavier spielen gehört, und man übersetzte ihm, was er darüber geschrieben hatte: »Wie Liszt Klavier spielt, läßt sich mit Worten nicht beschreiben. Wenn er seine Hand auf dieses Ungeheuer mit den vielen Zähnen legt, hört es auf, ein Klavier zu sein, es wird ein lebendiges Wunder daraus, das durch den Klang droht, als ob die Schrecken des Apokalypse auf uns hernieder dröhnten. Dann wird dieses Phantom wieder zahm und beginnt zart von den Geheimnissen des Herzens zu reden, für die es keine Worte gibt. Es erfaßt die Strahlen des Mondes, die Strahlen der Sterne, und bringt uns dadurch den ganzen Himmel näher: ich glaube, er fliegt jetzt gleich davon. Dann aber geht er zum Kriegsmarsch über, er offenbart uns den Sinn der Töne Széchenyis, und wir haben das Gefühl, als ob diese irrsinnige Maschinerie losrollte und dorthin schieße, wo … ich hätte bald gesagt wohin. Die Musik Liszts zündet nicht nur, sie erwärmt auch.«

Diese Anspielung verstand der Abbé nunmehr schon: sein Klavier schießt auf die Österreicher. Die öffentliche Meinung in Ungarn war ihm jetzt bekannt. Und er wußte schon, was er erwidern würde, wenn die Witwe des als Märtyrer gestorbenen Generals Johannes Damijanich ihn bäte, in einem Wohltätigkeitskonzert aufzutreten. Man hatte nämlich Bedenken gehabt, daß er diese Angelegenheit etwas heikel finden könne, weil er vor einer staatlichen Beförderung stand.

»Selbstverständlich werde ich auftreten«, erwiderte er sofort, »ich bin ja königlicher Rat, und wenn der König mich diesbezüglich um Rat angehen würde, so könnte ich ihm nur raten, dieses Konzert stattfinden zu lassen.«

Er wurde orkanhaft gefeiert. Den ganzen Abend lang spielte er Klavier, nur eine Gräfin Semsey sang einmal zwischendurch. Er freute sich, er liebte den Applaus, und er zeigte auch, daß er sich darüber freute. Es machte ihn glücklich, daß man ihn lieb hatte. In seinem tiefsten Herzen sehnte er sich nach Cosimas Liebe. Diese Liebe fühlte er aber nicht so, wie er sich danach sehnte. Auch das blieb in seinem Herzen ein auf Erfüllung harrender Teil. Der Beifall der Welt war ein milder Trost für diesen schmerzenden Teil seines Herzens.

Als er im Frühjahr seinen gewohnten Aufenthalt in Weimar antrat, erwartete ihn auch dort eine große Freude. Sein Christus-Oratorium war zur Aufführung bestimmt worden. Als Aufführungsort hatte man die protestantische Kirche gewählt. Einst wäre er schon vor einem solchen Gedanken zurückgeschreckt, jetzt aber trug er Frieden in seinem beruhigten Herzen. Sein Priesterrock wurde erst jetzt zu einem richtigen Gewand Gottes. Und wenn Carolyne in ihren Briefen ihre Warnungen wie Savonarola auch noch so schmetternd predigte, – er fühlte sich katholischer denn je und wußte seinen Gott auch in der protestantischen Kirche.

Schon seit langer Zeit war ihm nicht soviel Glück zuteil geworden. Die Uraufführung dirigierte er selbst. Ein sonderbares Werk war das: schon in sich genommen unmöglich. Denn es war ein Oratorium im wahrsten Sinne des Wortes, ein Gebet, das das Mysterium der Messe voraussetzte. Es war eine Predigt, die man nur während der Messe hätte halten können. Er musizierte auch für niemand anderen, als nur für sich selbst. Er wollte nach seiner Art Gott selbst vertonen. Lange Jahre hatte er die Bibel und die Dogmen der Kirche studiert, um zu begreifen, was von Christus dem menschlichen Verstande faßbar ist. Er hatte das ganze Werk in drei große Teile geteilt: die Geburt Christi, sein Leben und sein Tod. Die drei Hauptteile umfaßten insgesamt dreizehn Sätze, und das Ganze leitete die Prophezeiung des Propheten Jesaias ein. Es begann dann mit der weihnachtlichen Verkündung der Engel und endete mit der Auferstehung. Die Bergpredigt, das Vaterunser, die ganze Passion hatte er vertont. Es war eine gewaltige Schöpfung und im großen und ganzen genommen ein erhaben vergebliches Bemühen. Denn seinen wahren Zweck hätte es nur erfüllen können, wenn die Kirche die bisherige Struktur der Messe ändern und sein Werk dafür einsetzen würde.

Die Uraufführung wurde zu einem großen Ereignis. Von fernen Landen her kamen die Pilger, Wagners kamen aus Bayreuth, aus Pest traf eine ganze Abordnung ein: Albert Apponyi, Abrányi, Sipoß, Mihalovics und ein gewisser Johannes Végh, ein Grundbesitzer aus dem Burgenlande und großer Musikfreund. Wagner und Abrányi saßen nebeneinander. Abrányi konnte sich nicht versagen, außer auf die Musik ab und zu auch einmal auf Wagner zu achten. Wagner, der Gottlose, rührte sich während der ganzen Vorführung nicht, mit geschlossenen Augen hörte er seinen Schwiegervater von Christus sprechen.

Die ungarischen Gäste erzählten dem Komponisten, daß im Herbst eine große Sache im Gange sei: man veranstalte ein Liszt-Jubiläum.

»Was für ein Jubiläum?«

»Das fünfzigjährige Jubiläum«, erwiderte Abrányi, »die goldene musikalische Messe des Meisters. Jetzt werden es fünfzig Jahre, seit Sie zum ersten Male in Wien aufgetreten sind.«

»Sieh mal an, tatsächlich. Daran habe ich gar nicht gedacht. Darüber werde ich mich wirklich freuen. Es wird schön, wenn ich das erleben kann.«

Er erlebte es. Den ganzen Sommer über blieb er in Weimar, dann besuchte er Wagners, den Kardinal Hohenlohe, die Wartburg und fuhr für insgesamt drei Wochen nach Rom. Drei Wochen lang hörte er sich die andauernden Vorwürfe Carolynes geduldig an, ihre Schmähungen Wagners und ihre Prophezeiungen von den furchtbaren Qualen, die den Abbé im höllischen Feuer erwarteten. Er hatte sich fest vorgenommen, nicht zu debattieren. Wenn er aber hin und wieder doch etwas sagen mußte, wurde daraus eine stundenlange Auseinandersetzung, ein unaufhaltsamer Redeschwall. Am letzten Abend verzankten sie sich noch, und zwar wegen der Gräfin D'Agoult.

»Selbstverständlich bin ich Ihnen unbequem«, zankte Carolyne, »die D'Agoult, ja, die war bequemer, weil Sie sie gelangweilt haben und sie sich um ihre Angelegenheiten nicht gesorgt hat. Sie hat sich ja auch um die Kinder nicht gekümmert. Das sieht man an Cosima.«

Darüber entstand eine neue Debatte. Eine Stunde lang stritten sie sich, eine Stunde lang versöhnten sie sich wieder. Dann küßte der Abbé die Fürstin auf die Stirn und verließ sie erleichterten Herzens. Wie ein Schüler nach dem Examen, der kaum erwarten konnte, in die Ferien zu fahren. Der Zug war noch gar nicht abgefahren, – er war schon von dem eigenartigen Geruch des Rauches auf dem römischen Bahnhof beglückt.

In Wien traf er mit einem vierzehnjährigen Knaben ein. Das war niemand anders als der Sohn Blandines. Ollivier, der im Verlaufe des Krieges seinen Ministerpräsidentenposten verloren hatte, war während der neuen französischen Ära nach Italien übergesiedelt. Jetzt hatten sie sich in Florenz verabredet, der Schwiegervater und der Schwiegersohn; Ollivier hatte auch den kleinen Daniel mitgebracht, der sowohl seiner verstorbenen Mutter als auch seinem Onkel, nach dem er genannt worden war, glich. Es war ein liebes, lebhaftes Kind. Sein Großvater hatte ihn so lieb gewonnen, daß er sich nicht von ihm trennen wollte.

»Laß mir das Kind, ich nehme es mal mit nach Pest. Er soll sich mein Jubiläum ansehen. Das wird eine schöne Erinnerung für sein ganzes Leben bleiben. Und die Weltausstellung in Wien zeige ich ihm unterwegs auch.«

Ollivier war anfangs ängstlich gewesen, aber das Kind war nicht mehr zu halten. Man mußte es fortlassen. Seinen Erzieher gab man ihm mit und packte schnell. Der Knabe lief mit freudiger Neugier in dem Eisenbahnwagen umher, versuchte jede Klinke, ließ jedes Fenster herunter und zog es wieder herauf, er war überglücklich. In Wien freundete er sich mit dem gleichaltrigen Franz Liszt junior, Eduards Sohn, an. Die Familie sah sich gemeinsam die Weltausstellung an, auch in den Prater nahm man die Kinder mit. Der Abbé wurde bei jeder Gelegenheit gerührt, wenn er den kleinen Daniel ansah, weil er immer an seinen Sohn denken mußte.

Vor dem Pester Jubiläum mußte er noch seine Wohnung ändern. Sein Diener Nikolaus war mit dem Umzug schon fertig: seine gesamte Einrichtung kam von der Nadorstraße auf den Halplatz. Hier hatte nunmehr der künftige Präsident der Musikakademie zwei Zimmer inne, und da man die Wohnung und Heizung in das Budget der Musikakademie mit hatte einreihen müssen, wollte er sehr sparsam sein. Bei seinem anspruchslosen Lebenswandel brauchte er aber auch gar nicht mehr.

In der neuen Wohnung meldeten sich bald auch die Schüler wieder. Es war eine Neue unter ihnen, sie hieß Ilonka Ravasz. Von dieser Schülerin war der Meister schon in der ersten Minute entzückt. Dieses junge Mädchen war eine sehr begabte Klavierspielerin, ihre Persönlichkeit besagte aber noch viel mehr, als ihre Begabung. Sie lachte immer. Eine vulkanisch gute Laune spannte sie innerlich und schoß bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit aus ihr heraus. Sie sprach mit einem fürchterlichen Akzent deutsch, und es genügte, daß sie zwei Worte sprach, um dem Abbé schon ein lautes Gelächter zu entlocken. Sie war ein quecksilbriges Wesen, konnte keine Minute lang ruhig sein, war fortwährend in Bewegung wie eia Teufelsrad. Und zu alledem war sie noch sehr hübsch und von außerordentlichem Charme.

Zu dem Jubiläum traf die Baronin Meyendorff ein. Mit demselben Zug kamen auch die Gräfin Dönhoff, die Gräfin Schleinitz und der Baron Loën, der Weimarer Intendant. Mit einem anderen Zuge kamen Marianne Brand, die Opernsängerin, Bösendorfer, der Klavierfabrikant, und die Fürstin Bibescu. Es kam Karl Goldmark, der vom Plattensee stammende junge Tondichter, der sich in Wien aufhielt. Es kam auch Sophie, die liebe Sophie Menter, die erst vor kurzem die Frau des Cellisten Popper geworden war. Aus Prag kam der Direktor des Konservatoriums, aus München der Professor der Musikgeschichte, Zeitungsreporter aus Paris, Wien, Berlin und unzählige Berühmtheiten. Die ausländischen Gäste waren Gäste des ungarischen Staates, Baron Eötvös befahl dem Organisationskomitee, dafür Sorge zu tragen, daß die Herrschaften nirgends etwas zu zahlen hatten.

Die auf mehrere Tage verteilten Festlichkeiten setzten damit ein, daß am 8. November abends auf dem Halplatz eine Militärkapelle aufmarschierte. Alle Fenster in den Häusern rund um den Platz waren mit Kerzen beleuchtet. Eine riesige Menge drängte sich auf dem Platz zusammen. Das Orchester spielte seine Kompositionen. Er mußte öfters im Fenster erscheinen, die »Eljen«-Rufe dröhnten wie der Donner im Gewitter. Danach eine große Soirée im Hotel Hungária. Haynald, Graf Georg Mailáth, Trefort, der neue Kultusminister, und Mihalovics empfingen die Gäste. Sehr, sehr viele Gäste. Zutrinken an dem kalten Büfett, Gedränge. Am anderen Tage vormittags Konzert in der Redoute. Haynald, Karl Ráth, der Oberbürgermeister, Albert Apponyi, Augusz und Guido Karácsonyi holten ihn als Deputation ab. Alle Karten waren ausverkauft. Die Festkantate hatte Gobbi geschrieben. Paul Királyi hält eine Rede in ungarischer Sprache, auf einem purpurnen Kissen bringt man einen goldenen Lorbeerkranz. Man verliest das Gründungsdiplom der Stadt über ein Liszt-Stipendium, das er, solange er lebt, selbst verteilen soll. Dann eine lange Reihe von Begrüßungen, allesamt Huldigungen: Weimar, Leipzig, Wien, Jena, das Komitat Ödenburg, in dem sein Geburtsort lag. Die Ehrungen wollen nicht aufhören. Hastiges Mittagessen, um fünf Uhr schon wieder eine Festlichkeit, Hans Richter dirigiert das Christus-Oratorium. Am dritten Tage Begrüßungen, abends ein Festbankett. Unzählige Telegramme. Darunter ein sehr langes von Cosima und Wagner in Versen. Dann ein Ausflug nach Gran. Der Fürstprimas Simor, Feierlichkeiten, »Eljen«-Rufe, grenzenlose Begeisterung.

Nach den offiziellen Jubiläumsfeierlichkeiten reisten die Ausländer ab. Die Feiern hörten aber nicht auf. Auf jeden Tag kam eine Soirée, die man ihm zu Ehren veranstaltete. Sogar ihm selber wurde es zuviel. Offenbar war es aber auch anderen schon zuviel geworden, denn alsbald tönte eine Dissonanz in die allgemeinen Ehrungen hinein. August Gregus, den man ihm als feinfühligen Ästheten geschildert hatte, trug in einer Sitzung der Kisfaludy-Gesellschaft seinen Zuhörern ein Märchen vor von einer Mutter, die zwei Söhne hatte, einen treuen und einen treulosen, und die den treulosen mehr liebte. Er beendete seine Erzählung mit einem Wortspiel auf Johannes Arany und Franz Liszt.

Schon am Tage darauf erfuhr Franzi von diesem Angriff. Man übersetzte ihm das Wortspiel und erklärte es ihm. Seine Freunde beeilten sich, ihn zu trösten. Ihrer Meinung nach hatte Gregus dem alten und kranken Johannes Arany nur einen Gefallen tun wollen und dafür diese nicht ganz glückliche Form gewählt. Auch die Presse mischte sich in die Angelegenheit ein und verteidigte Franz Liszt, der eben jetzt in seine Heimat zurückgekehrt sei: dieser Angriff hätte ihn also nie ungerechter treffen können, als gerade in diesen Tagen.

Ihn hatte die Sache nicht besonders aufgeregt. Ihn interessierte im Augenblick ganz etwas anderes: das entzückende Mädchen Ilonka Ravasz. Mit jeder Stunde gewann er sie mehr lieb, und auch das Mädchen zeigte ihm gegenüber mehr als nur künstlerische Verehrung. Obwohl er sich daran gewöhnt hatte, daß seine sechzig Jahre und sein schneeweißes Haar die Zuneigung der Frauen keineswegs ausschlossen, daß sie im Gegenteil nur noch anwuchs, war er diesem jungen Wesen gegenüber doch ein wenig verlegen. Dazu kam, daß er diesen Typ eines jungen Mädchens immer als heilig und unantastbar betrachtet hatte sein ganzes Leben lang. Soviel erlaubte er sich aber trotzdem, daß er sie unter irgendeinem Vorwand nach der Stunde noch dabehielt und ein Weilchen mit ihr plauderte. Die nie versiegende gute Laune des Mädchens, ihr kluger Humor, ihre immer fröhliche Unterhaltung entzückte und erfrischte ihn. Dann hörte er auch gerne zu, wenn Ilonka Ravasz in echtem Zigeunerstil ungarische Lieder am Klavier vortrug.

Einmal, in der Winterdämmerung, nach der Unterrichtsstunde, plauderten sie auch wieder. Einer seiner Zöglinge machte dem schönen Mädchen offenkundig den Hof, und Franzi ermahnte sie mit väterlichem Wohlwollen, nicht ganz ohne Eifersucht in seinem Herzen, und gab ihr weise Ratschläge: in der heutigen Zeit müßte ein junges Mädchen sehr auf sich achten. Ilonka schwieg eine Weile. Dann sagte sie, nicht traurig, eher lustig, sich selbst verspottend:

»Ich bin ein großes Schaf, Meister. Die guten Ratschläge kommen zu spät. Wenn es meine Mutter wüßte, würde sie mich erschlagen.«

»Was? Also Sie …«

»Ja«, nickte das junge Mädchen, »ich habe jemandem Glauben geschenkt. Das ist allein schon ein großes Unglück. Nach dem ersten Gauner habe ich aber noch dem zweiten geglaubt. Das heißt, die waren gar keine Gauner. Ich war ein großes Schaf. Das heißt, ich war gar kein Schaf. Ich habe es nicht bereut, denn es weiß niemand, nur der Meister. Das ist ja mein ganzes Verderben, daß ich keine zehn Minuten lang ohne Liebe leben kann. Ich muß unbedingt verliebt sein. So ein Schaf wie mich hat der Meister noch nicht gesehen.«

Ihr fürchterliches Deutsch war so goldig, daß Franzi sie am liebsten auf der Stelle abgeküßt hätte. Aber er beherrschte sich.

»Jetzt auch?« erkundigte er sich lachend, aber mit ein bißchen heimlichem Herzklopfen.

»Ich?« lachte das junge Mädchen. »Nur ein Blinder kann nicht sehen, daß ich in den Meister verliebt bin wie ein Affe!«

Franzi erhob sich. Er war schon ein Löwe, der sein Opfer anspringen will.

»Wenn Sie mich liebhaben, warum küssen Sie mich dann nicht?«

Der Übermut des jungen Mädchens war mit einem Male weg. Sie flüsterte leise und beglückt:

»Ich habe nicht gewußt, daß ich das darf.«

Sie legte ihren Kopf in den Nacken, schloß die Augen und wartete verklärt auf den Kuß.


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