Georg Groddeck
Das Buch vom Es
Georg Groddeck

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20. Brief

Gewiß, liebe Freundin, ich verspreche, die Geschichte von dem Federhalter und der Uhrkette heute zu Ende zu bringen.

Warum die Nase auf der rechten Seite verstopft war, muß ich herauszubringen versuchen. Mein Es wünscht irgend etwas nicht zu riechen oder einen Geruchseindruck aus der Nase wegzuspülen. Das ist mein persönlicher Fall. Bei manchen Menschen trifft das mit dem Riechen nicht zu; unter dem Druck der fanatisch gewordenen Krankheitsverhütung, vor allem der Tuberkuloseangst sind eine Menge Menschen auf die Idee gekommen, die Nase zunächst als Atmungsorgan aufzufassen, da sie das Atmen durch den Mund soviel wie ›Gott versuchen‹ dünkt. Für andre wieder ist die Nase ohne weiteres ein Phallussymbol, und so muß bei diesen oder jenen die krankmachende Absicht des Es so oder so aufgefaßt werden. Ich aber muß, wenn irgend etwas mit meiner Nase nicht stimmt, nach dem suchen, was ich nicht riechen soll, und da der rechte Nasengang verstopft ist, muß rechts von mir sein, was für mich Gestank ist. Wie sehr ich mir jedoch auch Mühe gebe, mir will nicht gelingen, irgend etwas rechts von mir zu finden, was stinkt. Aber ich bin durch jahrelanges Glaubenwollen an die 167 Absicht des Es schlau geworden und habe allerlei spitzfindige Rechtfertigungen meiner Theorie erdacht. So sage ich mir jetzt: »Wenn nichts da ist, was schlecht riecht, so ist vielleicht etwas da, was dich an einen Gestank der Vergangenheit erinnert.« Sofort fällt mir eine Radierung von Hans am Ende ein, die rechts von mir hängt und eine Uferlandschaft mit Schilf und einem Segelboot im seichten Wasser darstellt. Venedig steht plötzlich vor mir, obwohl ich weiß, daß der Radierer sein Sujet von der Nordsee genommen hat, und von Venedig geht es zum Markuslöwen und von dem zu einem Teelöffel, den ich vor wenigen Stunden gebraucht hatte. Und auf einmal ist mir, als ob ich wüßte, welchen Geruch ich fliehe. Als ich vor vielen Jahren nach einer schweren Lungenentzündung wassersüchtig wurde, war mein Geruchssinn so scharf geworden, daß mir der Gebrauch von Löffeln unerträglich war, weil ich trotz sorgfältigster Reinigung roch, was vor Stunden oder Tagen damit gegessen worden war. Also wäre das, was ich fliehe, selbst in der Erinnerung noch fliehe, die Erkrankung, das Nierenleiden? In der Tat, wenige Stunden vorher habe ich die Krankengeschichte eines jungen Mädchens enträtselt, bei der ein stinkendes Nachtgeschirr vorkam. Aber mir selbst ist der Geruch von Urin gleichgültig. Das kann es nicht sein. Wohl aber führt mich die Erinnerung in meine Schulzeit zurück, zu den Massenpissoirs, die in der Schule eingerichtet waren und deren scharfer Ammoniakgeruch mir noch deutlich vorschwebt. Und diese Schulzeit, der Gedanke daran, ist noch jetzt verstimmend. Ich erzählte Ihnen schon, ich habe fast alles aus jenen Tagen vergessen. Aber ich weiß, daß ich noch damals – ich war schon zwölf bis dreizehn Jahre alt – die Gewohnheit des Bettnässens hatte, daß ich mich vor dem Gespött der Mitschüler, das übrigens fast nie und dann höchst milde eintrat, fürchtete. Es tauchen Gedanken an leidenschaftliche Zuneigungen zu dem und jenem meiner Freunde auf, Zuneigungen, deren genitaler Affekt verdrängt wurde und sich doch in Phantasien Bahn brach; der Moment, wo ich die Onanie kennenlernte, wird wach, ein Scharlachfieber, bei dem ich zum erstenmal nierenkrank wurde, kommt mir in den Sinn; daß Hans am Ende mein Schulfreund war und daß er auch am Scharlach erkrankte, und hinter dem allen erhebt sich schattenhaft und immer deutlicher die Mutterimago. Ich war ein Mutterkind, ein verhätscheltes Nesthäkchen und habe unter der Trennung von der Mutter durch die Schule schwer gelitten.

Nun aber stecke ich fest. Aber auch da hilft mir eine Erfahrung, die 168 ich bei dem Bestreben, meine Theorie vom Es zu retten, gemacht habe: Dort, wo die Einfälle aufhören, ist die Lösung des Rätsels. Bei der Mutter also. Das hätte ich mir denken können, denn alles, was rechts ist, hängt mit meiner Mutter zusammen. Aber ich besinne mich nicht, so sehr ich auch herumdenke, je bei ihr einen abstoßenden Geruch wahrgenommen zu haben, ja es verbinden sich mit ihr überhaupt keine Geruchserinnerungen.

Ich versuche es mit dem Namen Hans (Hans am Ende). So hieß einer meiner älteren Brüder, der eng mit meinem Schulleben verbunden war. Und plötzlich schiebt sich vor den seinen ein andrer Name: Lina. Lina war meine Schwester, dieselbe, von der ich Ihnen erzählte, als ich von meinen sadistischen Liebhabereien berichtete. Und da stammt auch der Geruchseindruck her; durchaus kein abstoßender, sondern ein einwiegender, unvergeßlicher. Ich kann mich aus der damaligen Zeit – wir waren elf und zwölf Jahre alt – nicht mehr auf die Aufregung besinnen, aber ich bin noch einmal diesem Geruch begegnet und seitdem weiß ich, wie überwältigend der Eindruck für mich ist. Gleich anschließend daran kommt eine zweite Erinnerung, daß Lina mich kurze Zeit darauf in die Geheimnisse der Menstruation einweihte. Sie machte mir weis, sie sei schwindsüchtig, zeigte mir das Blut und lachte mich aus, als sie mein Erschrecken sah, und erklärte mir die Bedeutung der Blutung.

Als ich so weit war, verschwand die Verstopfung der Nase; was ich jetzt noch hinzufüge, dient nur der Klärung der Zusammenhänge. Zunächst fällt mir ein, was Hans am Ende bedeutet. Alle meine Angehörigen sind gestorben, als letzter mein Bruder Hans: Hans am Ende. Mit diesem Bruder habe ich auch die einzige Segelfahrt meines Lebens gemacht, was mit dem Segelboot auf am Endes Radierung zusammenfällt.

Dann hellt sich das Dunkel auf, das über den Beziehungen des Komplexes zur Mutterimago liegt. Meine Mutter trug denselben Namen wie meine Schwester: Lina. Damit wächst das Erstaunen, daß ich keine Geruchserinnerungen an meine Mutter habe, während sie bei der Schwester so stark sind, und ich beginne wieder allerlei Taschenspielerei mit Ideen.

Wenn sich zwei Hunde begegnen, beschnüffelt der eine des anderen Hinterteil; offenbar erkunden sie so mit der Nase, ob sie einander sympathisch sind oder nicht. Wer Humor hat, lacht über diese Hundegewohnheit, wie Sie es tun, und wem der Humor mangelt, der findet es unappetitlich. Aber hält Ihr Humor auch an, wenn ich behaupte, daß die Menschen es ebenso machen? Das 169 werden Sie ja aus eigener Erfahrung wissen, daß ein Mensch, der stinkt, allerlei gute Eigenschaften haben kann, daß er aber im Grunde genommen unsympathisch ist; wobei man allerdings nicht vergessen darf, daß, was dem einen stinkt, dem andern wie Rosenduft vorkommt. Sie werden auch als scharf aufmerkende Mutter beobachtet haben, daß das Kind Gegenstände und Menschen nach dem Geruch beurteilt. Die Wissenschaft tut zwar so, als ob der Mund und die Zunge als Probierstein für angenehm und unangenehm benutzt würde, aber die Wissenschaft behauptet vieles, und wir brauchen uns darum nicht zu kümmern. Ich behaupte, daß der Mensch viel intensiver und, wenn Sie wollen, noch viel unappetitlicher als der Hund seine Nase braucht, um festzustellen, was ihm paßt und was nicht.

Zunächst ist der Geruch des weiblichen Schoßes und des Bluts, das daraus fließt, eine der ersten Wahrnehmungen, die der Mensch macht. Ich erwähnte das schon, um die Bedeutung der periodischen Brunst klarzumachen. Dann kommt eine Zeit, wo die Nase des kleinen Weltbürgers sich hauptsächlich mit dem Riechen des eigenen Urins und Kots beschäftigt, was gelegentlich mit den Düften der Frauenmilch und der mütterlichen Achselhaare abwechselt, während dauernd der intensive durchdringende und unvergeßliche Duft des Wochenflusses einwirkt. Die Mutter frischt während dieser Zeit nach der Geburt die eignen Säuglingserinnerungen auf, die ihr Gelegenheit geben, ihre Liebe zu sich selbst auf den Säugling zu übertragen; die längst vergessenen Genüsse von Windelgeruch werden wieder wach. Daneben atmet sie ein, was an Gerüchen aus den Haaren und dem ganzen Körper des Kleinen aufsteigt. Und das bleibt wohl so lange Zeit, denn das Kind ist klein und die Mutter groß, so daß sie bei jedem Verkehr mit dem Kinde zunächst sein Haar mit Sehen und Riechen wahrnimmt, eine Sache, die nicht unwichtig ist, weil gerade um die Organe der Liebe solch reichlicher Haarwuchs geheftet ist. Beim Kinde aber wechselt das Terrain. In den ersten Jahren sind es die Füße und Beine, die es riecht; denn das Kind ist klein, und die Erwachsenen sind groß. Behalten Sie das im Gedächtnis, Liebe, daß das Kind zunächst die Beine der Menschen kennen und lieben lernt; es ist wichtig, erklärt vieles und wird nie beachtet. Dann kommen Jahre, lange Jahre, und wenn Sie all die flüchtigen Momente, die sich die Hunde beriechen, zusammenzählen, werden Sie noch längst nicht die Zeitdauer erreichen, die Jahre, in denen das Kind fast ununterbrochen riechen muß, was in der Bauchgegend der Erwachsenen vor sich geht. Und das gefällt ihm 170 ausnehmend gut. Und wird auch rührend gefunden; denn welcher gefühlvolle Schriftsteller ließe sich wohl den Knaben – oder den Mann – entgehen, der seinen Kopf im Schoße der Mutter – oder der Geliebten – birgt. Was, seiner Poesie entkleidet, soviel heißt als: Er steckt seine Nase zwischen ihre Beine. Das klingt roh, enträtselt aber die Entstehung der Kindesliebe und der Liebe zur Frau. Die Natur hat wunderliche Wege, um den Menschen zum Weibe zu zwingen. Und das ist der, der von allen begangen wird.

Was hat das mit der Tatsache zu tun, werden Sie fragen, daß ich keine Geruchserinnerungen an meine Mutter habe? Das ist einfach genug. Wenn das Kind wirklich durch die Größenverhältnisse dazu gezwungen ist, lange Jahre hindurch bei der Mutter alle Vorgänge der Leibesmitte mit der Nase mitzuerleben, so muß es auch die merkwürdigen Geruchsveränderungen wahrnehmen, die alle vier Wochen bei der Frau stattfinden. Es muß auch die Erregungen mitmachen, denen die Mutter während der Zeit der Periode unterworfen ist. Die Atmosphäre des Blutdunstes teilt sich ihm mit und steigert seine Inzestwünsche. Allerlei innere Kämpfe entstehen aus diesen aufreizenden Eindrücken, allerlei dumpf empfundene, tief schmerzliche Enttäuschungen knüpfen sich daran und verstärken sich durch das Leid, das aus den Launen, der Verstimmung, den Migränen der Mutter entsteht. Ist es ein Wunder, daß ich den Ausweg der Verdrängung eingeschlagen habe?

Leuchtet Ihnen ein, was ich sage? Aber bedenken Sie doch, daß es Menschen gibt, die behaupten, sie hätten nichts von der Periode gewußt, ehe sie erwachsen waren. Wenn ich mich nicht täusche, sind es viele Menschen, oder sind es gar alle? Wo haben sie doch alle ihre Nase gelassen? Und was ist es denn mit dem Gedächtnis des Menschen für eine Sache, wenn er solche Erlebnisse vergißt, vergessen muß? Da wundert man sich darüber, daß der Mensch so geringen Spürsinn hat; aber was sollte wohl aus ihm werden, wenn er nicht mit aller Kraft seines Unbewußten die Nase abstumpfte? Dazu zwingt ihn das Verbot der Erwachsenen, irgend etwas über Sexualereignisse zu wissen, dazu zwingt ihn die prüde Schamhaftigkeit der Mutter, die verlegen wird, wenn das Kind wißbegierig fragt; denn nichts ist beschämender, als zu sehen, daß der geliebte Mensch sich dessen schämt, was man selbst unbefangen bespricht. Es brauchen nicht immer Worte zu sein, von denen Kinder eingeschüchtert werden, unwillkürliche Bewegungen, leichte, kaum merkbare Gebärden und Verlegenheiten wirken mitunter viel tiefer. Aber wie sollte eine Mutter dieses Verlegenaussehen vermeiden? Es ist die Bestimmung der Mutter, ihr 171 eigenes Kind in den tiefsten Empfindungen zu verletzen, es ist ihr Schicksal. Und daran ändert kein guter Wille, kein Vorsatz auch nur das geringste. Ach, liebe Freundin, es gibt so viel Tragik im Leben, die des Dichters harrt, der sie gestalten kann. Und vielleicht kommt dieser Dichter nie.

Man vergißt, was schwer zu ertragen ist, und was man nicht vergißt, war für uns nicht zu schwer. Das ist ein Satz, dessen Inhalt Sie wohl überlegen sollten, denn er wirft vieles von dem um, was gang und gäbe bei den Menschen ist. Wir vergessen, daß wir einmal im Mutterleibe saßen, denn es ist schrecklich zu denken, daß wir aus dem Paradiese vertrieben wurden, aber auch schrecklich, daß wir einmal in der Finsternis eines Grabes waren; wir vergessen, wie wir zur Welt kamen, denn die Angst des Erstickens war unerträglich. Wir vergessen, daß wir einmal laufen lernten, denn der Moment, in dem uns die Hand der Mutter losließ, war furchtbar und die Seligkeit dieser ersten selbständigen Leistung so überwältigend, daß wir sie nicht in der Erinnerung bewahren können. Wie sollten wir es ertragen, zu wissen, daß wir jahrelang in Windeln und Hosen machten? Denken Sie daran, wie Sie sich schämen, wenn Sie ein braunes Fleckchen in ihrer Wäsche finden, denken Sie an das Entsetzen, das Sie befällt, wenn Sie auf der Straße nicht mehr zurückhalten können, was in den Abtritt gehört. Und was sollen wir mit der Erinnerung, daß es Menschen gab, die so entsetzlich stark waren, daß sie uns in die Luft werfen konnten? Die uns schalten, ohne daß wir wieder schelten durften, die uns Klapse gaben und in die Ecke stellten, uns, die wir Geheimräte, Doktoren oder gar Tertianer sind? Wir können es nicht ertragen, daß dieses Wesen, das sich Mutter nennt, eines Tages uns die Brust verweigerte, dieser Mensch, der behauptet, uns zu lieben; der uns die Onanie lehrte und uns dann dafür bestrafte. Und ach, wir würden uns zu Tode weinen, wenn wir uns erinnerten, daß es einmal eine Mutter gab, die für uns sorgte und mit uns fühlte, und daß wir nun einsam sind und keine Mutter haben. Durch eigne Schuld!

Daß wir unsre Kenntnis der Menstruation, von der uns unser Geruchssinn in frühster Kindheit unterrichtet hat, wenn es nicht auch das Sehen des Bluts, der Binden, des Nachtgeschirrs, das Miterleben von Zwistigkeiten, Migräne, frauenärztlicher Behandlung tat, daß wir diese Kenntnis völlig vergessen, ist nicht wunderbarer, als daß wir auch alle Erinnerung an die Onanie verlieren, die Onanie der ersten Lebensjahre. Und mindestens ein Grund ist gemeinsam für diese beiden Lücken in unserem Gedächtnis, die 172 Angst vor der Kastration. Sie besinnen sich, daß ich behauptete, unsre Kastrationsangst hänge mit dem Schuldbewußtsein zusammen, das aus der Onanie und dem Verbot entsteht. Der Gedanke aber, daß Geschlechtsteile abgeschnitten werden können, stammt aus der Feststellung früherer Jahre über die Geschlechtsunterschiede, weil wir als Kinder den weiblichen Geschlechtsteil als Kastrationswunde auffassen; das Weib ist ein kastrierter Mann. Diese Idee wird zur Gewißheit durch die Wahrnehmung der Blutungen, die wir riechen. Die Blutungen erschrecken uns, weil sie die Befürchtung wecken, daß wir selbst zum Weibe gemacht werden könnten. Um nicht an diese Blutungen erinnert zu werden, müssen wir unsern Geruchssinn abtöten und auch die Erinnerung an den Blutgeruch vertilgen. Das gelingt nicht; was wir erreichen, ist nur die Verdrängung. Und diese Verdrängung benützt das Leben, um das Verbot des Geschlechtsverkehrs während der Periode aufzubauen. Da das blutende Weib den verdrängten Kastrationskomplex aufweckt, vermeiden wir die neue Berührung der wunden Frau.

Hier spielt ein zweiter verdrängter Komplex mit hinein, der ebenfalls mit dem Geruchssinn verquickt ist, der Schwangerschafts- und Geburtskomplex.

Besinnen Sie sich, daß ich Sie einmal gefragt habe, ob Sie nie etwas von den Schwangerschaften und Entbindungen Ihrer Mutter gemerkt hätten? Sie hatten eben einen Wöchnerinnenbesuch bei Ihrer Schwägerin Lisbeth gemacht, und der eigentümliche Geruch des Wochenbetts haftete noch an Ihnen. Nein, sagten Sie, niemals. Selbst von dem jüngsten Bruder sind Sie überrascht worden, obwohl Sie mit Ihren fünfzehn Jahren längst aufgeklärt waren. Wie ist es möglich, daß ein Kind nicht sieht, daß die Mutter dick wird? Wie ist es möglich, daß ein Kind an den Storch glaubt?

Es ist beides nicht möglich. Die Kinder wissen, daß sie aus dem Bauche der Mutter stammen, aber sie werden von sich aus und von den Erwachsenen aus gezwungen, an die Fabel des Storches zu glauben; die Kinder sehen, daß die Mutter dick wird, daß sie plötzlich Bauchweh bekommt, ein Kindchen zur Welt bringt, blutet und beim Aufstehen dünn ist; die Kinder wissen es jedesmal, wenn die Mutter schwanger ist, und sie werden niemals von der Geburt überrascht. Aber all dieses Wissen und Wahrnehmen wird, verdrängt.

Wenn Sie bedenken, welche Kraft verwendet werden muß, um all diese Wahrnehmungen und die daraus gefolgerten Schlüsse beiseite zu schieben, so wird Ihnen vielleicht ein wenig deutlicher 173 werden, was ich mit der Behauptung meine, daß das Verdrängen die hauptsächliche Beschäftigung des Lebens ist. Denn was ich hier an dem Beispiel der Schwangerschaft und Geburt erläutere, geschieht in jeder Minute des Lebens mit andern Komplexen. Sie können kein Zimmer betreten, ohne den Mechanismus des Verdrängens in Bewegung zu setzen, ohne so und so viele Wahrnehmungen von Möbeln, Nippes, Farben, Formen aus dem Bewußtsein fernzuhalten, Sie können keinen Buchstaben lesen, kein Gesicht ansehen, kein Gespräch anhören, ohne fortwährend zu verdrängen, ohne Erinnerungen, Phantasien, Symbole, Affekte, Haß, Liebe, Verachtung, Scham und Rührung fortzuschieben. Und nun, Liebe, denken Sie daran: Was verdrängt wird, ist nicht vernichtet, es bleibt da, ist nur in eine Ecke geschoben, aus der es eines Tages wieder hervorkommt, ist vielleicht nur aus seiner Lage gebracht, so daß es nicht mehr, vom Sonnenlicht beleuchtet, rot glänzt, sondern schwarz zu sein scheint. Das Verdrängen wirkt und verändert unablässig an den Erscheinungen; was jetzt für den Augenhintergrund ein Gemälde von Rembrandt ist, wird verdrängt und erscheint im selben Augenblick als Spiel an der Uhrkette wieder, als Bläschen am Mundwinkel, als Abhandlung über die Kastration, als Staatengründung, Liebeserklärung, Zank, Müdigkeit, plötzlicher Hunger, Umarmung oder Tintenklecks. Verdrängen ist Umschaffen, ist kulturbauend und kulturvernichtend, erdichtet die Bibel und das Märchen vom Storch. Und der Blick in die Geheimnisse des Verdrängens verwirrt das Denken so, daß man die Augen schließen und vergessen muß, daß es Verdrängungen gibt.

Patrik Troll

 


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