Emile Gaboriau
Aktenfaszikel 113
Emile Gaboriau

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20.

Eine Stunde war verflossen seit Raoul sich entfernt hatte, und Frau Fauvel saß noch immer in völliger Erstarrung da, unfähig sich zu regen, unfähig zu denken.

Erst nach und nach kam ihr das Gefühl ihrer Lage zurück. Jetzt begriff sie, daß sie sich von Raoul hatte schmählich betrügen lassen, daß er sie kaltblütig gefoltert und auf ihre blinde Mutterliebe gerechnet hatte. Ob Prosper wirklich Raouls Mitschuldiger war? Sie mußte es annehmen, nach dem, was ihr Sohn ihr gesagt hatte. Und nun quälte sie auch noch eine andere Frage: konnte, durfte sie Magda von dem Vorgefallenen verständigen?

Nach langen Erwägungen beschloß sie das fürchterliche Erlebnis geheim zu halten.

Sie begab sich zur Ruhe noch ehe die Ihren heimkehrten.

Aber Ruhe fand sie nicht.

Die ganze Nacht war für sie eine endlos lange, unerträgliche Qual.

Und so lang sie schien, so fürchtete sie doch den kommenden Tag, sie zählte die Stunden: »Noch sechs – noch drei – ach, in der nächsten – in wenigen Augenblicken wird alles entdeckt sein! O Gott, o, großer Gott, was dann, was dann?«

So jammerte sie.

Der Tag kam, sie wollte sich erheben, vermochte es aber nicht. Sie fühlte sich unsäglich schwach und Krämpfe schüttelten sie. Sie sank in ihre Kissen zurück und erwartete schaudernd, was kommen mußte.

Magda war auf Mitteilung der Kammerfrau, daß die gnädige Frau sehr unwohl sei, besorgt herbeigeeilt. Sie fand den Zustand der Tante so bedenklich, daß sie den Onkel verständigen wollte und entfernte sich, um ihn zu holen. Nach einigen Minuten aber erschien sie wieder. Sie war bleich wie der Tod und bebte am ganzen Leibe.

»Weißt du, was vorgeht, Tante? Man beschuldigt Prosper eines Diebstahls und er soll verhaftet werden!«

Frau Fauvel stöhnte.

»Der Marquis oder Raoul haben da ihre Hand im Spiele,« fuhr Magda erregt fort.

»Wie wäre das möglich . . .?«

»Das weiß ich nicht, aber Prosper ist unschuldig, ich habe ihn eben gesehen, gesprochen – er hätte es nicht gewagt, mir in die Augen zu sehen, wenn er schuldig wäre.«

Schon öffnete Frau Fauvel den Mund, um ihrer Nichte alles zu sagen, als der Bankier eintrat.

»Der Elende . . .,« stammelte er zitternd vor Wut, »er wagt es, mich zu verdächtigen . . . und dieser Marquis von Clameran, der meine Solvenz in Zweifel zieht . . .«

Und mit kurzen Worten erzählte er, was sich zugetragen hatte.

»Aber ich habe es längst kommen sehen,« schloß er, »bei dem schlechten Lebenswandel, den Prosper seit Jahr und Tag führt!«

Am Nachmittage, Herr Fauvel befand sich in seinem Arbeitszimmer, meldete der Diener plötzlich den Marquis von Clameran.

Der Bankier war über diese Frechheit empört, doch bezwang er sich und sagte: »Ich lasse bitten.«

Doch der Diener kam zurück und sagte, der Herr Marquis sei unten im Bureau und lasse den Herrn Fauvel bitten, seinen Besuch dort zu empfangen.

Fauvel war über diese Zumutung entrüstet und ohne seinen Zorn zu verbergen, begab er sich hinab.

»Was wünschen Sie, Herr Marquis?« sagte er barsch. »Sie haben ja Ihr Geld erhalten.«

»Sie sind mir böse, Herr Fauvel,« entgegnete Clameran mit ausgesuchter Höflichkeit, »und ich habe es verdient. Ich habe Ihnen unrecht getan und ich komme, um Ihnen Abbitte zu leisten. Ich habe Sie ersuchen lassen, mich hier zu empfangen, weil ich wünschte, daß die Herren hier, die heute morgen Zeugen meines ungerechtfertigten Betragens waren, auch hören sollen, daß ich Sie bitte, meine Entschuldigungen entgegenzunehmen.«

Clamerans gegenwärtiges Betragen stand so im Gegensatz zu seinem sonstigen Hochmut, daß Fauvel aufs äußerste überrascht war.

»Ich muß gestehen,« entgegnete er, »Ihre Anspielungen, Ihre Zweifel . . .«

»Nochmals bitte ich, verzeihen Sie. Ich war ärgerlich, erregt, und verlor die Herrschaft über mich selbst. Trotz meiner grauen Haare bin ich noch heftig und unbedacht wie ein Jüngling. Aber ich bereue mein Vergehen, ich versichere Sie.«

Fauvel, der selbst jähzornig war, aber seine Heftigkeit stets gleich bereute, hatte Verständnis für Clamerans Betragen, und da er ihm jetzt mit solcher Herzlichkeit entgegenkam, war er entwaffnet. Er streckte dem Marquis die Hand entgegen und sagte: »Es sei alles vergessen, Herr Marquis.«

Sie unterhielten sich noch einige Minuten freundschaftlich, dann erklärte Clameran, daß er sich gern bei Frau Fauvel melden lassen möchte, aber fürchte, vielleicht lästig zu fallen.

»Die gnädige Frau ist sicher sehr aufgeregt wegen der peinlichen Angelegenheit,« sagte er.

»Ja, aber ein wenig Zerstreuung wird ihr gut tun und sie wird sich über Ihren Besuch freuen. Ich aber muß leider wegen der unseligen Sache aufs Polizeikommissariat.«

Frau Fauvel war noch immer sehr leidend, aber sie hatte ihr Zimmer verlassen und lag nun im kleinen Salon auf dem Ruhebette. Magda saß neben ihr.

Als der Marquis gemeldet wurde, fuhren beide entsetzt empor.

Er trat ernst und gemessen ein und verneigte sich grüßend. Frau Fauvel wies ihm einen Sitz an, aber er blieb stehen.

»Sie werden mich entschuldigen, meine Damen, wenn ich Sie störe, aber ich habe eine Pflicht zu erfüllen . . .«

Und da er keine Antwort erhielt, fügte er leise hinzu: »Ich weiß alles

Frau Fauvel sah nun voraus, daß er das Geheimnis vor Magda enthüllen würde und sie machte eine Bewegung, als wollte sie ihm am Sprechen verhindern, er aber schien es nicht zu bemerken, er wandte sich Magda zu, welche sagte: »Bitte, wollen Sie sich deutlicher erklären.«

»Erst seit einer Stunde weiß ich selbst das Fürchterliche, weiß, daß Raoul seine Mutter zwang ihm den Kassenschlüssel auszuliefern und . . .«

Schreckensbleich und entsetzt sprang Magda empor. Sie faßte die Tante am Arme und sagte tonlos: »Ist das wahr?«

»Ach Gott, ach Gott,« stöhnte Frau Fauvel und barg ihr Gesicht in beiden Händen.

»Und du hast zugeben können, Tante, daß Prosper angeklagt und ins Gefängnis geworfen wurde?«

»Prosper war im Einverständnis mit Raoul,« sagte Frau Fauvel mit leiser Stimme.

»Wie, das kannst du glauben?« rief Magda empört.

»Unglücklicherweise ist das, was Ihre Frau Tante sagt, die reine Wahrheit,« fiel Clameran ein. »Wer anders als er hat das Stichwort verraten, wer das Geld in der Kasse belassen?«

Diese Einwände schienen auf Magda keinen Eindruck zu machen. Sie sah den Marquis verächtlich an und fragte: »Wissen Sie etwa, was aus dem Gelde geworden ist?«

Diese Beleidigung traf Clameran wie ein Schlag ins Gesicht, er wurde aschfahl, aber er faßte sich sogleich und sagte: »Es wird der Tag kommen, gnädiges Fräulein, an dem Sie bereuen werden, so ungerecht gegen mich gewesen zu sein. Ihnen aber, gnädige Frau, bin ich noch Aufklärung über den Zweck meines Besuches schuldig . . . Ich komme, um Ihnen zu sagen, daß ich mich als Onkel und Vormund verpflichtet halte, den durch Raoul angerichteten Schaden gut zu machen; mein Neffe hat 350 000 Frank entwendet. Ich bringe Ihnen diese Summe – es ist mehr als die Hälfte meines Vermögens, aber ich würde freudig alles, was mir noch bleibt, hergeben, wenn ich dadurch Raouls Besserung erkaufen könnte . . .!«

Frau Fauvel war tief gerührt.

»Nun sind wir gerettet, ich danke Ihnen, Herr Marquis,« sagte sie, indem sie ihm die Hand entgegenstreckte. »Sie sind gut, Sie sind edel!«

Aber Magda war nicht so leicht gewonnen.

»Was sollen wir mit dem Gelde?« fragte sie.

»Frau Fauvel wird es ihrem Gatten zurückerstatten.«

»Das ist unmöglich, die Tante müßte Raouls Verbrechen eingestehen, sich selbst anklagen – das kann nicht, darf nicht geschehen – nehmen Sie Ihr Geld zurück, Herr Marquis, Ihre – Großmut kann uns nicht helfen.«

Clameran verbeugte sich.

»Ich verstehe Ihre Weigerung und gehorche. An mir aber wird es sein den geeigneten Weg, das Geld zurückzuerstatten, ausfindig zu machen.«

Er erhob sich, um sich zu verabschieden.

»Sie wissen nicht, gnädiges Fräulein, wie schmerzlich mir Ihre Ungerechtigkeit ist,« sagte er, »ich habe, nach dem Versprechen, welches Sie die Gnade hatten, mir zu geben, auf einen anderen Empfang gehofft.«

»Mein Versprechen werde ich halten, aber erst bis ich sichere Bürgschaft habe.«

»Bürgschaft? Welche Bürgschaft und wofür?

»Wer bürgt mir, daß nach meiner Verheiratung Raoul seine Mutter nicht aufs neue bedroht? Sie wollen ihm meine Mitgift geben, aber für einen Verschwender seiner Art ist dies Geld wie ein Tropfen auf einen heißen Stein. Stehen Sie mir gut dafür, daß die Tante vor ihm für immer Ruhe hat, und wie kann ich Ihnen glauben?«

»Was soll ich nur tun, um Sie von der Ehrlichkeit meiner Gesinnungen zu überzeugen? Soll ich versuchen Herrn Bertomy zu retten?«

»Ich danke für Ihr Anerbieten,« entgegnete Magda kalt, »wenn Prosper schuldig ist, mag er zugrunde gehen, ist er unschuldig, so wird Gott ihn beschützen.«

Clameran verbeugte sich stumm und ging, da sich die Damen zur Verabschiedung erhoben hatten.

»Das Mädchen hat Charakter,« dachte er, »und ich liebe sie wahnsinnig, sie ist so schön, so stolz! Sie muß mein werden! Aber wie kann ich ihr die verlangte Bürgschaft geben, wie beweisen, daß Raoul seine Mutter nicht mehr quälen wird?«

Clameran war wütend, so nahe am Ziel, gab es ein neues Hindernis, Raoul stand ihm im Wege – ei, der Bursche mußte einfach beseitigt werden! Freilich, er war mißtrauisch und klug, es würde keine leichte Arbeit sein, allein – was halfs – es mußte sein!

Magda hingegen freute sich ihres glücklichen Einfalls, nun hielt sie Clameran im Schach, sie hatte Zeit und damit viel gewonnen.

Durch Herrn Fauvel erfuhr sie und die Tante das Ergebnis der Untersuchung gegen Prosper, sie wußten, daß er jede Schuld in Abrede stellte, und schließlich wegen Mangel an Beweisen freigelassen worden war.

Frau Fauvel glaubte an Prospers Schuld, ja sie hielt ihn sogar für den Verführer ihres trotz alle- und alledem teueren Sohnes.

Magda dagegen war von Prospers Schuldlosigkeit in ihrem innersten Herzen überzeugt, und als sie von seiner Freilassung erfuhr, erbat sie sich von ihrem Onkel – für einen wohltätigen Zweck, wie sie sagte – 10 000 Frank, die sie Prosper zukommen ließ. In dem Begleitbriefe, zu dem sie Buchstaben aus ihrem Gebetbuche schnitt, empfahl sie ihm Frankreich zu verlassen und jenseits des Ozeans ein neues Leben zu beginnen.

Ein geheimer, ihr vielleicht selbst nicht ganz klarer Gedanke leitete sie, sie wollte, falls sie genötigt war, den verhaßten Clameran zu heiraten, den geliebten Mann weit entfernt wissen.

Unterdessen stellten sich für Frau Fauvel die Folgen ihrer allzu großen Freigebigkeit gegen Raoul ein. Die Lieferanten, die sich lange geduldet hatten, drängten endlich auf Bezahlung ihrer Rechnungen und drohten, sich an den Bankier selbst zu wenden.

Dazu kamen Toilettesorgen. Die beiden Damen hatten allerlei Vorwände gebraucht, um keine Bälle und Gesellschaften besuchen zu müssen – nur um keine Toiletteausgaben zu haben, aber nun kam der Ball bei Fauvels bestem Freunde, Jandidier, und sie konnten sich nicht weigern hin zu gehen.

Woher aber sollten sie Geld zu den Kostümen nehmen? Schon schuldeten sie der Schneiderin eine bedeutende Summe.

Da kam ihnen unerwartet Hilfe.

Magdas neues Kammermädchen Anna erzählte ganz zufällig von einer geschickten Schneiderin, die erst Anfängerin war, aber genügend Kapital besaß, um Stoffe und alles liefern zu können. Diese Schneiderin würde glücklich sein, durch die Kundschaft der Damen Fauvel zu Ansehen zu gelangen.

Das war ein Ausweg, aber nun fehlte es ihnen an Schmuck. Sollte Frau Fauvel ohne ihre Brillanten zum Balle gehen? Auch Magdas Kostüm als Edeldame erforderte Geschmeide.

Da kam das junge Mädchen auf den Gedanken, Raoul solle von dem gestohlenen Gelde wenigstens so viel hergeben, um den Schmuck auslösen zu können.

»Schreibe Raoul, daß du ihn zu sprechen wünschest,« sagte sie zu Frau Fauvel, »und dann fahre ich hin.«

Und in der Tat, am nächsten Abend fuhr das tapfere Mädchen nach Besinet. Aber ihr Schritt war nutzlos. Raoul behauptete mit Prosper geteilt, seinen Anteil aber schon verschwendet zu haben. Auch die Pfandscheine wollte er nicht herausgeben – er handelte nach Clamerans strenger Weisung – und es gelang Magda nur, ihm einige, die geringe Schmuckgegenstände betrafen, zu entreißen – was hätten ihr auch alle geholfen, da sie doch nicht das Geld besaß, die Kostbarkeiten auszulösen! – Frau Fauvel mußte ohne Brillanten, überhaupt ohne Schmuck auf den Ball gehen! – – –

Clameran und Raoul lebten in beständigem Hader miteinander, aber angesichts einer gemeinsamen Gefahr söhnten sie sich wieder aus.

Der geheimnisvolle Bajazzo und seine Andeutungen erschreckten sie so sehr, daß sie ihn zu ermorden versuchten; als ihr Attentat vereitelt war, und sie gar seine Spur verloren hatten, überfiel sie jäher Schrecken.

»Wir müssen auf unserer Hut sein,« sagte Clameran, »ich fürchte, wir erfahren nur zu bald, wer der Mann ist.«

Raoul bat und beschwor Louis auf Magda zu verzichten.

»Noch ist es Zeit, komm, fliehen wir.«

»Nein,« versetzte Clameran leidenschaftlich, »Magda muß mein werden oder ich gehe zugrunde.«

Und ruhiger geworden, fügte er hinzu: »Fürchte nichts, wir sind ja jetzt gewarnt – uns kann nichts geschehen!«


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