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Allerlei Begegnungen

Den roten Geckir hielt man auf Burg Reifenberg seines bedrückten und stillen Wesens halber für einen Wirren. Zwar erregte es Verwunderung, daß er nach einer Nachtwache an Henchen Hanauwes Grab nur auf die Feste kam, um einen Trunk Milch und einen Bissen Brot zu fordern und dann an die unheimliche Hügelstätte zurückzupilgern, aber man ließ ihn gewähren.

Es zog den Schäfer an das einsame Grab, gleichsam als verknüpften ihn unsichtbare Fäden von dieser Stelle aus mit der Stadt, in der er sein Glück dahinten gelassen. Träumend, den Blick versunken in die Ferne gerichtet, saß er neben dem nun eingetrockneten Erdreich und hielt stille Zwiesprache mit dem Ermordeten. Tiefen Eindruck hatte ihm der erste Anblick des Todes hinterlassen … fast war es, als begriffe sein unberührter Sinn, daß mit dem Sterben alle Rätsel dieses Lebens gelöst seien. Und so suchte er an der verlassenen Stätte unter den Birken das Rätsel von Merlas Beschuldigung zu ergründen, die die Umkehr gewesen war von zarter und doch so heißer Liebe zu einem Vorwurf aus verächtlichem und trennendem Haß. Vergebens durchforschte er jede Stunde der Vergangenheit nach Gründen … daß die Schuld allein auf seiner Seite war, daß er das herbste Wort zur Trennung selbst ausgesprochen und seines Mädchens Stolz mit einem ehrlos machenden Vorwurf verletzt, das begriff er nimmer. Doch weder der still Gefragte unter der Erde, noch die stumm fort und fort spinnenden Gedanken wußten Antwort auf das sehnsüchtige Grübeln.

Drüben raunte der Bach – die Birken nickten mit den grün behangenen Häuptern – der Vormittag hatte die Sonne nach dem Scheitelpunkte des Himmelsdoms immer gleißender werdend aufsteigen sehen – vom Reifenberg her rief sanft die Glocke der Burgkapelle in den Schmittgrund darnieder, die Mittagszeit verkündend. Es war zu jener Stunde, in der Herr Hatzicho mit seinem Fähnlein Gewappneter aus dem Hattstein aufgebrochen war, um – wie wenigstens seine Mannen dachten – irgendwo am Straßenrain oder hinter dem Busch auf gute Beute zu lauern. Die kleine Schar bog trabend in das Wiesentälchen ein, von wo aus der Landweg gen Homburg vor der Höhe führte.

Als Geckir die Reiter kommen sah, flüchtete er in den Wald und erstieg flink eine bis auf den Boden beästete Tanne, in deren Wipfel er sich verbarg. Nachdem er jedoch an der tief und unaufgestört bleibenden Ruhe des Gehölzes merkte, daß man ihn unbehelligt ließ, wagte er sich herab und schlich bis an den Rand des Forstes.

Da fuhr der rote Geckir herum. In der Stille knackte ein nahender Schritt auf den dürren Ästchen, die hier und da gestorben von den alten Bäumen glitten, wenn der leise Odem der Stunde durch die greisen Wipfel hauchte, als möchte er die schlafenden Waldriesen rütteln, die über sie dahingebrausten Stürme nicht zu vergessen. Der Schäfer verbarg sich eilig hinter einem Busch, der, das Licht suchend und die Waldwiese, im Gras am Tannenrande kauerte.

Eine Frau nahte; sie bückte sich ab und zu und sammelte Tannenzapfen in eine um die Hüften gehängte Tasche. So schritt sie langsam der Lichtung entgegen und stand bald in der Sonne, den sinnenden Blick zu den unaufhaltsam über des Himmels Blauen gleitenden, hoch treibenden feinen Wölkchen erhoben. Und Geckir richtete sich voller Staunen langsam auf, starrte mit weiten Augen die einsame Frau an und hob wie aus seiner Sehnsucht heraus die Arme nach dem Weibe. Dann rang sich ein Jauchzen der Freude und in diesem Jauchzen ein Name aus seinem Munde: »Merla …«

Mit einem schrillen Schrei wendete Frau Doreta ihr dunkles Gesicht dem Rufer zu und sah entsetzt mit den großen Braunaugen nach ihm. Sie ergriff die Flucht, doch Geckir verlegte ihr den Weg. Erst als er der Zitternden nahe gegenüber stand, erkannte er den Irrtum. Der Name des Mädchens aber entfloh ihm nochmals in einem Stammeln heißer Enttäuschung: »Merla …«

»Was weißt du von Merla?« hauchte die Vogtin, entseelten Ausdruck im Blick.

»Wer bist du?« frug Geckir dagegen und hielt die Frau bei beiden Schultern fest. »Du bist wie Merla und du bist es doch nicht.« Er forschte in ihrem fahl gewordenen Antlitz, sah, daß es eine andere war und sah doch immer wieder des Mädchens Gesicht an dieser Fremden. Traurig ließ er sie los.

Da packte ihn Frau Doreta nun am Ärmel. »Woher kennst du mich und meinen Namen?«

»Ich kenne dich nicht«, antwortete er mit sehnsüchtigem Lächeln. »Aber ich dachte an eine, die ich in dir zu sehen meinte.« Kopfschüttelnd seufzte er und konnte doch den Glauben an die große Ähnlichkeit dieser Frau mit Merla um so weniger bannen, je mehr er die Mienen der Schloßvogtin prüfte. »Komm' doch ins Hell«, bat er, und sie schritt willig mit ihm auf die von Immen übersummte Waldwiese. Mitten in dem farbenbetupften hohen Grünen standen die beiden und bestaunten einander. Er ihre dunkeln Augen und die tiefschwarzen Haare – sie das kupferfarbene Borstendach und des Hirten junges Gesicht.

»Zwei Blumen gleichen einander und sind doch verschieden, weil die eine erst seit kurzen Tagen blüht, die andere aber seit des Sommers Anfang«, urteilte Geckir schließlich. Dann ließ er sich auf den blütenreichen Boden nieder, stützte die Ellbogen auf die Knie, die Stirn in die Hände und schwieg vor sich hin.

»Sage mir doch nur, von wem du redest …«, drängte ihn Frau Doreta.

»Da ist ein Mädchen in Frankfurt, und mein Herz hing sich an sie«, sagte der Schäfer; er sah dabei die Vogtin mit blau leuchtenden Augen an, aus denen Schmerz und stille Seligkeit seines Gedenkens unter Tränen glänzten.

»Lebt sie vielleicht in Hanns Grysen Hornes Haus?« forschte Frau Doreta und hielt auf das Ja wartend den Atem an.

Geckir nickte still und senkte das Gesicht wieder in die Hände. Als spräche er seine zurückwandernden Gedanken laut dahin, begann er unter den Fingern hervor zu erzählen: wie Merla ihm den Verband auf des Hattsteiners Schwertwunde getan … wie er nach einer Nacht voller rätselhafter, süßer Träume den ersten Kuß mit ihr getauscht … wie er seitdem wohl wisse, was Glück sein könne, aber auch erfahren hätte, was Leid wäre. Und als fühle er das Befreiende solcher Aussprache, berichtete er von der Überraschung Merlas mit einem Manne, mit dem er sie in ihrer Kammer traf – von dem Verdacht, den er gehegt, wie vom zehrenden Gluten der Eifersucht. Er schilderte, stets mehr zu sich selbst als zu der Frau sprechend, das Wiedersehen am vorgestrigen Morgen … sprach von dem Haarkringelchen, an dem er ihre treue Liebe erkannt zu haben meinte … gestand, wie er vor des Mädchens Tür geeilt war und um Vergebnis bitten wollte. Das harte, ungerechte Wort Merlas, den die Verdächtigung strafenden Faustschlag des Geschützmeisters, den wehen Abschied von Frankfurt, die Wanderung in eine endlose Weite … alles, alles murmelte er mehr dahin, als daß er's erzählte. Dann aber war er verstummt, schränkte die Arme um die Knie und verbarg der Fremden seine stillen Tränen. Das leicht und leer gesprochene Herz zwang ihm das heimliche Weinen ab.

»Seltsame Fügung«, flüsterte Frau Doreta endlich, nachdem sie ihn mit keinem Laut unterbrochen hatte. »Neunzehn Jahre mußte ich mich sehnen, von ihr zu hören. Und nun weiß ich in kurzen Tagen alles, das ich wissen wollte. Sie lebt – und sie war glücklich – und sie ist groß und gut und schön …!« Und als kämen ihr über des Hirten Leid nun auch die Zähren, begann es glitzernd über ihre braunen Wangen zu perlen. »Merla nannte er sie – und sie ist meine Merla … guter Hanns, guter Hanns.«

»Von wem redest denn nun du?« fragte Geckir und hob erstaunt den Kopf. Er sah das selige Lächeln der Frau, das sich wie in einem großen Glück um ihren tränenbetauten Mund gelegt hatte.

»Ich muß verschweigen, was ich so lange verschwieg«, beteuerte Frau Doreta leise. »Nur einer weiß davon, und der öffnet nimmer gegen jemand den Mund, wenn ich's nicht will.«

Da schrillte plötzlich ein Häher in den Tag, kam aus dem Tann hervor und gellte in kreischendem Warnen über die Waldwiese dahin. Wie ein flatternder Schatten huschte der Vogel durch den Sonnenglast, dann verlor sich sein schrilles, ängstigendes Schreien in den jenseits der Wiese bergab stehenden Eichen.

Die Schloßvogtin hatte einen Augenblick gelauscht. Nun strich sie rasch über des Geckir kupfern flimmerndes Haardach, raffte die von Tannenzapfen schwere Tasche hoch und enteilte in den schwarz schweigenden Forst. Ein wenig weiter traf sie auf der gegen den Hattstein neigenden Flanke des Sängelbergs den Meister Henerig. Er wählte gerad' eine schlanke Tanne aus und sprach mit seinen Begleitern über die Brauchbarkeit des Baumes zu einem glatten Balken für die Ausbesserung des einen Wehrgangs.

»Weis' uns, ob du's noch kannst!« sagte er zu Gürg Putzmirslicht, der mit einer blanken Axt auf der Schulter unter den Knechten stand.

Der Söldner spuckte in die Hände und faßte den Stiel, an den Stamm herantretend. Er sah messend an der Tanne hinauf und holte aus. Im nächsten Augenblick sauste die Axtklinge tief ins Holz, und Gürg brach sie wieder los. Abermals zischte das Eisen in die Wunde, daß der Baum stöhnte, der Wald hallte und die Splitter flogen. Nun klaffte das schneeweiße Herz der Tanne schon aus der Rinde.

»Aus dem Weg!« rief der Schloßvogt. »Noch drei solcher Schläge, und der Baum stürzt.« Er, wie die Knechte, suchte Schutz hinter den Stämmen.

Aber nur zweimal noch kam ein Hachzen aus Gürgs breiter Brust, zweimal nur noch schmetterte die klingende Schneide der Axt tief in die Klaffe. Da neigte sich langsam der tödlich getroffene Baum, klammerte sich mit dem Wipfel sterbend sinkend an die Brudertannen, rauschte darnieder und brach knirschend an der geschlagenen Narbe. Dann schlug er dumpf zu Boden und lag still. Nur die noch hochragenden Äste bebten wie im Krampf und starrten dann steif wie im Entsetzen über des Menschen Erbarmenlosigkeit.

Der scheppe Gürg trat zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Knechte wagten sich hervor und begannen dem toten Baum die Glieder abzuschlagen. Henerig hatte nur einen kurzen Blick auf die zuschauende Vogtin geworfen und war nachdem an den gefällten Nadelrecken getreten, Weisung gebend. So fand Frau Doreta Gelegenheit, mit dem Stückknecht zu reden.

»Kennst du in Frankfurt einen, der aussieht, als hätte er eine kupferne Haube auf?« frug sie leise, unbeweglich den Blick auf ihren Mann heftend, um rechtzeitig den Mund schließen zu können.

»Das könnte nur der rote Geckir sein«, gab Gürg geflüsterte Auskunft; er tat harmlos, als prüfe er mit dem Daumen die Schneide der Axt.

»Dann traf ich den Menschen soeben, der Merla lieb hat und mir von ihr erzählte«, konnte die Vogtin noch rasch andeuten; sie mußte sich abwenden und schlug den Weg zum Hattstein ein, weil Henerig nun herankam.

»Das war ein wackeres Fällen, wie es seit Jahren keiner aus der Burg mehr zeigen konnte«, lobte er den scheppen Gürg.

Aber der Stückknecht gab keine Antwort. Er lugte der davongehenden Frau nach und überlegte, ob er auch recht vernommen, daß der Schäfer im Taunus sei. Auf was sollte das deuten? … Zufall? … Gefahr? … Wenn nun dieser Mensch ihm und dem Hasselbach begegnete, ungewarnt war und unwissentlich die beiden Späher verriet …? Gürg kratzte sich hinterm Ohr. Dann folgte er dem Gebot des Schloßvogts und half mit, die Zweige abschlagen, den Baum schälen und auf der Männer Schultern heben.

So trugen sie den entseelten, entkleideten und verstümmelten Waldriesen heim. –

Als Geckir das Sprechen und Holzfällen in der plötzlich gestörten Einsamkeit des Tanns vernommen hatte, war er über die Wiese davongehuscht und zwang sich in einer neuen Richtung einen Weg durchs Unterholz. Er gelangte auf freies Feld. Da stand das noch grünliche Korn in hohen Halmen und wisperte nach einer Bachwiese hin, deren Mitte ein von Erlen gesäumtes, langsam treibendes Gewässer durchschnitt. Und weil der Schäfer die Menschen meiden wollte, schlug er einen sichtbar bachaufwärts streifenden Wiesenpfad ein. Mählich begann sich der ansteigende Wald über dem Gewässer zu schließen, mit ineinander greifenden Laubkronen höher hinauf siedelnd, je eiliger und lauter, über blankes Gestein klitschernd und eifrig hell schwatzend der Bach von oben herabkam. Dann war endlich unter den Stämmen eine Stelle, von Dotterblumen übersät, schier von deren Blüten übergoldet. Daraus quoll das Wasser in allerlei Rinnsalen und vereinigte sich schließlich in seinem von Farnkraut umwucherten Bette, schäumte um moosbegrünte Steine und drängte sich an den bloßliegenden Wurzeln einer starken Tanne vorbei ins lichtere Bergab. Die Sickerquelle hinter sich lassend, hielt Geckir den Schritt den Berg hinan ein und tauchte durch den tiefen, dichter und dichter verwachsenden Wald, bis er die Spur eines Weges entdeckte. Der folgte er – – und traf plötzlich auf Herrn Hatzichos Fähnlein, das unter hohen Buchen den über den Feldberg gekletterten Rossen Rast und Äsen gönnte.

Nur ein Reiter war im Sattel geblieben, der Hattsteiner selbst. Er sah den geraden Streifen entlang, der pfadmäßig den alten Buchenwald von einem verworrenen Schlage junger Eichen trennte. Ab und zu tätschelte der Ritter den schlank geneigten Hals seines Gauls. Das Tier schnoberte mit tiefer Nase in den Halmen und rupfte da und dort ein ihm schmackhaft erscheinendes Kräutlein aus.

Geckir blieb stehen und blickte neugierig auf das Bild, das der Hauf ihm in der Waldhalbnacht bot. Die Harnische waren übergossen von grünlichem Schein, den die durch das dichte Blätterwerk und Gewipfel verhüllt niederrinnende Sonne hervorzauberte. Durch eine Lücke konnte ein feuriger Strahl gleiten und hatte sich just über Herrn Hatzicho gebreitet. So war der Ritter wie in einen goldenen Panzer gehüllt. Als er den fremden Menschen stehen sah, kam er im langsamen Schreiten seines Rosses auf Geckir zu. Der Schäfer wollte ins Holz zurückschlüpfen, der eisengerüstete Mann rief ihm jedoch streng zu, um des Lebens willen stehenzubleiben. Geckir nahm den Schäferstecken fest in die Faust: sollte es – wie damals bei der Ginnheimer Höhe – gelten, daß man mit dem Schwert nach ihm schlüge, so würde diesmal der Schlag nicht ungeahndet bleiben. Doch er faßte Vertrauen zu dem freundlichen Gesicht mit den stolzen ernsten Augen, das nur durch die überschattende Eisenkappe ein wenig verfinstert wurde. Nach Übelm, wie damals der Mann bei Ginnheim, sah dieser Reiter nicht aus, als er jetzt die eine Hand aufs erzene Knie stützte und sich im Sattel vorwärts neigte.

»Was treibst du denn da im Walde?« redete ihn der Ritter an.

»Wandern!« gab der Schäfer kurz Auskunft; lächelnd blickte er zu dem Frager hinauf.

Herr Hatzicho erwiderte dies Lächeln. »Und woher kommst du des Wegs? … und wohin wanderst du?«

Geckir machte eine rundweisende Bewegung. »Ich weiß nicht, Herr!« Er sagte es leise und traurig.

»Gilt das für beide Fragen?« wendete der Hattsteiner ein, nachdem er verwundert den Schimmer der Trübnis über des jungen Menschen Gesicht huschen gesehen. »Du wirst doch sagen können, von wannen du kommst – auch wenn du dir kein Wegziel ausersehen?«

»Von Frankfurt«, gab der Hirt kund.

Herr Hatzicho setzte sich kerzengerade, als hätte ihn der verhaßte Name aufgeschreckt. »Von Frankfurt – so!« warf er hin, und der Ernst in seinen Augen vertiefte sich. »Tat man dir in Frankfurt so großes Unrecht an, daß du so betrübt in der Irre wanderst?«

Geckir zögerte mit der Auskunft; er senkte zuerst langsam die Stirn, schlug dann aber vertrauensvoll den blauen Blick zu Herrn Hatzicho auf: war's nicht, als säße die menschgewordene Hilfe da vor ihm auf dem Rosse? … war's nicht, als zwänge sie ihn in ihren Bann? … war's nicht, als widerstrebe der Mund vor dem klaren Leuchten in dieses Reiters Augen einer Lüge? – »Mich trieb das schwer gewordene Herze davon!« antwortete der Schäfer. Er beobachtete, wie ein mitleidsvolles Mienenspiel des Herrn Züge durcheilte.

Unter dem sanften Schenkeldruck des Hattsteiners kam der Gaul einen oder zwei Schritte näher.

»Das freilich ist das schlimmste Wandergut«, meinte Herr Hatzicho. »Magst du mir davon erzählen? Vielleicht verhilft dir der Wolf von Hattstein zu deinem Recht.«

Geckir stutzte. »Hatzicho der Wolf?« Dann hallte sein lautes Lachen unter den Stämmen dahin. »Der? … der kann doch nichts Besseres, als nach Hund und Hirt zugleich mit dem Schwerte schlagen!«

Des Hattsteiners Antlitz war auf einmal schwer verdüstert. Auch diese Grausamkeit Philipps schreibt das Volk auf meine Rechnung! dachte er. Unter dem zornig festen Griff in den Zaum wurde der Gaul unruhig.

»Kennst du den Hattsteiner?« Die Frage klang stählern hart zu Geckir nieder.

»Das will ich meinen!« grollte der Schäfer auf und fuhr mit der Hand über sein kupfernes Borstendach. »Hier saß ein Hieb, der mir das Feuer aus den Augen und das Blut aus der Haut spritzen ließ. – So dicht stand ich dem Schandkerl gegenüber – und so griff ich seinem Klepper ins Gebiß.« Mit einem Ruck hatte er Herrn Hatzichos Tier beim Kopfzeug.

Der Ritter erstaunte über des Hirten große Kraft, denn der durch das plötzliche Zupacken scheuende Gaul vermochte nicht, unter der Gewalt dieser Faust die Vorderhufe vom Boden zu heben.

»Laß mein Tier!« gebot der Hattsteiner, während das Roß mit schüttelndem Kopf und erschrockenen Augen schnaubte. Als es sich wieder frei fühlte, trat es in augenscheinlicher Furcht vor diesem Menschen um ein paar Schritte zurück. Herr Hatzicho fragte weiter. »Du sahest also den Hattsteiner von Angesicht zu Angesicht? … und du fühlst nun Groll gegen ihn?«

»Nach dem Schlage, und als er mir meinen Hund getötet wie die Schafe davontreiben ließ, Schlimmeres als Groll. Nachher aber nicht mehr, Herr!« entgegnete Geckir, und in seinen Augen glomm die wehmutvolle Erinnerung auf. »Denn, seht, der Schwerthieb verhalf mir zu meinem Mägdlein. Jetzt aber muß ich den Hattsteiner hassen, weil mich sein ungut Zuschlagen nach dem Glück den Verzicht kennen lehrte.«

»Ich versteh' dich nicht«, sagte Herr Hatzicho.

Freimütig begann der harmlose Mensch wieder zu erzählen, was er schon Frau Doreta berichtet hatte. Als er jedoch den Namen Flinks nannte, der sich zärtlichen Abschied hätte holen wollen vor einer verwegenen Fahrt in den Taunus – denn was anders hätte er in des Mädchens Kammer am letzten Abend seiner Anwesenheit in Frankfurt zu suchen gehabt? setzte Geckir spottend hinzu, als er den Hauptmann den Dieb seines Glückes nannte, der im Grunde genommen doch die meiste Schuld an Merlas Ungerechtigkeit trüge – unterbrach ihn Herr Hatzicho mit geröteter Stirn.

»Wie sieht dieser Herr von Hasselbach aus?« forschte er dringend und vernahm mit halb geschlossenen Lidern die Beschreibung Flinks, den der Hirte verächtlich ein geleckt Bürschlein nannte. Auf die Frage nach den Gründen für die Taunusfahrt des Frankfurter Hauptmanns blieb Geckir freilich die Antwort schuldig. Dem Ritter aber genügte es, diesen Mann nun sicher auf dem Hattstein zu wissen. Ein triumphierendes Lachen machte den Schäfer staunen. »Und was sagtest du wohl, wenn es nun doch der Hattsteiner wäre, der dir zu deinem Mägdlein verhilft?« frug Herr Hatzicho in plötzlich frohester Laune.

»Wie könnte das der üble Mensch, den ich – träf' ich ihn irgendwo allein – mit diesem Stecken da niederschlüge!« ergrimmte Geckir und ließ den Schäferstab um die Faust wirbeln.

»So komm mit, auf daß du das gleich versuchen kannst«, forderte der Ritter auf. »Ich zeige dir den Hattsteiner bei Leib und Leben.«

»Erging' mir wohl schlecht bei den Reitern dort«, wendete Geckir erschrocken ein. »Nur wenn ich ihn ohne Begleitung treff', habe ich gesagt.« Er spähte heimlich rechts und links, daran denkend, wie er ins verworrene Jungeichengewirr entschlüpfen könnte, wohin ihm kein Roß zu folgen vermöchte.

»Du willst doch dem widerschlagen, der dich schlug«, sagte Herr Hatzicho, auf einen Fluchtversuch des Hirten gefaßt; er war entschlossen, ihn um der gerechten Aufklärung willen dann sofort zu greifen. »Ich verbürge dir Sicherheit, wenn du's fertig bringst, an jenem Hattsteiner, der dich schlug, im Augenblick deinen Zorn zu sänftigen. Keiner – selbst dieser Hattsteiner nicht – wird dich schädigen dürfen. Vertraust du mir nicht?«

Nach einem Blick in die ehrlichen Augen des Reiters nickte Geckir. »Ich weiß nicht, wer du bist, Herr – aber ich mag dir trauen als wärest du der Kaiser selbst!« beteuerte er und hing mit fast kindlicher Zutraulichkeit an dem stolzen Antlitz.

Da wendete Herr Hatzicho zufrieden den Gaul und ließ den Schäfer nebenher schreiten. Die Mannen guckten verwundert, als ihr Herr sie anredete.

»Da ist einer, der den Hattsteiner von Angesicht zu Angesicht gesehen haben will und einen Schwertstreich davontrug«, rief der Ritter lachend. »Füglich ist der Jungmensch in seinem Recht, wenn er den Schlag vergelten will. Zeigt ihm den Hattsteiner, auf daß er an ihm nun sein Recht gewinne.«

»Herr, das ist doch der Schäfer, der damals bei Ginnheim Herrn Philipp ins Zaumzeug griff«, sagte einer der sich vordrängenden Knechte leise.

»War's der?« scherzte der Ritter zu Geckir hinab und deutete auf den Mann.

»Das ist doch im Leben kein Herr«, stellte Geckir unter dem Gelächter der Gewappneten fest. Er sah sich musternd im Kreise um. »Da ist überhaupt nur ein einziger Herr und der seid Ihr?« meinte er mit fragendem Blick auf den Ritter.

»Dann schlage kräftig wider, denn dieser Herr da ist der Hattsteiner«, rief vorwitzig ein anderer der Mannen.

»Sicherheit ist dir von mir selbst verbürgt. Tu's nur, wenn du mich als deinen Feind erkennst – auch da du mich nicht allein findest«, ermahnte der Hattsteiner. Er sah verwundert, daß Geckir wirklich den zerbrechlichen Stecken fest mit beiden Fäusten faßte. Da schwang er sich rasch aus dem Sattel und stand erzgerüstet dem jungen Mutigen gegenüber. Und Mut gefiel Herrn Hatzicho stets.

Doch Geckir ließ den Stab sinken, nahm ihn in den linken Ellenbogen und stützte sich, die Arme kreuzend und die Augen fest auf den Ritter gerichtet. »Ihr äfft mich, Herr, denn Ihr seid nicht der, der mich traf und wundete.«

»Und dennoch bin ich es, den man den Hattsteiner nennt.«

Geckir neigte stumm das Haupt, dann sagte er leise: »Beteuert Ihr's, so muß ich es wohl glauben. Aber nimmer hätt' ich gedacht, daß der Hattsteiner so aussähe. Und wer war dann der andere?« Er hob den Blick in erstaunter Frage, doch Herr Hatzicho wich diesem Blick aus und beantwortete die Frage nicht.

»Einer erfuhr schon, wie und wer der andere ist, nachdem er erfahren, wer und wie ich bin«, deutete er mit verfinsterten Augen an und dachte an Henchen Hanauwe. »Führt dich der Weg nach Frankfurt heim, so sage, daß du den Hattsteiner gesehen; künde, daß er nicht dem Wolfe gleicht, vor dem sich Stadt und Bürger fürchten und den sie hassen. – Versprach ich nicht, dir zu deinem Mägdlein zu verhelfen? Es soll mein Wort gewesen sein – und müßte ich sie dir in den Hattstein holen! Auf, Leute! Ich war mir über den Weg nicht einig … nicht gen Homburg führt er, wir wollen ihn gen Frankfurt reiten. Die Stadt will Fehde mit dem Hattstein? Wir wollen ihr Gründe dazu geben. Drei Dinge sind zu tun – vor Sonnenaufgang morgen müssen sie vollendet sein.«

»Herr, sag' uns, was geschehen soll!« riefen die Reiter mutig durcheinander und klirrten mit den Waffen.

»Geduld und eines nach dem andern«, vertröstete Herr Hatzicho, dann wendete er sich zu Geckir. »Suche dir den Weg zum Hattstein, verrate keinem, was du hier erlebt, bleibe stumm, auch wenn du den Flink von Hasselbach im Hattstein triffst, und sprich zu keiner Seele, wer dieser Mann ist.« Als Geckir auffahren wollte, legte er ihm schwer die gepanzerte Hand auf die Schulter. »Versprich mir, daß du ob Gült und Rechnung erst dann mit ihm hadern wirst, wenn du deine Merla wiedergesehen.«

Und unter dem seltsam gütigen Zwange, der von Herrn Hatzicho ausging, gelobte Geckir getreuliches Worthalten.

Nachdem sich der Hattsteiner versichert halten durfte, daß vor seinem Wollen niemand etwas über Flinks Persönlichkeit erfahren würde, suchte er dem Hirten den Weg nach der Burg klarzumachen. Dann schwangen sich die Männer auf die Rosse und trabten davon.

*

Der Abend war über den Hattstein gekommen, aber er hatte Herrn Hatzicho nicht heimgebracht. Dies war jedoch für niemand eine Beunruhigung … sicherlich hielt Außerordentliches den Ritter fern, wie schon so oft. Und so wurde die Zugbrücke hochgenommen, als der Mond durchsichtig gewirkte Schleier in die Baumkronen hing. In der Burg war es nächtig und still geworden.

Der auf Umwegen und Irrfahrten verspätete Schäfer fand die Feste verschlossen, nachdem er endlich auf dem Reifenberg den Weg zum Hattstein erfragt hatte. Von einem der Türmchen des Hartenfelshauses schrie ihm jemand etwas zu – der Mannesschatten dort oben legte zielend den Schaft der Armbrust an die Wange. Da tauchte der Schäfer erschrocken ins Gebüsch zurück und suchte sich durch den mondhellen Wald den Weg zu Henchens Grab. An den silbern schimmernden Stamm einer Birke gelehnt, vertraute er dem stillen Schläfer in der Erde seine Hoffnungen. Und der Bach drüben murmelte so laut, als gäbe der Begrabene Antwort auf all das Lob des Hattsteiners und als suche er den Hirten in seinem Vertrauen auf des Hatzicho Wort zu bestärken. Dann wurde der Geckir müde und kroch unter einen Busch, um die Kühle dieser Nacht zu verschlafen.

Über den Schmittgrundwiesen wallten weißliche Nebelschleier. Im Mondlicht sahen die Reifenberger Zinnen wie von lauterem Silber aus. Der Heckenhainweiher lag wie ein angehauchter Spiegel matt schillernd in der sanften Nachthelle. Fern schien eine feine Glocke zu klingen – war's des Stadtboten in Frieden ruhendes Herz? … Eine Unke sang schwermütig und eintönig und rief den schweigenden Sternen leise zu. –

Derweil saß Flink mit dem Schloßvogt Henerig und Frau Doreta zu Tische. Als er einmal nach Gürg frug und seiner Verwunderung über dessen ständige Abwesenheit Ausdruck gab, deutete Henerig kurz: der Mann wäre in einem der Hofgebäude untergebracht.

Frau Doretas dunkle Augen glänzten heimlich auf.

»So bin ich erstaunt, daß man mit mir anders verfährt«, bemerkte Flink. »Was gibt die Veranlassung zu solchem Unterschied?«

»Ich pflege ungefragt zu tun, was Herr Hatzicho bestimmt«, antwortete der Vogt. »Vermutlich aber wird der Unterschied darin bestehen, daß man den Gürg als einen ehemaligen Knecht des Hattsteins so gut wie fest wieder unter die Besatzung aufnahm. Du aber bist ein Fremder. Was deines Loses sein soll, entschied der Herr noch nicht.«

»Es wäre mir lieb, geschähe dies morgen«, erklärte Flink mit finsterm Gesicht. »Ich habe nicht Lust, als ein Unnütz hier zu weilen. Dann setze ich lieber den Fuß allein weiter und suche mir anderswo Dienst.«

»Halte das wie du denkst«, versetzte Henerig und erhob sich zum Schlafengehen. Das Lächeln auf seinem mürrischen Gesicht war zweideutig. »Nur meine ich: niemand rief dich nach dem Hattstein, und du betratest ihn ohne unsre Not … anders ist es beim Gehenwollen – dazu bedarfst du Herrn Hatzichos Einverständnis. So ist einmal des Brauches bei uns.«

»Ich bin ein freier Mann und nicht von Eures Herrn Gunst abhängig«, begann Flink sich zu erregen. »Was schiert mich des Hattsteiners Willen, solange ich ihm den meinen nicht untertan machte! Ich verlange von Euch, dem Vogt der Burg, daß Ihr mich diesen Augenblick noch entlaßt. Es ist mondhell, und so vermag ich den Weg bis Cronberg leicht zu finden. Also gebt Befehl, daß man die Brücke niederlasse.«

Doch die Absicht, den Schloßvogt auf diese Weise zu einer aufklärenden Äußerung hinzureißen, mißlang. Henerig entgegnete kühl, daß das bis morgen und bis nach Herrn Hatzichos Heimkunft Zeit hätte, wie man denn um eines Knechtes Laune nicht mit dem schweren Bollwerk hantiere.

»Forderst du hier wie ein Herr, so merke dir: wir sind des Herrentons nicht anders als von den Eignern des Hattsteins gewöhnt«, schloß er und verließ danach die Stube.

Innerlich knirschend blieb Flink mit Frau Doreta allein. Er brauchte keine Zweifel mehr zu hegen, daß man ihn als einen Gefangenen hielt. – Was ihn jedoch noch mehr zu peinigen begann, war die vorläufige Aussichtslosigkeit, die übernommenen Selbstverpflichtungen ausführen zu können. Was sollte werden, wenn ihn der Hattsteiner – mochte er nun Gründe haben gleichviel welcher Art – überhaupt nicht mehr losließ? So unrecht hatte der Ritter in seinem scharfen Urteil über das Gesamt des Rates durchaus nicht … undankbar waren die Herren zum weitaus größten Teil. Falls er nichts erreichte, würden sie wenig danach fragen, ob der Hauptmann Hasselbach Sicherheit und Leben für die Stadt gewagt, denn es war nicht auf ihr Geheiß, sondern aus freien Stücken her geschehen. Hielt ihn der Hattsteiner fest, so mochten sie die Burg um deswillen wohl vielleicht befehden – aber, ob ihm das sein Leben rettete? – Wie ein Vogel mit gefesselten Schwingen kam er sich vor – wie ein irrend in die Falle getapptes Tier. Er ballte die Fäuste und sah wild vor sich nieder, weniger in Furcht für sein Dasein als in der Sorge um den Flecken, der auf seiner Ehre haften bleiben würde, wenn er übertölpelt war …

Da fühlte er den Blick der ihm gegenüber sitzenden Frau Doreta und erhob die Stirn. Die Vogtin hatte sich zu ihm hinübergeneigt und starrte ihn mit den unergründlichen Augen an … woher nur kannte er dies dunkle Gesicht doch? dachte er.

»Kennst du Hanns Grysen Hornes Pflegetochter Merla?« flüsterte sie, legte warnend den Finger an die Lippen und warf einen scheuen Blick nach der Tür.

Stumm den Kopf neigend, bejahte Flink.

Da griff die Vogtin nach seiner Hand, die sie mit ihren hartgearbeiteten Fingern preßte. »Schnell – sage mir leis: Ist es wahr, daß Merla schön und glücklich und gesund ist?«

»Was kümmert dich das Mädchen?« frug Flink zurück.

»Ein andermal – ein andermal«, hauchte die Frau. »So gib doch Auskunft.«

»Sie ist sehr schön und sehr glücklich und Hanns Grysens Kleinod«, murmelte er verwundert und fühlte den dankbaren Händedruck der Vogtin.

»Du möchtest mit Gürg reden?« sagte sie kaum vernehmbar, immer die Augen auf den Eingang gerichtet. Auf Flinks eifriges Bejahen fuhr sie fort: »Ich verhelfe dir dazu, denn ich weiß, daß ihr in eine Falle geraten seid. Herr Hatzicho besprach es heute früh mit meinem Mann.« Ihre Augen flehten ihn an, als er eine heftige Bewegung der Überraschung machte in dieser plötzlichen Aufklärung seiner verzweifelten Lage. »Still – nur still, sonst bin ich verloren. Merke dir: ich gehe jetzt mit dem Eimer nach dem Wassertrog. Statt meiner wird Gürg zurückkommen und zu dir unters Dach steigen. Dort beredet euch, aber trennt euch nicht, bevor der Tag zu grauen beginnt. Um diese Zeit erhebe ich mich gewöhnlich, und wenn mein Mann den Gürg gehen hören sollte, wird er denken, daß ich das Haus zum Holzholen verlasse. Jetzt aber wartest du, bis du Schritte auf der Treppe vernimmst – es wird der Gürg sein. Dann begebt euch zu gleicher Zeit unters Dach, weil die Bodenleiter nicht zweimal knarren darf. Nur versprich, daß du mir morgen alles erzählen willst, das du von Merla weißt – mit dem Gürg traue ich mich nicht lange zu reden.«

Mit ernsten Augen hob Flink wortlos die Schwurfinger. Frau Doreta dankte stumm und ging mit absichtlich vernehmlichen Schritten auf den Flur. Er hörte, wie sie in der Küche laut mit den Töpfen klapperte, dann tappte sie – als wäre sie im Dunkeln unsicher – schwer die Steintreppe hinab. Neue Zuversicht überkam ihn, wie er nun allein in der Stube saß, auf alle Geräusche im Hartenfelshaus lauschend. Vielleicht, so dachte er, konnte ihm diese stille Frau Doreta zur Helferin werden; es schien, daß sie klug und verschlagen war, auch wagemutig. Was mochte sie mit Merla zu schaffen haben? Er kam nicht zum Nachsinnen, denn schon hörte er der Vogtin Holzschuhe wieder auf der Treppe … war's mißlungen? Dennoch trat er ihren Weisungen gemäß rasch auf den Flur, den durch die offenbleibende Tür der Kienspan in der Stube schwach erhellte. Zu seiner Enttäuschung sah er sich wirklich Frau Doreta gegenüber.

»Schnell hinab – Gürg wartet unten«, zischelte sie.

»Was wanderst du zu nachtschlafender Zeit noch in Haus und Hof herum?« rief Henerig ärgerlich hinter seiner Kammertür.

»Ich mußte Wasser holen«, gab sie laut zurück.

»So scher dich endlich in die Stube auf dein Lager!« knurrte der Schloßvogt. »Den Frankfurter hörte ich auch noch nicht nach dem Dach steigen.«

Frau Doreta deutete hastig auf sich, dann auf die Bodenstiege, wobei sie den Holzeimer hart zu Boden stellte und hörbar die Stubentür zuzog.

Flink begriff. »Bin schon dabei«, rief er mürrischen Tones, als antworte er Henerig, dann schlich er die Hoftreppe hinab, während Frau Doreta die ächzende und kreischende Leiter ein Stück Wegs emporstieg.

Aus dem schwarzen Winkel neben dem Gesindehaus tauchte der Stückknecht hervor. »Schnell nach dem Stallgebäude, wo mir das Lager angewiesen ist«, murmelte er und zog Flink mit sich über den Hof, alle Schatten aufsuchend, die der Mondschein fast unheimlich aufzauberte.

In der schwülen Wärme des Pferdestalls saßen die beiden auf einer Futterkiste. Durch eine der kleinen Maueröffnungen drang genügendes Mondhell, daß nicht vollständige Finsternis in dem Raume war.

»Ich wollte mich just aus dem Mannenhaus in das Heu unterm Stalldach begeben, als mir Frau Doreta in den Weg kam«, begann Gürg die flüsternd geführte Unterhaltung. »Obwohl ich selbst vieles mit der Vogtin zu reden hätte, gab ich dennoch die gute Gelegenheit preis. Ich hielt es aber für klüger, wenn Ihr zu mir herunter kamt, als daß ich zu Euch hinaufschlich. Gelangt Ihr in der Nacht nicht mehr unters Dach – und ich sage voraus: wir müssen es um der Gefahr willen sogar so einrichten! –, so könnt Ihr immer noch beteuern, Ihr wäret der Hitze wegen zeitig vom Boden heruntergeklettert. – Und was soll's nun?«

»Törichte Frage!« murrte Flink. »Solltest du nicht gemerkt haben, daß man uns beide absichtlich getrennt hält? Was anders als irgendein Drohendes könnte dahinter stecken?«

»Ich sagt' es ja gleich: in den Hattstein hinein ist leicht, heraus aber wird schwer werden!« antwortete Gürg vorwurfsvoll.

»Damit ist mir nicht gedient«, wendete Flink ein. »Was ich beobachtete, könnte ich zur Genüge verwerten, wenn es auch herzlich wenig ist. Zunächst aber gilt es vor allem das schwierige Hinaus.«

»Da weiß ich keinen Rat. Ihr solltet ja der Klügere von uns beiden sein«, brummte der Stückknecht.

»Nur einem von uns könnte die Flucht gelingen«, meinte Flink nachdenklich.

»Und der wäret natürlich Ihr?« sagte Gürg mit leisem Spott.

»Bist du oder bin ich der Wichtigere?« fragte Flink hart zurück, worauf der Söldner keine Antwort wußte, da er die Richtigkeit der Frage einsah. »Du bist dem Hattsteiner bekannt, und – wie ich merke – bei gutem Andenken in der Burg. So könntest du wohl mit einer Ausrede aller Gefahr entrinnen. Sage meinetwegen, ich hätte dich betrogen, und du wärest über meine Absichten unredlich getäuscht worden – das wird man dir ohne weiteres glauben, und du magst also fortan zum Hattsteiner halten. Ich weiß von der Vogtin, daß wir in der Falle sind … ein Entschlupf muß erspäht werden.«

»Das hättet Ihr nicht leichten Herzens vorher in den Wind schlagen, sondern erwägen sollen. Mich trifft keine Schuld, denn ich wies Euch diesen Rat.«

»Mit Vorwürfen ist es nicht an der Zeit«, knirschte Flink, weil er dem Stückknecht innerlich recht geben mußte.

»So laßt mir Zeit, mich zu bedenken«, versetzte Gürg mürrisch und rieb sich die Stirn, als könne er dort einen guten Gedanken mit den Fingern hervorholen. »Rennt doch bei einem guten Augenblick einfach aus der Burg und verbergt Euch – was niemand vermuten wird – in ihrer allernächsten Nähe, bis Ihr seht, daß Ihr ohne Gefahr weiter könnt.«

»Einen Schritt hinter der Brücke trifft dich ein Pfeil! drohte mir der Hattsteiner heute morgen.«

Der Stückknecht pfiff durch die Zähne. »So schwant ihm, wer Ihr seid!« sagte er dumpf. »Das wollte mich schon so bedünken, als er mit mir sprach. Wie kam er nur darauf? Und was ist da zu tun – was ist da zu tun …«

»Verzagtes Gejammer nicht, denn das hält keinen Bolz auf und öffnet mir nicht den Hattstein!« zischte Flink mit einer Verwünschung über Gürgs Mutlosigkeit. »Ich sehe schon, ich bin auf mich allein angewiesen, und es war wohl eine Dummheit, daß ich des Geschützmeisters Rat Gehör gab, nicht allein her ging – dann lägen die Dinge sicherlich nicht so schlimm. Ich bin mir nur nicht im reinen: entweder du kannst nicht helfen oder … du willst nicht.« Auf eine Bewegung Gürgs wehrte er ab: »Es wird sich mit der Zeit finden. – Hilft also List nicht, so muß Gewalt helfen. Versagt Gewalt, so – mag vielleicht eine helfen, von der mir der häßliche Abschied zwar schwer fallen wird …«

»Und wer wäre diese eine?« fiel der Stückknecht verblüfft ein.

»Des Hattsteiners eigene Schwester …«

»Wie – die?«

»Sie scheint mir gutgesinnt – nein, sie ist mir gutgesinnt. Wenn ich mich ihr anvertraute?«

»Da beurteilt Ihr Hattsteinisch Blut schlecht«, tadelte Gürg mit leisem Lachen den Einfall. »Ihr kennt das Mädchen einen einzigen Tag. Zwar – auch die Leute im Mannenhaus wollen bemerkt haben, daß Euch Eberte mit freundlichen Augen ansieht. Wenigstens hat der Johann Weißkirchen berichtet, daß sie Euch im Hartenfels aufsuchte. Baut Ihr aber darauf Hoffnungen, so bedenkt: wenn es um Sicherheit von Erb' und Eigen, um Ansehen und Fried' des Hattsteins geht, verleugnen sich Herrn Kunrads Kinder nicht – den Philipp vielleicht ausgenommen, denn der verzog nach einem Streit auf den Falkenstein. Die andern wissen es seit frühesten Kindertagen, daß die Burg nichts anders ist als ein Fuchsnest, um das Hunde und Jäger schleichen. – Ach, es wäre wahrlich das beste, einfach auf der Feste zu bleiben!«

»Es will mich seltsam deuchen, daß du so wenig Trieb verrätst, den Hattstein wieder zu verlassen«, hob Flink an, nachdem er im schwachen Helldunkel Gürgs Gesicht zu beobachten versucht hatte. »Das eben seufztest du wie einer, der sich wider Pflicht und Gewissen besonnen. Gefällt's dir in der Burg wieder? In meiner Lage kann ich dich zur Heimkehr nach Frankfurt nicht zwingen. Aber daß du dir deiner Pflicht gegen die Stadt bewußt bleibst, solange du auf dem Hattstein bist, des will ich dich ermahnen. Ja, ich könnte sogar von dir verlangen, daß du dich nach Frankfurt aufmachtest, um von meiner Not zu berichten …«

»Man hält mich nicht minder in acht als Euch«, versicherte Gürg.

»Ich weiß«, äußerte Flink. »Aber – solange ich in der Burg bin, hast du mir verbunden zu sein. Später mag dann aus dem angeblich Entlaufenen ein wirklich Entlaufener werden – die Frankfurter werden dich zu finden wissen.«

Gürg blieb eine ganze Weile still. Die brütende Ruhe des Pferdestalls wurde manchmal durch das Geklirr einer Halfterkette unterbrochen, wenn eines der mit hängenden Köpfen dösenden Rosse sich müde regte. Einige Mal wurde die Luke über der Futterkiste rasch verdunkelt und blitzte wieder auf; dann war eine Fledermaus hereingehuscht und suchte den raschen Weg ins Freie durch eine der andern Maueröffnungen. Hier und da scholl dumpf der durch die Strohlagen gedämpfte Huftritt eines Gauls, wenn die ruhenden Tiere schwerfällig die Beinstellung wechselten. Das Brausen des Sängelbergforstes um den Hattstein drang in dem einsamen Schweigen bis hierher.

»Die Frankfurter werden dich zu finden wissen …!« wiederholte der scheppe Gürg Flinks zuletzt gesprochene Worte und lachte bitter vor sich hin. »Drob soll mir nicht bange werden. Ist's eine Drohung, so wird sie Euch nicht von mir verargt. Ihr seid in schlimmerer Lage als ich und findet daher rasch ein unmutig Wort. – Ja, ich will's gestehen: da ich den Hatzicho von Hattstein als einen Mann vor mir sah, fiel mir erst das Knäblein Wölfchen ein. Und dem hat einstmals meine ganze Liebe gehört. Auch der einstige Bauernbub aus Schmitten besitzt ein Herz – und dies Herz ist Kindern zugetan gewesen, ist's heute noch. Dessen hatte ich mich freilich nicht versehen, als ich mit Euch von Frankfurt aufbrach – der Hattsteiner hat recht. Nur eines hatte dies leer gebliebene Herz nicht vergessen – und dies war der Grund, warum ich dem Vorschlag zu Eurer Begleitung nach der Burg beistimmte. Wenn die Stille meines Herzens noch nicht ganz vollkommen war, so lag das an der Erinnerung an ein Etwas in meinem Leben. Hört mich ruhig an, Herr. Es könnte zu meiner Entschuldigung dienen, wenn ich etwa freiwillig nicht mehr von hier fort fände – zum Bleiben gezwungen bin ich jetzt so gut wie Ihr. Ich will ein Stück aus meinem Leben berichten, und es mag Euch über die Zeit bis zum Morgengrauen hinwegbringen.«

»Gut denn, erzähle … es wird uns munter erhalten«, forderte Flink ihn auf.

Und der scheppe Gürg hob an: »In dieser Burg war einmal eine Magd; sie zählte nicht mehr zu den Jüngsten, aber mir, dem jüngsten Knecht im Schloß, hat sie gefallen. Hereingeflattert in den Dienst Frau Hiltgards war sie wie ein fremder Vogel. Und fremd war sie auch in diesen Landen, kam hoch von Norden her, allwo sie ein im Kampf gefallener Soldknecht der Armut und dem Leben preisgegeben hatte. Ich war auf der Königsteiner Burg in Diensten gewesen und hatte mich nun dem alten Hattsteiner verpflichtet. Auf dem Wege hierher fand ich das Wesen zwischen Busch und Dornen, halb verhungert und in der höchsten Not. Ich brachte sie in meine Heimat. In meiner Mutter Haus gab sie ein gutes Jahr später – – einem Kindlein das Leben …«

Mit einem warnend leisen Laut legte Flink rasch die Hand auf des Stückknechts Arm: die Stalltür war geöffnet worden – jemand huschte herein – Frau Doreta.

»Schnell, schnell«, flüsterte sie. »Henerig hat mich mehrmals gerufen und verlangte einen frischen Trunk. Ich stand die ganze Zeit her auf der Leiter still – nun muß er sie knarren gehört haben, als ich herabstieg. Rasch auseinander!« Dann war sie schon wieder draußen.

Der Stückknecht packte Flink bei den Schultern und führte den unsicher Tappenden nach dem obern Ausgang des Stallgebäudes. Unterwegs fand er Zeit, ihm zuzuflüstern: »Seht, Herr – die war's, der mich mein Herz nachtrieb und zur Fahrt nach dem Hattstein verführte … mehr als Späherschaft und Fehdeplan der Stadt Frankfurt.« Dann drängte er ihn hinaus und warf sich auf einen an der Stallwand liegenden Heuhaufen, um sich schlafend zu stellen, für den Fall, daß Henerig käme.

Der Mond stand tiefer überm Sängelberg, Dächer und Zinnen des Hattsteins mit klarem Lichte übergleißend. Die den Stall überragende Burgmauer warf einen schweren, breiten Schatten. In dieser Schwärze blieb Flink vorsichtig stehen. Die Burg war einsam, von gespenstigem Hell überflossen – wie die Mauern eines Geisterschlosses erglänzten die Wände des Palas und des Hartenfels, weißlich, fast durchsichtig erscheinend, und wie wenn sie jeden Augenblick in sich verflüchtigendem Zauber der Nacht verschwinden wollten. Frau Doreta war wie eine abgeschiedene Seele dort am Steintrog mit einem Krug beschäftigt; sie wirkte wie ein in dieser Nacht wandelnder Geist, der die Tränen seines verflossenen Lebens aus der Tiefe schöpfte. Unheimlich sah die Umgebung aus. Nun glitt der gespenstische Schatten der Frau mit müden Schritten dem Hartenfelshaus zu. Und als nahe irgendwoher ein anderer Ruheloser, erklang vom Torgewölbe her das gleichmäßige Aufundabgehen der Wache. Einmal scholl aus dem nahen Walde ein häßlich aufkreischender Raubvogelschrei …

Zuerst ratlos, überlegte Flink schnell, daß es besser wäre, ins Hartenfelshaus zurückzukehren. Als er leise die Steintreppe aufwärts schlich, wurden die Stufen plötzlich vom aufflammenden Lichte eines Kienspans rötlich erhellt. Der Schloßvogt stand oben und sah dem Ankommenden finstern Blicks entgegen.

»Ich hörte die Bodenleiter krachen, und mein Weib sagte mir auf Befragen, du säßest auf der Bank im Hofe. Was hattest du da zu suchen?« herrschte er Flink an.

»Wollt Ihr einem Menschen Durst verübeln und das Verlangen nach einem frischen Atemzug, wenn er auf dem Dachboden im heiß machenden Stroh schier zu ersticken meint?« antwortete Flink gefaßt. »Nachdem ist mir die Nacht draußen nun zu kühl. Verschafft mir einen bessern Aufenthalt – dann werde ich Euch die Ruhe nicht wieder stören.«

»Wähntest du flüchten zu können, so hast du dich von der Unmöglichkeit nun wohl überzeugt«, spottete Henerig.

»Haltet Ihr mich für einen Narren, Vogt?« erwiderte Flink voller Hohn. »Flügel besitze ich nicht, sonst wäre ich draußen. Sprecht Ihr aber vom Flüchten, so gesteht Ihr unwissentlich, daß Ihr mich gefangen haltet. Darüber will ich morgen von Euerm Herrn Rechenschaft gehren.«

Der Schloßvogt mochte sich in einen längeren Wortwechsel nicht einlassen. Er stieß die Stubentür auf und leuchtete in den Raum. »Da magst du Frau Doretas Lager einnehmen, wenn dir's unterm Dach nicht vornehm genug deucht!« sagte er ihm und wies die Frau nach der Kammer, die er selbst benutzte. Dann ließ er Flink allein.

Die Hälfte der ihm schier endlos erscheinenden Nacht lag Flink sorgenvoll grübelnd wach. Erst als der Morgen sein graues Licht über das Blumenbrettchen her durchs Fenster drängte, sanken dem Mann die übermüden Lider zu und er fiel in einen tiefen erschöpften Schlaf. Daraus weckte ihn das Geklirr und Geklapper der Töpfe in der Vogtin Küche, auch Henerigs schmälende Stimme, der, nach der gestörten Nachtruhe mißlaunig, mit der stumm duldenden Frau über alles mögliche zankte. Endlich tappte der schwere Schritt des Schloßvogts die Steintreppe hinab und es ward still im Hartenfelshaus. Flink erhob sich und trat an das Fensterchen. Die Blumen in ihren Töpfen hatten die Blüten schon geöffnet. Nur der Rosenstock hing taufeucht und verschlafen die Blätter, leer und blütenlos … davon hatte Eberte gestern die einzige Rose verschenkt. Am verstärkten Luftzug merkte er, daß hinter ihm die Tür geöffnet wurde: Frau Doreta brachte ihm die Morgensuppe.

»Euer Mann ist hart gegen Euch«, redete er sie an, nach einem freundlichen Wort suchend.

»Ich bin daran gewöhnt – seit sechzehn Jahren«, bejahte sie mit einem leidvollen Lächeln. Sie rührte in der Brühe, um den Morgenimbiß abzukühlen.

»Und was ist der Grund dazu?« horchte er, zunächst nur um etwas zu sagen.

»Da müßt Ihr den Gürg fragen«, erwiderte sie kurz. »Nehmt die Suppe – sie ist nicht mehr zu heiß«, erinnerte sie und schob ihm die Schüssel zu. »Ja, den Gürg fragt«, sprach sie traurig weiter, während er sich dem Gericht zuwandte. »Als er vor sechzehn Jahren vom Hattstein um meinetwillen schied, fühlte ich's erst, wie lieb er mir gewesen war. Um meiner Ruhe willen war er gegangen, denn mich und ihn zwang die Not anders zu tun als das Herz gewollt hatte. Und über den Tränen, die mir mit dem Heimweh nach ihm kamen, kam dem Vogt der Groll gegen mich. Seitdem ist mir der Hartenfels ein harter Fels geworden … er lastet nicht nur auf meinem Glück – er lastet auch auf meinem Mutterherzen.«

»Frugt Ihr mich gestern abend nicht nach Merla?« Er wurde plötzlich gewahr, was ihn bei dieser Frau so sehr an ein Bekanntes erinnert hatte.

»Das frug ich Euch, um nach meinem Kinde zu fragen.« Sie nickte mit schmerzlichem Lächeln vor sich hin.

Flink sah sie erstaunt an. »Ihr also …?« rief er aus, und seltsame Gedanken führten ihn nach Hanns Grysen Hornes Haus. »Um Euch also ging der Gürg mit mir hierher? … denn er sagte mir heut nacht –«

»Er vergaß mich nicht, wie ich nicht ihn«, seufzte Frau Doreta. Ein lichtes Fünkchen einstigen Glückes tauchte in ihren dunkeln Augen auf und verglimmte ebenso rasch wieder. »Doch er hätte sich dies Kommen sparen sollen. Es ist zu spät – zu spät – viel, viel zu spät.«

»Und wie kam Euer Kindlein – mein Himmel, was würde der gute Hanns sagen, wenn ich ihm berichten könnte! – wie kam Euer Mägdlein in des Geschützmeisters Haus? Wißt, er denkt sich die Mutter Merlas in einer andern als Euch. Wie also kam sie nach Frankfurt?«

»Ich war als junges Ding einem Söldner gefolgt, der Frau Margareten in Holland diente und im Kampf gegen seiner Herrin Widersacher fiel. Verlassen, suchte ich den Weg nach Frankfurt, allwo ich einen wußte, bei dem ich meinem Leben einen letzten Halt verleihen wollte. Von einem Gebirg' hatte ich vernommen, in dessen Nähe die mir fremde Stadt läge. Rhein und Main aufwärts zog ich, bis ich die blauen Berge sah …«

Der harte Schritt Henerigs unterbrach sie, der auf der Steintreppe nahte. Frau Doreta legte Stillschweigen heischend den Finger an die Lippen und huschte hinaus. Draußen scholl die zankende Stimme des Schloßvogtes. Gleich darauf betrat er die Stube. Sein gerötetes Gesicht sah erregt und verärgert aus.

»Du bist in den Burghof befohlen!« knurrte er Flink an.

»Und wer befiehlt?« fragte Flink in spottendem Grimm gegen des Mannes unwirschen Ton; gleichmütig aß er seine Suppe weiter.

»Ist es Frankfurter Sitte, daß der Knecht erst lange fragt, wenn ihm geboten wird?« fuhr Henerig ganz offenbar durch irgendein Vorkommnis aufs äußerste gereizt los. »Ich befehle dir – und ich befehle dir in unsers Fräuleins Namen. Marsch, hinab!«

So schnell hatte der Hasselbach wohl noch nie einen Löffel aus der Hand gelegt. »Ich komme sofort!« sagte er hastig, wischte sich rasch den Mund und strich die blonden Strähnen hinter die Ohren. Dann war er schon aus der Stube.

Drunten hielt Eberte hoch zu Roß, einen ledigen Gaul neben ihrem Schimmel. Mit gütigem Gruß neigte sie das schöne Haupt gegen Flink, ein unsagbar liebes Lächeln brach aus ihren Augen. Herr Dietrich stand dabei, die Hände hinter dem bauchumspannenden Gürtel, und sah vergnügt drein … trotz der ihm ungewohnt frühen Morgenstunde.

»Den schönsten guten Morgen, mein Edelknabe!« dankte er lustig auf Flinks höfliche Verneigung und lachte über sein ganzes gutmütiges Gesicht. »Meine Schwester hat dich zu ihrem Dienst erkoren, und nun wollen wir wissen, ob dir der Sattel nichts Fremdes ist?«

»Ich kann reiten, Herr!« beteuerte Flink eifrig, dem hundert Gedanken auf einmal durch den Kopf wirbelten. Die Freiheit – die Freiheit! jauchzte es in seinem Innern. Und schon stand er im Bügel und schwang sich in den Sattel.

»Nun, das sah nicht aus, als ob ein Schneider auf den Geißbock klettert«, lobte Herr Dietrich. Und zu dem Einspruch erhebenden Vogt gewendet, meinte er: »Will die Hattsteinerin Besseres in dem Manne sehen und ihn prüfen, bevor sie um Herrn Hatzichos Gestrengen Gunst und Gnade bittet, was tust du so verzweifelt?«

»Herr, ich kann's nicht verantworten; dieser Knecht ward mir anvertraut«, stöhnte Henerig und griff nach dem Zaum von Flinks Klepper.

»Dünkst du dich über deine Herrin und Herrn Kunrads zweiten Sohn?« schrie Herr Dietrich in scherzhaft gemeintem Zorn. »Laß los den Gaul und laß den Soldknecht mit den blonden Locken reiten, denn wir befehlen so!«

»Aber meine Verantwortung –«

»So verantworte ich's, und meine Schwester mit«, tröstete Herr Dietrich leichthin. »Was will selbst Hatzicho gegen Weiberlaunen? Nicht mehr als schmälen. Und mag er dich nicht strafen, alter Vogt, so kann er Eberte und mich auch nicht strafen – so soll also der Knecht die Strafe erleiden. Aber reiten muß er, denn meine Schwester will's.«

»Nehmt ihm wenigstens das Wort ab, daß er wiederkehrt«, jammerte Henerig. »Ich hatte die strengsten Befehle über diesen Mann –«

Flink ersah die Lage und war rasch entschlossen, sie zu nützen, bevor des Schloßvogtes Widerspruch Herrn Dietrich sich besinnen machte. »Es sei Euch mit Hand und Mund gelobt, Herr, daß ich wiederkehre!« wendete er sich an ihn … doch er mußte Ebertes klare Augen meiden, weil er sich des Doppelsinnes seiner Worte schämte. Er meinte die Wiederkehr mit Frankfurts Waffenmacht.

»Da hast du's«, sagte Dietrich beruhigend zum Vogt und reichte der Schwester die Hand hinauf. »Gut Glück denn zum Morgenritt und kehre glücklich heim.« Er gab lustig dem Klepper Flinks einen Patsch auf den Hinterschenkel. Dann stob das Paar aus dem Burghof. Die Hufe der Gäule polterten über die Zugbrücke.

Just als Eberte mit ihrem Schimmel in den zwischen hohen Bäumen sich hinziehenden Reitweg einbog, schwirrte etwas durch die Luft. Frische Blätter rieselten von den überhängenden Zweigen einer Buche. Dicht neben Flinks Gaul schlug etwas in den Boden.

»Was war das?« sagte das Mädchen erstaunt und wendete leicht und anmutig das von jugendlicher Schöne überstrahlte Antlitz ihrem Begleiter zu.

»Wohl ein Vogel«, antwortete der erblaßte Flink und trieb sein Tier zu rettendem Galopp an, Eberte rasch hinter sich lassend. Er hatte sehr wohl den ihn fehlenden Armbrustbolz erkannt. Erst als der Reitweg auf die Landstraße mündete, verhielt er und blickte den Pfad zurück, zu davonrasender Flucht bereit, sobald sich hinter Eberte andere Reiter zeigen würden. Doch unter den Bäumen blieb es leer, bis auf das verwundert nachsprengende Mädchen.

»Galt das die Probe, so fiel sie gut aus«, rief sie herankommend ihm freudig zu. »Ihr trogt mich nicht – wie ich mich selbst nicht trog, als ich Besseres in Euch vermutete. Doch nun fort, denn bis zum Schmittgrund dürfen wir den Rossen flüchtige Hufe gönnen. Dann geht's bergauf … wir reiten in den grünen Taunus.« Mit einem hellen Jauchzer gab sie dem Schimmel den Sporn und brauste davon, Flinks Brauner neben ihr her. In eiligem Takt klangen die Hufe auf dem Weg. –


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