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Zweiunddreißigstes Kapitel

Als Mark am nächsten Tage in der fremdartigen Umgebung erwachte und sein Auge auf die alten geschnitzten Möbel, die verschossenen Vorhänge, die seltsamen frommen Bilder, das kleine schwarze Kruzifix und das Weihwasserbecken am Fußende des Bettes fiel (die Familie Cardozo war selbstverständlich katholisch), glaubte er anfänglich zu träumen und mußte sich erst darauf besinnen, daß er sich unter dem Dache seines Vaters befand.

Nachdem er sich angekleidet hatte, ging er noch vor dem Frühstück hinaus, um nach seinem Reitknechte und seinem Pony zu sehen. Der Hof glich dem eines Wirtshauses und wimmelte von Eingeborenen, die ihn mit neugierigen Augen anstarrten, als er sich einen Weg durch die zahlreichen Hämmel, Ziegen, Büffel, Kälber und Kinder nach den Ställen bahnte, die gewiß dermaleinst sehr stattliche Gebäude gewesen waren, jetzt aber überall von Verfall und Vernachlässigung sprachen. Ein altes, struppiges Pony und seine eigenen beiden Reittiere waren gegenwärtig die einzigen Bewohner des Pferdestalles.

Sein Reitknecht kam sogleich mit allen Zeichen des Mißvergnügens auf ihn zu.

»Kein Futterkorn für Pony, Sahib,« rief er mit dramatischem Pathos. »Sie füttern hier keine Körner, niemals nicht!«

»Ich komme eben, um danach zu sehen. Kaufe Futter; da hast du Geld,« entgegnete Mark, indem er dem Burschen einige Rupien einhändigte.

»O, Sahib!« fuhr der Reitknecht mit gefalteten Händen fort, »schnell, schnell heimkehren nach Shirani! Viel böses Gesindel hier!«

»In ein paar Tagen, Dum Sing, nicht eher. Inzwischen sorge für dich und die Ponies, so gut du kannst.«

Dann suchte Mark den Garten auf, und dieser, obwohl hin und wieder ebenfalls vernachlässigt und verwildert, befand sich doch im Vergleich zu Haus und Hof in musterhafter Ordnung. Er war terassenförmig angelegt, und die an den Mauern gezogenen Spalierbäume waren mit Früchten beladen. Auch Blumen und Gemüse gab es hier in Fülle. Weiterhin stieß er auf einen Fischteich, auf mehrere Statuen, sowie auf Lauben und Sommerhäuschen, und überall lagen Gartenarbeiter ihren unterschiedlichen Beschäftigungen zu Marks Verwunderung mit ungewöhnlichem Ernst und Eifer ob. Der breit angelegte, gut gehaltene Hauptweg, der den Garten durchschnitt, gewährte an dem einen Endpunkte die Aussicht auf die Kette der Schneeberge, am andern einen weiten Ausblick in die Ebene, und die festgetretene Spur in der Mitte des Weges verriet, daß er häufig als Spaziergang benutzt wurde. In der Nähe des nach der Ebene hin gelegenen Endpunktes war ein Sitz angebracht.

Hier traf Mark mit seinem Vater zusammen. Der alte Herr trug einen fadenscheinigen Anzug von grobem inländischem Stoff und sah krank und gebrechlich aus, erschien aber dessenungeachtet vom Kopfe bis zu den Füßen als vollkommener Gentleman.

»Das ist mein Spaziergang und mein Ruheplatz,« erklärte er dem Sohne. »Ich sitze hier stundenlang. Die weiße Linie dort in der Ferne ist der Fahrweg, und mit einem guten Glase kann ich da die einzelnen Fuhrwerke bis weit hinaus in die Ebene unterscheiden; bei hellem Wetter bin ich sogar im stande, zweimal täglich den Rauch der Eisenbahnzüge wahrzunehmen. So stehe ich immerhin in einigem Zusammenhange mit der Außenwelt.«

»Und wer sind deine Nachbarn?«

»Mein nächster Nachbar ist ein englischer Missionar und Arzt, der etwa sechs Wegstunden von hier wohnt; und noch etwas weiter von hier, nach jener Richtung hin (er deutete mit seinem Stocke nach der Richtung) befindet sich ein deutsches Missionshaus.«

»Und die Post? Wie bekommst du deine Briefe?«

»Eine Post brauche ich nicht. Alle sechs Monate etwa schicke ich einen Boten hinunter nach Ramghur.«

»Du hältst also keine Zeitung?«

»Nein; wozu auch? Es sind ganze Haufen alter Zeitungen im Hause,« lautete die verwunderliche Antwort.

»Und woher bekommst du Bücher?«

»Ich lese nur ein einziges, die indische Armeeliste. Das genügt mir. Die Namen einiger alter Kameraden, die ich da immer noch finde, erzählen mir ganzen Romane.«

»Ich hoffe, du fühlst dich heute etwas besser als gestern?«

»Ja, ich fühle mich heute ungewöhnlich gut. Du bist noch nicht verheiratet?« fragte er dann abspringend.

»Nein, bis jetzt nicht,« entgegnete der durch diesen plötzlichen Wechsel des Themas überraschte Sohn, »aber ich hoffe, mich in nächster Zeit zu verheiraten.«

»Du hoffst! – hoffst! Ja, so sagen wir alle. Laß es dabei bewenden. Die Hoffnung ist eine Schmeichlerin. Ich glaube ihr nichts mehr.«

»Wieso – warum?« fragte Mark beinahe ängstlich.

»Du siehst diesen Weg hier,« rief der alte Herr, als habe er die Frage überhört. »Ich schreite ihn jeden Tag genau hundertmal auf und ab, habe hundert Bohnen in der Tasche und lege jedesmal, wenn ich hier ankomme, eine davon auf diese Bank. Ich finde das sehr unterhaltend, nur daß mir die Vögel manchmal Bohnen wegfressen. Das bringt die Rechnung in Unordnung, ich finde mich nicht mehr hinein, muß dann ein neues Hundert anfangen, und das ermüdet mich sehr. Aber ich muß es thun, sonst werden sie zornig.«

»Wer wird zornig?«

»Ja, das habe ich im Augenblicke vergessen, ich wußte es eben noch. Waren es die Bohnen, oder die Vögel?«

»Du hast hier herrliche Fruchtbäume,« begann Mark nach langer Pause von neuem.

»Ja, die Halunken arbeiten fleißig, denn ich gebe ihnen außer ihrem Arbeitslohne auch noch alle Gemüse, Früchte und Blumen, und sie machen ein gutes Geschäft damit. Die Pfirsiche, Birnen und Pflaumen des gelben Hauses sind berühmt.«

Mark erinnerte sich, in Shirani davon gehört zu haben.

»Komm, wir wollen uns hier niedersetzen und plaudern,« fuhr der Major fort. »Ich will für heute einmal meinen Spaziergang aufgeben, denn man hat nicht alle Tage einen Sohn, mit dem man sich unterhalten kann. Ich habe kein rechtes Gedächtnis mehr für die Dinge aus der letzten Zeit, erinnere mich aber sehr deutlich an die früheren Jahre. Soll ich dir aus diesen früheren Tagen erzählen, mein Sohn? Würde es dich interessieren, zu erfahren, wie ich mein Leben verbracht habe?«

»Natürlich würde es mich sehr interessieren.«

»So höre. Du weißt, ich bin der jüngere Sohn einer guten, alten Familie. Mein Vater, dein Großvater, war General Vincent Jervis, und mein Familienerbe bestand – das kann ich ihm ja sagen –« schaltete er hier, wie zu sich selbst sprechend, ein, »mein Familienerbe bestand in einem hübschen Profil, einer im ganzen aristokratischen Persönlichkeit und noch was – was ich ihm aber nicht sagen darf,« fügte er, laut denkend, hinzu. »Ich schloß eine Heirat aus Liebe und kann das nur einem jeden anraten; denn deine Mutter und ich lebten in sehr glücklicher Ehe, obgleich ich dann und wann eine Neigung zu Absonderlichkeiten zeigte, die, wie meine und deine Nase, zum Familienerbe gehören. Als sie starb, verlor ich im vollen Sinne des Wortes meinen besten Ratgeber, mein alles. Ich verfiel wieder in mein früheres, ziel- und zweckloses Junggesellenleben und geriet in Schulden, bezahlte deine Pension aber immer aufs pünktlichste. Dann lernte ich Mercedes Cardozo kennen. Sie war nicht mehr jung, aber hübsch, angenehm und reich und verliebte sich in mich. Ich war ein strammer, schneidiger Kerl und Offizier bei einem eingeborenen Kavallerieregimente. Sie war nach Rasse und Neigung Indierin, und es steckte viel von ihrer Mutter, der Begum, in ihr. Der Gedanke an einen Stiefsohn war ihr unerträglich, und so gab ich, obwohl mit innerem Widerstreben, zu, daß dein Onkel dich adoptierte. Ich wußte, daß du gut aufgehoben warst und einst ein reicher Mann werden würdest; aber ich sträubte mich gegen die Vernunftgründe und Ueberredungskunst deines Onkels, als hätte ich eine Vorahnung gehabt, wie verlassen und einsam ich in meinen alten Tagen sein würde. Aber ich war doch glücklich mit Mercedes. Wir führten ein lustiges Leben, hatten viele Freunde, viel Geld und erfreuten uns des Daseins in jeder Weise. Glücklicherweise hatte Mercedes – außer einem mir verhaßten flotten, greulichen Vetter in Kalkutta, keine Verwandten. Sie war eine gutmütige, warmherzige Frau, aber auch leidenschaftlich, reizbar und eifersüchtig, und es mangelte ihr an aller Selbstbeherrschung. Sie schlug eines Tages eine andre Dame auf einem öffentlichen Balle ins Gesicht, traktierte ihre Dienerschaft mit dem Pantoffel, ließ ungeheure Rechnungen auflaufen und sprach unter keiner Bedingung die Wahrheit. Brachten ihr Wahrheit und Lüge die gleichen Vorteile oder Nachteile, so zog sie stets die Lüge vor. Indessen, wir haben ja alle unsre Fehler, und sie war im Grunde doch eine gute Seele, wenn sie mir auch nicht sein konnte, was mir deine Mutter gewesen war. Man sagt, der Mann ziehe immer seine erste Frau, die Frau stets den zweiten Mann vor. Was sagst du dazu, Mark?«

»Ich bin durchaus nicht in der Lage, eine Meinung in dieser Sache abzugeben,« versetzte Mark lächelnd.

»Ach, ich vergaß. Natürlich kannst du's nicht wissen. Vor acht Jahren also, es war um die jetzige Jahreszeit, kehrten wir von Massuri nach unsrer Besitzung in Dun zurück. Wir benutzten auf der letzten Wegstrecke die Postpferde; denn unsre Ponies waren vollständig erschöpft. Der Kutscher war ein zuverlässiger Mensch, der beste auf der ganzen Route; aber der Weg ist sehr gefährlich. An einer der schlimmsten Stellen sprang eine Ziege über den Weg, unsre Tiere scheuten und sprangen zur Seite, die plumpe Tonga Tonga, das landesübliche, stark gebaute, niedrige Fuhrwerk mit vier Sitzen, das in Indien da, wo sich noch keine gebahnten Straßen befinden, gebraucht und von zwei Ponies gezogen wird. (Anmerk. d. Uebers.) wurde gegen die hölzerne Barriere geschleudert, die uns vom Abgrunde trennte. Dann folgte ein Krach – ich höre ihn noch! – und Wagen, Pferde, Kutscher und Passagiere stürzten in die Tiefe. Man zeigt die Stelle noch jetzt; der Abgrund hat hier eine Tiefe von etwa zweihundert Fuß. Mercedes, der Kutscher und die Ponies waren tot, ich war wie durch ein Wunder mit dem Leben davon gekommen. Zwar hatte ich ein Bein gebrochen und eine schwere Verletzung am Kopfe davongetragen, aber ich blieb am Leben. Osman, mein alter Diener, der zwanzig Jahre bei meinem Regiment gestanden hatte, pflegte mich, und als ich die Reise machen konnte, begab ich mich hierher. Ich erinnerte mich des gelben Hauses als eines abgelegenen, stillen Platzes mit schönem Garten und bedurfte der Ruhe. Mein Kopf hatte gelitten, und ich gedachte, mich hier zu erholen, um dann nach England zurückzukehren, bin jedoch, wie du siehst, nicht fortgekommen.«

»Wirst aber nun nicht länger hier bleiben, sondern mit mir heimreisen,« sagte Mark liebevoll.

»Das Testament, das Mercedes hinterlassen hatte, wurde eröffnet,« fuhr der Major, ohne die Unterbrechung zu beachten, fort. »Wie es scheint, hatte sie es in einer Zeit abgefaßt, wo sie gerade unzufrieden mit mir war. Dies Haus mit dreihundert Acker Land gehören mir. Außerdem bekomme ich monatlich tausend Rupien, um mein Leben zu bestreiten. Auch alle ihre Juwelen und ihren Schmuck hat sie mir vermacht, was mir etwa ebensoviel nutzt, wie irgend ein Steinhaufen. Fernandez, der schon erwähnte Vetter, der jetzt schon ein sehr schönes Einkommen aus der Gesamtmasse bezieht, ist nach meinem Tode Universalerbe, und aller Reichtum, der sich bis dahin anhäuft, alle Juwelen, Liegenschaften, Aktien und dergleichen werden in seinen Besitz übergehen. Dir kann ich außer dem alten gelben Hause nicht das Geringste hinterlassen.«

»Ich brauche das Geld der Cardozos nicht, lieber Papa!«

»Nein, du wirst selbst genug haben. Inzwischen verwendet Hassan mein Einkommen zum Nutzen seiner Verwandten bis ins dritte und vierte Glied, lacht sich ins Fäustchen und wird dick und fett.«

»Du hast die Verwaltung deines Eigentums doch nicht ganz in seine Hände gelegt?«

»Zum größten Teile; ich fürchte, er würde mich sonst vergiften. Ich glaube nämlich, er steht in Fernandez' Solde; im Solde des Mannes, dem ich alljährlich Tausende von Rupien vorenthalte. Gelegentlich kommt er einmal hierher, um zu sehen, ob ich noch keine Anstalten mache, abzufahren, und ich habe ihm schon mehr als einmal Hoffnung gegeben. Seitdem aber Osman tot ist, haben sie mehr als je den Wunsch, mich aus der Welt zu wissen, und zwar sobald als möglich.«

»Wer war denn dieser Osman?«

»Er war, als ich noch beim Regiment stand, mein Sowar, das heißt meine Ordonnanz. Wir hatten einander ein halbes Leben lang gekannt, und er stand mehr wie ein Bruder, denn als Untergebener zu mir. Wir waren an demselben Tage in Dienst getreten und verließen das Regiment an demselben Tage. Er gab die eigene Heimat, das eigene Volk für mich auf, folgte mir, kettete sein Schicksal auf Leben und Tod an das meinige und starb vorige Woche in meinen Armen.« Hier wurde die Sprache des Majors undeutlich. Nach einer Weile fuhr er ruhiger fort; »Wir haben Hitze und Kälte miteinander getragen, haben dem Feuer und dem Wasser miteinander getrotzt. Während der langen Abende hier sprachen wir stundenlang von dem alten Regiment und den alten Zeiten, und solche Unterhaltung ist besser als alle Bücher. Wäre Osman am Leben geblieben, hätte ich dich auch nicht zu mir gerufen, nein, nie und nimmer! Er blieb bei mir, bis der Tod ihn abkommandierte, und du mußt nun bei mir bleiben, bis der Tod mich abruft.«

»Ich nehme dich mit,« sagte der Sohn entschlossen. »Alles, was du mir da erzählst, überzeugt mich, daß dies Land nicht für dich taugt. Je eher du nach England zurückkehrst, desto besser. Nicht wahr, du wirst mit mir heimreisen? Versprich es mir!«

»Ich habe keine Lust, England wiederzusehen,« versetzte der Major mürrisch. »Indien ist mir zum Heimatland geworden. Ich habe meine hellen, heiteren, guten Tage hier verlebt und will auch die trüben hier verleben. Und trübe sind meine Tage allerdings; aber es werden ihrer nicht mehr viele sein, und je schneller es zu Ende geht, desto besser. Aber es ist elf Uhr geworden,« setzte er, sich mit steifen Gliedern erhebend, fort. »Laß uns zum Frühstück gehen!«

Nach dem Frühstück zog sich Major Jervis zurück und überließ es seinem Sohne, sich allein weiter umzusehen, und dieser wunderte sich bei seinen Wanderungen durch Haus und Hof über die seltsame Wirtschaft, über die Menge von eingeborenen Kindern, die hier umherliefen, über das Geflügel und die Ziegen, die in der Eingangshalle herumtrappelten, als hätten sie Stiefel an den Füßen, über den alle Räume durchdringenden Geruch der Huka, über die großen, öden, mit verstaubten Möbeln, Teppichen und allerlei anderm Gerät gefüllten Räume. Unter anderm Gerümpel bemerkte er auch einen alten Dandy und einen Damensattel, die fraglos Eigentum der verstorbenen Mercedes gewesen waren.

Zum Erstaunen der Eingeborenen, die ihm mit offenem Munde nachsahen, schlenderte er weiter und weiter durch das Thal; wie sollte er die langen Stunden bis Sonnenuntergang hinbringen? Denn bis dahin pflegte sein Vater, wie ihm Hassan herablassend berichtet hatte, zu ruhen und zu schlafen. Mark hatte gegen den fetten Menschen, der sich kaum die Mühe nahm, einem Befehle zu gehorchen, und immer geraume Zeit brauchte, ehe er die Gefälligkeit hatte, einem Rufe Folge zu leisten, bereits einen gründlichen Widerwillen gefaßt.

Ein freundlicher Pahari (Sohn des Gebirges), dem der junge, ziellos hin und her schlendernde Sahib leid that, erbot sich aus freien Stücken, ihn nach dem »Kantonnement« zu führen. »Wie, es gibt ein Kantonnement hier?« fragte Mark ungläubig, nahm aber das Anerbieten mit Freuden an. Ein beschwerlicher Marsch auf Ziegenpfaden und durch ausgewaschene Rinnsale brachte sie auf die Höhe eines seitwärts liegenden Hügels, von dem aus man wirklich auf eine verlassene Militärstation hinabblickte. Hier war, wie Marks Führer berichtete, vor dreißig Jahren noch alles voll Soldaten aus dem Tieflande gewesen. Dort sah man noch die Baracken, die Bangalos und die Gartenanlagen mit Bäumen, die noch jetzt Früchte trugen. »Aber einmal war die Cholera gekommen und hatte das halbe Regiment hinweggerafft. Die andern waren schleunigst abmarschiert und nicht zurückgekehrt, außer ein- oder zweimal, wo sie, wie die Leute sagten, eine ›Tamasha‹ hier abgehalten hatten.«

»Eine Tamasha, eine Lustbarkeit? Was soll das heißen?« fragte Jervis scharf. Wollte ihn der Mensch etwa zum besten haben?

Ja, Sahibs und Mem Sahibs waren gekommen, hatten gegessen, getrunken, Musik gemacht und getanzt. Im übrigen hatte man den Platz den bösen Geistern überlassen.

Ein breiter, jetzt mit Gras überwachsener Fahrweg führte nach der verlassenen Station hinab, und Mark verfolgte ihn bis zu dem ehemaligen Paradeplatze. Dort befand sich noch das Klubhaus in bewohnbarem Zustande, die Kirche, die das Dach verloren hatte und von einem weiten, in bester Ordnung gehaltenen Gottesacker umgeben war. Dieser Gottesacker hier mitten in der Wildnis, der nicht von Unkraut überwuchert war, auf dessen Denksteinen man noch jede Inschrift deutlich zu lesen vermochte, und wo jeder Hügel mit besonderer Sorgfalt gepflegt schien, bot einen überraschenden Anblick! Auch das frühere Speisehaus der Offiziere, in das Mark eintrat, befand sich, dank der Festigkeit des zu dem Baue verwendeten Deodarcedernholzes, noch in gutem Zustande. Wenigstens zwanzig Bangalos standen, obwohl von der üppigen Vegetation überwuchert und von Schlingpflanzen halb begraben, noch aufrecht. An einigen hatten die Veranden der zerstörenden Wirkung von Zeit und Klima nachgegeben, an andern war das Dach eingesunken, während wieder andre allen diesen Einflüssen zu trotzen schienen. Die Lage der Station, inmitten der Hügel und mit dem Ausblick in die ferne Ebene, war wundervoll. Tiefe Stille, nur unterbrochen von dem Plätschern eines munteren Gebirgswassers, herrschte ringsum, und außer einigen weidenden Rindern und mehreren Geiern, die an dem Gerippe eines gefallenen Ponys herumhackten, war kein lebendes Wesen zu sehen. Die verlassene Station war, trotz ihrer herrlichen Lage, ein tief melancholischer Ort!

Der Kuli erklärte dem Sahib nun, daß er ihm noch eine zweite Sehenswürdigkeit zeigen und ihn dann auf einem andern Wege nach dem gelben Hause zurückführen wolle.

Ein halbstündiges Aufwärtssteigen brachte sie zu einem hübsch gelegenen Dorfe mit flach bedachten, an der Vorderseite mit Holzschnitzereien verzierten Gebirgshäusern, die zum Entsetzen des Fremden ganz von Aussätzigen bewohnt waren, von Aussätzigen jeden Alters, die sofort herbeigelaufen kamen, den Sahib umringten, ihre schreckliche Krankheit vor ihm zur Schau stellten und ihn um ein Almosen baten. Mark verteilte schnell, was er an Geld bei sich hatte, unter die Unglücklichen und eilte dann, so rasch ihn seine Füße tragen wollten, davon. Er schämte sich in tiefster Seele seines Abscheus, drehte aber dennoch dem entsetzlichen Dorfe in größter Hast den Rücken und legte den Weg nach der Pela-Kothi Kothi, das große Haus. (Anmerk. d. Uebers.) in mächtigen Sprüngen zurück.

Das verlassene Kantonnement und die Ansiedlung der Aussätzigen hatten zusammen einen unsagbar traurigen Eindruck auf ihn gemacht, und obwohl die Umgebung unvergleichlich schön war, die Luft überaus erfrischend und anregend wirkte, und der Duft und die Stimmen des Waldes mächtig genug waren, um alle schlummernden Lebensgeister zu wecken, hatte er die Empfindung, als liege eine Zentnerlast auf seinem Nacken, als sei er seit gestern um zehn Jahre älter geworden; hatte sich ihm doch, neben den Eindrücken dieser letzten Stunden, die unabweisbare Erkenntnis aufgedrängt, daß der Geist seines Vaters jedenfalls getrübt war, und daß er den Kranken um jeden Preis, ja, um jeden Preis, von hier fortbringen und mit nach England nehmen müsse.

Wie seltsam doch der alte Mann sprach! Manchmal ganz klar und verständig und dann wieder so wirr, daß man kaum verstand, was er meinte. Was sollte es zum Beispiel heißen, wenn er sagte: »Osman blieb bei mir, bis der Tod ihn abkommandierte, du mußt bei mir bleiben, bis er mich abruft«?


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