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15. Minnas Opfer.

Mit gewaltigen Stürmen nahte in diesem Jahre der Frühling, und nur nach hartem Kampfe wurde der Unhold Winter vertrieben; als er aber endlich mit Sturm und Braus nach Norden gedrängt worden war, breitete der Frühling alle Herrlichkeiten aus, die er aus dem Süden brachte. »Nun sollen sich die Menschen nach den bösen Tagen auch einmal erfreuen,« schien er zu sagen, und wohin sein sonnenglänzender Blick fiel, da sprangen Schneeglöckchen auf, über Baum und Busch floß sein belebender Hauch, und draußen im Walde konnte man das lieblichste Konzert hören, ohne Eintrittsgeld zu bezahlen.

»Nun wird mein lieber Bruno auch bald wieder besser werden,« sagte Minna und öffnete das Fenster, damit die warme Luft hereinströmte; Bruno hatte schon lange keine frische Luft geatmet, denn er konnte an den Spaziergängen nicht mehr teilnehmen.

»Nun fahren wir bald nach Sornitz,« jubelte Adele, und Ella stieg aufs Fensterbrett, sprang in den Hof und kehrte durch die Tür ins Zimmer zurück; sie mußte die Frühlingslust doch auch beweisen.

Minna hatte mit dem Vater eine längere Beratung; dann erschien ein Gärtner mit einigen Gehilfen, und der ziemlich große Garten, der aber wie eine Wildnis aussah, wurde in Ordnung gebracht. Nachdem die Beete abgeteilt, die Gänge mit gelbem Kies bestreut, die Reben an der Laube angebunden und die Obstbäume verschnitten waren, begann Minna selbst darin zu arbeiten.

»Gartenarbeit?« fragte Adele und warf einen Blick auf ihre feinen, sorgsam gepflegten Händchen.

»Gartenarbeit!« jubelte Ella und versuchte es Minna nachzutun, die nach Anweisung des Gärtners sorgsam junge Kohlrabi und Salatpflanzen in den gelockerten Boden steckte.

Als nun aber auch Blumenpflänzchen daran kamen, hatte selbst Adele den Reiz begriffen, der gerade in dieser Arbeit liegt, und half nicht nur mit Eifer, sondern sie verbesserte die Einteilung der Beete und verstand es, die Blumen nach Höhe und Farben so geschickt zu pflanzen, daß man sich für den Sommer einen sehr hübschen Anblick versprechen durfte.

Bruno saß, während die Schwestern draußen arbeiteten, in der Schlafstube, die nach dem Garten hinaus lag, am offenen Fenster und sah ihnen zu. Keine Viertelstunde verging, daß nicht eine der Schwestern zu ihm trat und ein paar Worte schwatzte; es war gerade, als leitete er die Arbeit und bestimmte jede Anordnung. Die ersten Veilchen standen vor ihm auf dem Fenster, und jedes Käferchen wurde ihm gezeigt, ehe die Mädchen ihm wieder die Freiheit schenkten.

Wenn Minna mit Bruno redete, dann war ihr Auge hell und ihre Stimme fröhlich, wenn er sie aber nicht hören konnte, dann seufzte sie oft tief; eine Täuschung war kaum mehr möglich – mit dem geliebten Kinde ging es Schritt für Schritt bergunter.

Manchmal schien die Krankheit stillzustehen, aber schaute Minna einige Wochen zurück, dann sah sie den Unterschied. Von Spazierengehen war längst nicht mehr die Rede; mühsam schleppte sich der Knabe auf seinen Krücken durch die Stube, matter und trauriger wurde die Stimme und die Wangen schmaler und bleicher. Keine Veränderung entging Minna jetzt mehr; ihr Herz sank, wenn er einmal über Schmerzen klagte, sprach er aber lebhafter als gewöhnlich, oder hörte sie ihn gar lachen – dann bekam die Hoffnung Flügel. »Er wird sich erholen; ach, er muß gesund werden! Wie soll ich das Leben ohne ihn ertragen?« dachte sie dann.

In dieser Zeit schrieb die Großtante, daß sie durch Adele, bei der sie danach gefragt, erfahren hätte, daß Uslars keinen Flügel besäßen. Das ginge nicht so weiter; der Unterricht habe viel Geld gekostet, und alles das wäre weggeworfen, wenn die erlangte Fertigkeit durch Mangel an Übung verloren ginge; sie wolle nur diesen einen Grund anführen, obwohl sie eine große Anzahl Gründe nennen könnte. Sie habe deshalb bei dem Bankier Simon in Tarnowitz fünfzehnhundert Mark hinterlegen lassen, die Minna zur Anschaffung eines Flügels anwenden solle.

Am Abend dieses Tages suchte Minna den Vater in seiner Stube auf; sie erzählte, daß sie einen Brief der Großtante den Geschwistern verheimlicht habe, weil sie zuerst mit ihm darüber zu sprechen wünsche.

Zerstreut hörte Herr Uslar zu, als Minna den Brief vorlas; ein tiefer Kummer, den er vergeblich durch die angestrengteste Arbeit zu bewältigen strebte, nagte an seiner Seele. Auch er konnte sich Brunos fortschreitendes Leiden nicht länger verhehlen; der Gedanke, dieses reichbegabte, liebenswürdige Kind zu verlieren, beugte ihn darnieder. Vater und Tochter, jedes fürchtend, den eignen Schmerz zu verraten, hatten es vermieden, über seine Krankheit miteinander zu reden.

Zum erstenmal brach Minna das Schweigen.

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Während die Schwestern draußen arbeiteten, sah ihnen Bruno zu ...

»Fünfzehnhundert Mark sind eine große Summe, Papa,« sagte sie, nachdem sie den Brief zu Ende gelesen hatte.

Herr Uslar, dem nichts entsetzlicher war, als Geld von der reichen Großtante anzunehmen, entgegnete schnell: »Da hast du recht – eine solche Summe dürft ihr euch nicht schenken lassen.«

»Ich wollte sie nicht zurückweisen, Papa; ich wollte sie nur auf andre Weise verwenden.«

Herrn Uslars Augen zogen sich zusammen, als fühlte er Schmerz. »Ich dachte nicht, daß es euch an irgend etwas mangelte. – Ein Pianino freilich – eine solche Ausgabe überschreitet meine Einnahme – aber du hast da neulich sogar Geld zurückgewiesen, Minna.«

»Ja, Papa, ich konnte unsre Sommergarderobe mit alten Sachen, die wir schon besaßen, ganz gut herstellen; ich denke auch nur an unsern Patienten.«

»Du mußt mir sagen, was Bruno braucht; er soll alles haben und um Gottes willen nichts entbehren. Ich werde wahrscheinlich bald eine einträglichere Stellung bekommen; Bruno soll's an nichts fehlen.«

»Ich denke, Papa, für die alte Frau wär's eine bittere Kränkung, wenn ich das Geld zurückschickte; schenken ist ihre einzige Freude.«

Herr Uslar fühlte, daß er seinen Stolz opfern mußte. »Was willst du für Bruno tun?« fragte er und begann im Zimmer umherzugehen.

»Ich habe verschiedene Pläne: zuerst einen bequemen Rollstuhl, worin wir ihn in den Garten fahren können; meine Kräfte würden nicht ausreichen, ihn so weit zu tragen. Und dann« – sie stockte, faßte sich aber und sagte schnell: »Ich wünschte, daß ihn ein Berliner oder Breslauer Arzt untersucht und – und wenn er's verlangt, muß Bruno in ein Bad gebracht werden – oder in eine Heilanstalt.«

»Ja, wenn er uns Hoffnung gibt,« sagte Herr Uslar dumpf und fuhr sich mit der Hand durch das ergrauende Haar. Da lag Minna an seinem Halse und schluchzte, und es verging eine Weile, bis sie weiter sprechen konnte.

Der Stuhl wurde sogleich in Breslau bestellt, die Konsultation aber mußte nach dem Wunsche des Professors, den man dazu erwählte, bis nach Pfingsten verschoben werden. Die Großtante, von Minna in ihre Pläne eingeweiht, erflehte Gottes Segen für ihr liebes Mädchen.

Ende Mai kam die Einladung nach Sornitz. »Mama hat gezögert,« schrieb Hilda, »bis alles grün und der Boden trocken geworden ist, damit Bruno den ganzen Tag im Freien bleiben kann.«

Wenige Tage später hielt der Wagen des Grafen Zarnikow vor dem Uslarschen Hause, und eine glückstrahlende junge Gesellschaft nahm darin Platz. Bruno war der ganze Hintersitz eingeräumt, wo er bequem liegen konnte; die drei Schwestern saßen auf dem Rücksitz ihm gegenüber. Herr Uslar war eingeladen worden, den Sonntag draußen zu verleben; so war die Trennung keine lange. »Und daß Sie mir meinen lieben Papa ja gut pflegen,« rief Minna Frau Rosine zu und drohte lächelnd mit dem Finger. Aus einem Fenster des großen Hauses sah ihnen aber ein Paar neidischer Augen nach. Was hätte Aurora dafür gegeben, auch zu den Zarnikows eingeladen zu sein!

Das Wohnhaus in Sornitz war überaus einfach, aber doch sehr behaglich eingerichtet. Die Gräfin war eine tüchtige Hausfrau und hielt die Leitung des Hauswesens in sicherer Hand. Umstände wurden nicht gemacht, aber wer nach Sornitz kam, fühlte sich dort so wohl, daß ihm das Fortgehen schwer fiel; so kamen viele Leute, und das Haus war selten ohne Gäste.

Die junge Schar, die angefahren kam, wurde mit Jubel begrüßt. Graf Zarnikow ließ sich's nicht nehmen, Bruno selbst ins Haus zu tragen; die Gräfin aber war für ihn besorgt wie für ein eignes Kind. Fortwährend war sie auf sein Behagen und seine Unterhaltung bedacht. Sie rollte ihn selbst in den Garten; fast aller Stunden überraschte sie ihn mit einem kleinen appetitlichen Gerichte, durch das seine Eßlust gereizt wurde, und als sich nach einigen Tagen auf seinen blassen Wangen ein leiser rötlicher Schimmer zeigte, da fühlte sie mit Minna, die ihr voll Seligkeit die Hände küßte.

»Ach, wenn er nur noch einmal so wohl würde, wie er war, ehe wir nach Tarnowitz kamen!« sagte das liebe Mädchen. »Ich will ihn ja gern pflegen, solange ich lebe, wenn er nur so wohl ist, daß er Freude am Leben findet.«

»Aber um einen kranken Bruder zu pflegen und ein Hauswesen zu führen, braucht man Kräfte, mein liebes Kind,« meinte die Gräfin. »Du aber siehst auch recht angegriffen aus. Ich werde dich in der Pflege ein wenig ablösen. Du mußt einmal mehr nach den Bedürfnissen deines Alters leben. Mein Mann freut sich schon darauf, mit dir auszureiten. Auch schadet es nichts, wenn du einmal ein Buch liest; zu Hause findest du dazu gewiß keine Zeit.«

Nach diesen Worten fühlte Minna, daß sie wirklich keine Pflicht vernachlässigte und Bruno eine bessere Pflegerin daheim sein würde, wenn sie selbst die kurze Zeit benützte, ihre Gesundheit zu kräftigen. Von früh an lebte sie im Freien, trank herrliche Milch, ritt spazieren mit dem Grafen – sie hatte schon als kleines Mädchen ihren Pony besessen, sodaß sie eine ganz sichere Reiterin war. Manchmal aber zog sie sich zurück und las in einem Buche – besonders zur Abwechslung auch einmal einen Roman, den sie in der Bibliothek fand, und wenn sie an den Spielen teilnahm, war sie gerade so lustig und ausgelassen wie die übrige junge Gesellschaft.

Die beiden Zarnikows, Hilda und Hans, der sich nach dem Abiturientenexamen einige Monate auf dem Lande erholen sollte, ebenso Adele und Ella – sie alle waren wie junge Füllen, die, lange eingesperrt, sich nun endlich einmal tummeln durften. Die Gräfin, stets unter ihnen, wenn auch mit einer Handarbeit ruhig neben dem Stuhle Brunos sitzend, wehrte ihrem tollen Treiben nicht. »Irgendwo muß der Jugendübermut heraus,« sagte sie. »Gott sei Dank, daß sie ihre Freiheit genießen können.«

In diese Zeit traf Hildas Geburtstag, und Hans hatte im Verein mit Uslars einen großartigen Plan zur Feier dieses Tages entworfen, der von den Eltern gebilligt und nach jeder Seite unterstützt wurde.

In dem schönen alten Eichenforst, der an Sornitz grenzte, sollte ein Picknick, »aber,« wie sich Hans ausdrückte, »ein riesig famoses Picknick« gefeiert werden. Einige Freunde aus der Nachbarschaft hatten versprochen sich einzufinden. Der Platz wurde ausgesucht und mit Girlanden geschmückt und eine schnell aufgeworfene Rasenbank für die älteren Herrschaften errichtet – die jungen Leute begnügten sich, auf dem grünen Moose zu sitzen; sogar ein flacher Herd, über dem ein Kessel hing, den Kaffee zu kochen, fehlte nicht. Alles das war sorgfältig vorbereitet worden.

Hilda hätte blind und taub sein müssen, wenn sie von den geheimnisvollen Vorbereitungen nichts hätte merken sollen; aber sie stellte sich ganz unwissend und verstand sehr niedlich, am Geburtstagsmorgen die Überraschte zu spielen.

Der Himmel kam der Feier des Tages zu Hilfe; er strahlte im reinsten Blau und lächelte Frohsinn in alle Herzen. Die junge Gesellschaft fuhr auf dem See in Gondeln nach dem Walde, die Gräfin mit Bruno aber im Wagen. Der Fahrstuhl war schon vorausgeschickt worden, und so konnte der kranke Knabe ohne Beschwerde an dem Feste teilnehmen.

Die Gräfin hatte sich mit ihm früher eingefunden, denn es lag ihr daran, zuvor einen ordnenden Blick auf die getroffenen Einrichtungen zu werfen; doch fand sie keine Ursache zum Tadel.

Bei dem hellbrennenden und knisternden Feuer stand das Küchenmädchen, die Haushälterin schnitt auf einem aufgeschlagenen Brettertisch den mitgebrachten Kuchen; man hatte, nach dessen Menge zu urteilen, auf einen guten Appetit gerechnet. Die Jungfer stellte indes die Tassen und Gläser auf, die der Bediente auspackte.

Schon von ferne kündigte sich die Gesellschaft durch lautes Lachen an, das fast wie Vogelgezwitscher zwischen den Bäumen hervordrang, und bald zeigten sich die jugendlichen Gestalten – alle in Weiß gekleidet – mit ihrer männlichen Begleitung, dem alten Grafen und Hans. Minna flog auf Bruno zu. »O, mein Liebling, wie geht es dir? Ist's nicht herrlich im Walde?«

»Ach, Minni – es ist so schön – ich möchte so gern noch länger leben.«

So hatte er noch niemals gesprochen. Minna gab's einen Stich ins Herz, und das Fest war für sie getrübt.

Bald fanden sich die übrigen Gäste auch ein, die Baronin Neitung und Kamilla unter ihnen; es war ihnen nicht verraten worden, daß sie ihre jungen Freundinnen treffen würden, und so war diese Überraschung eine besondere Freude für die alte Dame. Sie erzählte Minna, daß ihr Sohn wegen einer ernsten Angelegenheit nach Westfalen, ihrer früheren Heimat, berufen worden sei. »Gott gebe, daß es zu seiner Ruhe beitragen mag,« sprach sie seufzend. »Ich habe die Hoffnung fast aufgegeben, ihn von seiner Melancholie genesen zu sehen.«

Es waren unter den Gästen auch einige junge Mädchen und Herren der Nachbarschaft, ja man hatte diesen Tag benutzt, die Karlingsche Einladung zu erwidern; so erschien denn Frau Direktor am Arme ihres Gatten, gefolgt von Aurora und Rosamunde.

Rosamunde wiederzusehen war Minna eine herzliche Freude, die von dem guten Mädchen auf das lebhafteste geteilt wurde; sie hatte sich wohl anfänglich mehr an Adele angeschlossen, aber das Vertrauen, das sie mit Minna verband, kettete sie nun doch noch inniger an diese.

Aurora, der die Gesellschaft fremd war, erwies deshalb Minna möglichst herablassend die Ehre, als ihre Freundin zu gelten, selbst Frau Direktor spielte die Gnädige. Man hätte glauben sollen, daß die Karlings keinen Tag hingehen ließen, ohne mit den ›lieben Uslars‹ zusammenzukommen; »da wir doch einmal auf demselben Hofe wohnen, Verwalters vorn rechts in dem kleinen Hause, wie Sie wissen, und wir geradeaus in dem großen,« erzählte Frau Direktor.

Indes nahm die Gräfin die Bekränzung der jungen Damen vor; das war ihre Überraschung. Jedes junge Mädchen bekam einen bunten Blumenkranz, und jeder Kranz war von dem andern verschieden. Das sah nun wunderhübsch aus, die fröhlichen, blühenden Gesichtchen, Blumen im Haar und das Grün des Waldes als Hindergrund. Es war aber noch eine weitere Überraschung dabei. Zu jedem Kranze gehörten aus den gleichen Blumen gefertigte kleine Sträußchen, die mit Nummern versehen in einem Korbe lagen. Den Herren wurden die gleichen Nummern zusammengerollt als Lose überreicht: wer nun ein Rosensträußchen gewann, war Kavalier der jungen Dame mit den Rosen; wer Tausendschönchen errang, gehörte zu dem Fräulein mit dem Tausendschönchen-Kranze.

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Eine russische Promenade machte den Anfang ...

Mancher würde wohl dabei gern den Zufall unterstützt haben, um den jungen Damen, die am hübschesten waren, als Kavalier huldigen zu können; aber die Einrichtung war so getroffen, daß man dem Glück nicht nachhelfen konnte und sich jeder dem Ausspruche des Schicksals fügen mußte.

Das Sichfügen wurde nicht immer ganz leicht; das empfand Hans, dem Aurora zugefallen war: er gab ihr mit sauersüßer Miene seinen Arm. Damit die Paare ein wenig vertrauter miteinander würden, sollte eine russische Promenade den Anfang machen.

Minna, die einen Kranz von jungen Eichenblättern und Moosrosen trug, wurde Partnerin eines Leutnants von Weber aus Oppeln. Dieser war natürlich mit dem Schicksal sehr zufrieden und versäumte nichts, seiner Dame diese Zufriedenheit zu beweisen.

So verlief das Fest auf die angenehmste Art.

Ein Teil der Gesellschaft kehrte am Abend noch mit nach Sornitz zurück, wo nach heiterer Abendmahlzeit ein Tänzchen gemacht wurde.

Zwei Tage nach diesem Feste benutzte Minna die Erlaubnis der Gräfin und zog sich aus dem Kreise der Freunde zurück, um ein wenig sich selbst anzugehören.

Mit Rückerts Gedichten, die sie besonders liebte, ging sie durch die schattigen Parkwege nach einem sogenannten Pilz – einem Platze, der an der Parkmauer lag und von dem aus man die Landstraße hinauf- und hinuntersehen konnte.

Die ziemlich einsame Landstraße aber war es nicht, die Minna interessierte; sie war ganz mit ihrem Lieblingsdichter beschäftigt. Wenn sie ein Gedicht gelesen hatte, schloß sie das Buch und ließ das Gelesene in ihrer Seele gleichsam nachklingen, oder sie suchte ein Gedicht auf, das sie schon beinahe auswendig kannte, sich von neuem daran zu ergötzen.

Sie wurde aus ihren Gedanken durch Hufschläge aufgeschreckt, die auf der harten Landstraße und bei der Stille der Umgebung von weither schallten und sich, wie es schien, mit großer Schnelligkeit näherten. Minna bog sich weit vor, in der Meinung, es müsse Graf Zarnikow sein, der auf eins der Vorwerke geritten war.

Deutlich konnte sie den von einer sonnendurchleuchteten Staubwolke umhüllten Reiter nicht erkennen, aber sie zweifelte, daß der Graf so rasend einhersprengen würde; dieser Zweifel währte auch nur wenig Augenblicke, dann fühlte sie auf einmal, wie ihr alles Blut ungestüm nach dem Herzen drängte – sie hatte Baron Neitung erkannt.

Beschämt über die Bewegung, die sie so unvorhergesehen überfallen hatte, wollte sie sich schnell zurückziehen, aber sie war von scharfen Jägeraugen schon bemerkt worden, Baron Neitung schwenkte seinen Hut zum Gruße.

Diese Begrüßung paßte nicht zu dem sonst so gedrückten Wesen des Barons, noch weniger wollte die Stimme passen: »Fräulein Uslar – welch frohe Überraschung!«

»Wenn er so niedergeschlagen wie früher wäre, würde ich nicht so verlegen werden,« redete sich Minna ein.

Doch nahm sie sich zusammen, ihm ihre Verwirrung nicht zu zeigen. »Meine Geschwister und ich, wir sind schon seit bald zwei Wochen zu Besuch bei Graf Zarnikow,« rief sie ihm hinunter, denn er hielt sein Pferd an und schaute mit fröhlichen Augen zu ihr hinauf.

»O, das wußte ich schon, Fräulein Uslar, ich weiß mehr, als Sie glauben,« rief er in derselben übermütigen Weise. »Wissen Sie aber auch, daß ich auf dem Wege nach Sornitz bin?«

Natürlich wußte sie das ebensowenig, als die Ursache seiner wunderbaren Veränderung. »Ist es denn wirklich Baron Neitung?« fragte sie sich – natürlich nur in Gedanken. Sein ganzes Wesen schien von Jugendlust und Übermut durchströmt; seine Bewegungen waren elastisch – und wie nun gar seine Augen strahlten!

»Ich habe eine frohe Neuigkeit zu verkünden,« sagte er und leitete sein Pferd dicht unter die Parkmauer, so daß sie ihn verstehen konnte, als er leiser fortfuhr: »Und Sie, Fräulein Uslar, sollten die erste sein, die meine frohe Neuigkeit erfährt. – Ach, da kommt mein alter Philipp. – Ich bin vorausgeritten. – Ja und denken Sie nur, ich erkannte von ferne einen Hut – ›der Hut einer jungen Dame‹ dachte ich mir gleich – und sehen Sie, da packte mich auf einmal ein ganz unsinniger Wunsch, daß Sie die junge Dame sein möchten. – Ich wollte es für ein glückbringendes Zeichen nehmen, wenn ich mich nicht täuschte – und ich schwor mir, keine Mauer, ja nicht einmal ein Verbot solle mich abhalten, Ihnen mein großes Glück sogleich zu verkünden.«

Indes war der Diener herangekommen, und während der Baron diesem die Zügel zuwarf, stellte er sich auf den Rücken seines Pferdes und schwang sich auf die Parkmauer.

Mit wachsendem Erstaunen hatte ihm Minna zugehört; sie erschrak, als sie ihn jetzt von der Mauer in den Park springen sah. Es beschlich sie ein Zweifel, ob dieser Mann auch bei Sinnen wäre – ob es vielleicht gar der Wein sei, der diesen wunderbaren Umschlag bewirkt hätte. Zaghaft und zitternd erwiderte sie seine tiefe Verneigung, mit der er unter das Schirmdach des kleinen Pavillons trat.

»Nicht wahr, Sie verstehen mich gar nicht, Fräulein Uslar?« waren seine ersten Worte, als habe er ihre Gedanken erraten. »Ja, das Leben ist wunderbar. Ein Augenblick machte mich aus einem leichtsinnigen jungen Gardeoffizier zu einem ernsten Manne; der Umschwung von tiefer Melancholie zu frischem Lebensmut ist fast ebenso plötzlich gekommen, obgleich ich dem Leichtsinn nun doch wohl abgeschworen habe. – Sie erlauben?« Er nahm ihr gegenüber Platz.

Minna war ruhiger geworden, sie erkannte jetzt, daß er weder berauscht noch irrsinnig war; nur verglichen mit dem schwermütigen Manne, den sie im Winter kennen gelernt hatte, war er ein andrer geworden. Für einen Augenblick schien sogar sein früherer Ernst zurückzukehren.

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Der Baron schwang sich vom Rücken seines Pferdes auf die hohe Parkmauer ...

»Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig, Fräulein Uslar. Es ist soviel Falsches über das Schicksal, das mich vor nun bald drei Jahren betroffen hat, gesprochen worden, daß ich fürchte, auch Sie haben solche Gerüchte gehört; Ihr kranker Bruder hat mir ja seinen Abscheu deutlich genug bewiesen.«

Er sprach die letzten Worte mit ungewohnter Bitterkeit. Minna errötete tief und stammelte einige unzusammenhängende Worte; sie selbst hatte diese Kränkung Bruno noch nicht vergeben können.

Der Baron atmete wie erleichtert auf. »Gott sei Dank – ich kann nun wieder jedem Menschen frei in die Augen blicken. Aber ich bin Ihnen einen wahrheitsgetreuen Bericht schuldig, Fräulein Uslar. – Sehen Sie, vor drei Jahren war ich ein ganz leichtsinniger junger Mann; ich spielte, verlor und konnte meine Schulden nicht bezahlen. Es gab zu Hause eine Szene. Vater konnte sehr heftig sein, er sprach harte Worte und mir war, als wäre die Brücke abgebrochen. Ich trotzte und konnte mich nicht entschließen, ihn um Verzeihung zu bitten. Ganz früh am andern Morgen gingen wir mit zwei Gutsnachbarn auf die Jagd. Die Herren sprachen viel von einem Wilderer, dem meines Vaters Förster auf die Spur gekommen wäre; ich achtete kaum auf ihre Reden, ich hatte meine eignen Gedanken, kaum, daß ich auf dem Anstand auch nur etwas von der alten Jägerlust verspürte. Auf einmal aber schien mir, ich sähe im Busche ein Reh sich bewegen, ich schoß – und mein Vater war eine Leiche. Seine Lippen haben sich nie mehr geöffnet, mir zu vergeben; ich selbst hatte sie ihm verschlossen. Was ich damals empfand, Fräulein Uslar, war ein so furchtbarer Schlag, daß ich nicht einmal Schmerz fühlte; aber später folgten so anhaltende, qualvolle Schmerzen, daß mir war, als saugten sie mir allen Lebensmut aus den Adern. Und dieser Zustand blieb, ohne sich zu ändern, bis vor wenig Tagen. Eine Untersuchung wurde nicht eingeleitet, ich stellte mich selbst dem Gericht.«

Er schwieg einen Augenblick; das Gesicht, das sie jetzt in tiefem Ernst vor sich sah, war Minna wieder wohlbekannt. Sie blickte den jungen Mann mit der innigsten Teilnahme an.

»Ich glaube, diese drei Jahre haben mich zu einem andern – einem besseren Menschen gemacht,« sprach er weiter. »Was ich durch Leichtsinn verschuldete – ich hab's gebüßt; was ich gelitten habe, Sie können es nicht ermessen, kaum meine arme Mutter, die mit mir litt ...«

»Ach bitte, sagen Sie mir bald, wie es möglich wurde, daß Sie diesen furchtbaren Schmerz so plötzlich überwinden konnten.«

Ein inniger, dankbarer Blick für diese Teilnahme, die sie fast unbewußt verriet, traf Minna.

»Ja, das ist das Wunderbare,« fing er fast feierlich an, »das Walten der Vorsehung! Ich sprach von einem Wilderer. Der Mann wurde vor einigen Wochen im Kampf mit Förstern verwundet. Als er fühlte, daß er sterben müsse, bekannte er sich als Mörder meines Vaters; ja noch mehr – nach seiner Angabe wurde in dem Baume, vor dem mein Vater gestanden hatte, die Kugel gefunden, die ich abgeschossen hatte. O, Fräulein Uslar – ich bin nicht der Mörder meines Vaters! Können Sie fühlen, was das heißt? Die furchtbare Schuld ist von meiner Seele gewälzt. Ich atme Himmelsluft, das Leben erscheint mir lebenswert, mein ganzes Sein drängt mich zu schaffen, meinen Mitmenschen Gutes zu tun, sie glücklich zu machen und – auch selbst glücklich zu werden. Und dazu, Fräulein Uslar – Sie haben wohl noch gar keine Ahnung, daß Sie, gerade Sie zu meinem Glücke notwendig sind? Seit ich Sie gesehen, habe ich Sie als mein Ideal verehrt – nie sah ich ein Mädchen, das ich Ihnen vergleichen konnte; und darum komme ich mit einer großen Bitte zu Ihnen, gleich in den ersten Tagen meines neuen Lebens. Sie werden mir die Bitte nicht abschlagen, Fräulein Minna?«

Sie war bleich geworden. Fast ungläubig schaute sie ihn an, senkte aber im nächsten Augenblick erschreckt die Augen. Es war ihr, als würde sie von einer wunderbaren Musik umbraust; alles in ihr und um sie schien jubelnd mitzusingen, von einem seligen Glücke, das sie bis dahin kaum geahnt hatte. Auf einmal aber, mitten in dieser berauschenden Musik, erhob sich eine andre Stimme – Brunos Stimme: »Geh nicht von mir, Minna. Bleibe nur, solange ich lebe, bei uns!«

Unwillkürlich faltete sie die Hände, als müsse sie damit Mut gewinnen. Vor ihr lag ein großes, reiches Glück, aber sie durfte die Hand nicht danach ausstrecken. Sie hatte Pflichten zu erfüllen; ihr kranker Liebling hatte ein näheres Anrecht an sie, als der fremde Mann, den sie in ihrem Leben noch kaum gesprochen hatte und dem sie doch so gern gefolgt wäre. Diese Gedanken kamen nicht allmählich, sie standen plötzlich vor ihr wie Richter über Leben und Tod, und sie beugte sich vor ihrer Macht.

Es waren nur wenige Augenblicke vergangen. Minna erschien's, als habe sie eine endlose Zeit durchlebt; auch dem Baron kam sie lange vor, und ihr Schweigen fing an, ihn zu ängstigen. »Sie antworten nicht, Fräulein Minna, haben Sie mir gar nichts zu erwidern?«

Zaghaft schlug sie die Augen auf; ihre Stimme bebte, aber ihr Wille war fest. »Sie müssen mir verzeihen – meine Antwort ist anders, als Sie erwarten – aber, ich ... es muß gesagt werden – ich kann jetzt nicht glücklich sein – ich muß bei Bruno bleiben; ich glaube, es würde ihn töten, wenn ich von ihm ginge.« – Und mit einem rührend flehenden Tone wiederholte sie: »Ich kann nicht.«

Diese Antwort hatte er nicht erwartet. »Vielleicht wird sie einwenden, daß sie mich noch zu wenig kennt,« hatte er schnell überlegt, und ein solches Hindernis kam ihm nicht gerade unüberwindlich vor; auf eine Ablehnung aber hatte er sich nicht gefaßt gemacht. »Sie liebt einen andern, der Bruder ist nur ein Vorwand,« durchfuhr's ihn. Er sprang auf, aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen. »Ich verstehe,« sagte er, »und so muß es wohl ertragen werden. Leben Sie wohl.«

Auch Minna stand auf. Sie wollte gern ihrer Ablehnung noch ein Wort hinzufügen, aber ehe sie sich nur besonnen, was sie sagen könnte, war er schon fort. Sie sah mit tränenumflorten Augen, wie er sein Pferd bestieg und, ohne sich noch einmal umzusehen, davonsprengte.

»Er hat mir nicht geglaubt,« schluchzte sie, und einen Augenblick packte sie ein Schmerz, als entflöhe mit dem davonsprengenden Reiter ihr Glück.

Längst hatte sich der von den Hufen aufgewirbelte Staub auf der Straße und dem Feldrain wieder herniedergesenkt – aber noch immer stand Minna bewegungslos.

Alles war so unerwartet, so plötzlich, und doch mit einer so furchtbaren Gewalt auf sie eingestürmt; sie fühlte sich wie gelähmt von dieser Erschütterung. Endlich besann sie sich, daß es nun wohl Zeit wäre, zurückzukehren; sie hob das Buch auf, das herabgeglitten war, ohne daß sie es bemerkte, und schickte sich an, heimzugehen.

»Es ist ja alles, wie es gewesen ist,« dachte sie, »es hat sich nichts verändert; es ist wie ein Gewitter über mich hereingebrochen und hat mich erschreckt, aber das wird ja vorübergehen – es muß vorübergehen.« Und während sie langsam und müde den Parkweg entlang ging, floß Träne auf Träne über ihre Wange, ohne daß sie es fühlte.

»Ach, was für ein selbstsüchtiges Geschöpf ich bin,« dachte sie. »Ich sollte mich freuen, daß der Ärmste endlich von dem Gefühl seiner Schuld erlöst ist. Gott gebe ihm alles, alles Gute – und auch eine Frau, die ihn liebt und versteht – ach ja, auch eine Frau,« fügte sie in Gedanken noch einmal hinzu und seufzte. Als aber durch die Büsche die fröhlichen Stimmen der Kinder herüberschallten, blieb sie erschreckt stehen. »Nein, ich kann jetzt nicht zu ihnen gehen, nein, das ist unmöglich.« Sie nahm einen Umweg und huschte ins Haus. Die Jungfer begegnete ihr. »Lotte,« sagte Minna, »wenn jemand nach mir fragt, sagen Sie, ich hätte ein wenig Kopfweh.« Und dann errötete sie über diese kleine Notlüge, aber es wollte ihr nichts Besseres einfallen.

In ihrem Zimmer verschloß sie die Tür, setzte sich an das offene Fenster und nahm sich vor, alles noch einmal ruhig zu überdenken; sie wollte prüfen, ob sie recht gehandelt habe. »Denn wenn ich recht gehandelt habe, muß ich mich doch auch glücklich fühlen,« dachte das gute Mädchen. Aber sie fühlte sich durchaus nicht glücklich, nicht einmal befriedigt. Sie wollte nachdenken, aber es war gerade, als wolle man zu dem Strome sagen: stehe doch ein wenig still, und zu dem Sturme: sachte, sachte, ich will dich ja prüfen. In das Denken war keine Ruhe und Ordnung zu bringen. Wild wogten die Vorstellungen durcheinander und benahmen ihr fast den Atem, keine ließ sich festhalten; hier auftauchend stürzten die Gedanken dort schon im Strudel weiter, und neue, ganz unbekannte Vorstellungen zogen dabei durch ihre Seele.

Sie schreckte auf; es wurde leise an die Tür geklopft. »Minna, bitte, laß mich ein; ich ängstige mich zu Tode, wenn ich nicht sehe, wie dir's geht; du hast ja niemals Kopfschmerzen.«

Minna schloß auf; Adele trat ein und sah sie mit ihren scharfen hellen Augen an. »Du hast was, Minna; nicht Kopfschmerzen, ganz etwas andres. Ist von Papa ein Brief gekommen?«

»Nein,« – Minna war unter Adelens prüfendem Blicke errötet – »ich habe weder von Papa, noch von Tante, noch von sonst jemand einen Brief erhalten.«

Die Versicherung war glaubwürdig.

»Dann verstehe ich diese Kopfschmerzen einfach nicht. Launen hast du ebenfalls nie gehabt; also was soll's denn heißen, daß du in der Stube bleibst und wie eine nervöse Dame Kopfschmerzen heuchelst?«

Minna machte eine Anstrengung, dem Sturm in ihrer Seele Ruhe zu gebieten: »Es ist mir jetzt wohler; ich komme gleich.«

»Gleich?«

»Ja, ich gehe mit dir; aber ich bitte dich, mache kein Wesen davon und bring's nicht unter die Leute, daß ich auch einmal eine Stunde habe allein sein wollen.«

»Nur eine Stunde? Du bist ja vor zwei oder drei Stunden allein in den Park gegangen. Na, etwas ist los,« und in Gedanken setzte sie hinzu, »und ich bekomm's auch heraus.« Dann schien sie auf einmal zu begreifen und rief lebhaft: »Hallo! Das Picknick! Du hast dir ja von Herrn von Weber rasend den Hof machen lassen. Oho, nun verstehe ich, daß du ...«

»Wenn du dir solchen Unsinn in den Kopf setzest, und vielleicht den andern auch noch, so bleibe ich hier und schreibe an Papa ...«

»Ich rede kein Wort! Ich schwöre dir, Minna, das Geheimnis bleibt unter uns.« Und mit diesen Worten wollte ihr das lose Mädchen entschlüpfen; aber Minna erfaßte ihre Hand.

»Adele,« sagte sie sehr ernst, »bei allem, was mir heilig ist, versichere ich dir, daß mir alle diese Herren ...«

»Alle Herren in der ganzen Welt?« fragte Adele mit schalkhaft blinzelnden Augen.

Es war Minna sehr unbequem, daß sie vor diesen Augen erröten mußte. »Ich habe nur von den Herren reden wollen, mit denen wir auf dem Picknick gewesen sind; aber wenn es dir lieb ist, oder dich beruhigt ...«

»Herrgott, Minna, ich bin ja selig, wenn du einmal heiratest. Du wirst doch nicht aus lauter Tugend eine alte Jungfer werden wollen?«

Die Worte trafen die arme Minna schmerzlich; wie tief sie trafen, ahnte Adele nicht. Ohne Antwort lief Minna hinaus und die Treppe hinunter, um nur diesem kleinen boshaften Mädchen zu entfliehen.

Im Familienkreise aber zeigte sich Adele taktvoll genug, keine Anspielungen zu machen; das heißt mit Worten, denn ihre Blicke wollten Minna durchaus nicht gefallen.

Adele hatte aber zum Glück nicht den geringsten Verdacht, daß es eine Unterredung mit Baron Neitung gewesen war, die Minna erregte, und als nun Graf Zarnikow mit teilnehmender Freude berichtete, auf welche Weise der Baron von seiner Schwermut geheilt worden wäre – was er durch Zufall soeben erfahren hatte –, horchte Adele wie alle übrigen mit großer Spannung dem Berichte, und Minna entging der Beobachtung.

Als Minna an diesem Abend neben Brunos Bett kniete und wie immer das Abendgebet mit ihm sprach, dachte sie: »Ach, wie gut, mein Liebling, daß du nichts ahnst von dem Opfer, das ich dir heute gebracht habe!«


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