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8. Eine geheimnisvolle Persönlichkeit taucht auf.

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Nach dem Mittagessen unternahm Minna mit ihren Geschwistern jeden Tag einen Spaziergang. Bei nassem und rauhem Wetter blieb es Bruno versagt, sie zu begleiten. Adele wollte auch finden, daß die kalte Luft ihrem Teint schädlich wäre; aber es half ihr nichts; trotz Wind und Wetter mußte sie hinaus.

Diese Spaziergänge waren Minnas Erholung, und wenn's recht stürmte und schneite, schienen sie und Ella ein ganz besonderes Vergnügen zu empfinden. Während Adele trotzig und teilnahmlos neben ihnen herging, liefen die Älteste und die Jüngste auf der um diese Zeit ganz unbelebten Landstraße um die Wette und kehrten mit geröteten Wangen zu dem armen Bruno zurück, der ihnen nicht zu folgen vermochte. Minna blieb dann an seiner Seite und wußte immer irgend etwas Lustiges zu sagen, worüber Bruno herzlich lachen mußte.

Ein Hauptspaß war es für sie, sich mit Schneebällen zu werfen. Adele rümpfte freilich ihr Näschen, tat beleidigt und wollte sich stellen, als ob sie zu der ausgelassenen Gesellschaft gar nicht gehörte; aber die andern ließen sich ihre Winterlust nicht stören.

Einmal aber passierte es doch, daß ein Schneeball, den Ella für Minna bestimmt hatte, durch das offene Fenster einer sehr eleganten Equipage fuhr.

Sogleich bogen sich die Darinsitzenden heraus. Eine tiefverschleierte Dame drohte Ella – lächelnd, wie es schien – mit dem Finger, während diese lebhaft rief: »Aber ich hab's nicht mit Willen getan!«

Nach der andern Seite, wo Minna und Adele standen – Minna schuldbewußt mit dem eben aufgerafften Schnee in der Hand – saß ein Herr, der mit spöttischem Lächeln, so kam's den erschreckten Mädchen wenigstens vor, höflich grüßte. Dann war der Wagen vorübergerollt.

Das kleine Abenteuer beschäftigte die junge Gesellschaft; es wurde Bruno erzählt, der sie nicht begleitet hatte, ja auch den Fräulein Karlings, die diesen Nachmittag erschienen, um einen Besuch zu machen.

»Das war Er!« rief Aurora geheimnisvoll.

»Aber wie wollen Sie den Herrn erkennen?« fragte Minna lachend. »Ich habe ihn ja nicht beschrieben. Ich könnte ihn kaum beschreiben, denn ehe ich ihn nur angesehen hatte, war er auch schon vorüber.«

»Es war doch kein alter Herr?« forschte Aurora.

»Er hatte weder eine Glatze noch weißes Haar.«

»Schwarz – das genügt,« ergänzte Aurora.

»Und die Dame war verschleiert?« rief Rosamunde mit ungewohnter Lebhaftigkeit. »Sie geht ja immer verschleiert, die Unglückliche.«

»Aber sie ist schön, sie soll am Hofe in Berlin eine der größten Schönheiten gewesen sein.«

»Seine Frau?« fragte Minna; die Geschichte fing an sie zu interessieren.

»Nein, seine Mutter – seine unglückliche Mutter!« versetzte Rosamunde.

»Was hat der Unglückliche denn verbrochen?«

»Es klingt unglaublich!« berichtete Aurora mit Behagen. »Vielleicht ist in der alten Geschichte einmal etwas Ähnliches passiert; aber jetzt, wo selbst die ärmsten Menschen etwas Bildung haben, kommt so etwas nicht mehr vor.«

»Aber so sagen Sie doch endlich, was der Mann getan hat?«

»Sie werden es vielleicht nicht glauben wollen, aber es ist verbürgt. Er hat seinen eignen Vater erschossen!«

»Aber wie darf er dann frei umhergehen?« fragte Minna entsetzt. »Wie darf er spazieren fahren?«

»Er trägt ja einen Strick um den Hals. Aber es konnte ihm nichts bewiesen werden. Er hat das Entsetzliche auf der Jagd getan.«

»Wie heißt denn das Ungeheuer?« fragte Bruno mit leisem Schauder.

»Baron Egon von Neitung,« versetzte Aurora wichtig. »Er besitzt große Güter hier in der Nähe und soll unmenschlich reich sein. Aber das Gewissen läßt ihm keine Ruhe; er lacht niemals – nicht wahr, er hat nicht gelacht, als er Sie grüßte?«

»So ein bißchen spöttisch,« meinte Adele.

»Nun ja, spöttisch – wie Mephistopheles. Sie haben doch den Faust gelesen?« fragte Aurora überlegen.

Nein, den Faust hatten Uslars noch nicht gelesen; übrigens interessierte er sie jetzt auch viel weniger als dieser Baron Neitung, der seinen Vater auf der Jagd erschossen, der sich mit seiner Mutter auf seine Güter zurückgezogen hatte, und der niemals lachte, weil ihm sein Gewissen keine Ruhe ließ. Wer hätte geahnt, daß sich bei dem prosaischen Tarnowitz, wo den ganzen Tag die Dampfmaschinen schnaubten und Eisenhämmer donnerten – eine so schreckliche und doch so interessante Persönlichkeit aufhielt! Auch die Uslars waren jetzt überzeugt, daß ›Er‹ es gewesen, der sie aus dem Wagen gegrüßt hatte. Aurora und Rosamunde beneideten sie sichtlich um das Abenteuer. »Wir würden ihn natürlich sofort erkannt haben,« behauptete Aurora.

»Sie haben ihn schon früher gesehen?« fragte Minna.

»Ach, er läßt sich ja nirgends sehen und geht zu niemand; aber wenn man soviel von einem Menschen hört, macht man sich doch eine Vorstellung von ihm.«

»Wir sind auch im vergangenen Sommer einmal in dem Park von Doszek gewesen, der sich meilenweit um das alte Schloß ausdehnt,« berichtete Rosamunde. »Wir wünschten furchtbar« – schlesischer Ausdruck für ›sehr‹ – »ihn zu sehen, oder wenigstens die schöne Mutter.«

»Aber natürlich konnten wir nicht die Nacht über bleiben, und er geht nur nachts spazieren. Die Mutter spielt dann die Harfe; schlafen können sie ja doch nicht.«

»Aber sehr wohltätig sind sie,« erzählte wieder Rosamunde.

»Das ist ja selbstverständlich; wenn man so etwas Entsetzliches begangen hat, dann ist man immer wohltätig,« rief Aurora.

Die Persönlichkeit dieses geheimnisvollen Barons beschäftigte die junge Gesellschaft ausschließlich; sie konnte nicht recht begreifen, daß Herr Uslar den Bericht der Fräulein Karlings nicht ganz glaubwürdig fand, und sie feierte ordentlich einen Triumph, als Herr Uslar, nachdem er sich bei einigen Herren nach dem Baron Neitung erkundigt hatte, die Hauptsachen bestätigt fand. Der Baron wohnte erst seit dem Herbste des vergangenen Jahres mit seiner Mutter auf einem ihm durch Erbschaft zugefallenen Gute in der Nähe; er verkehrte mit niemand und war schwermütig über den Tod seines Vaters, den er auf der Jagd erschossen haben sollte. Näheres war über das traurige Ereignis nicht bekannt.

Bald darauf aber wurde dieser schwermütige Baron aus Minnas Gedanken verdrängt durch Frau Rosine, die sie mit geheimnisvollem Winken und Flüstern hinüberrief. Dort fand sie den guten Rendant mit Stemmeisen und Hammer bewaffnet, wie er keuchend vor Anstrengung den Deckel einer Kiste sprengte. Es war die Weihnachtskiste der Großtante, die an Frau Rendant adressiert war; zugleich wurde in einem Begleitbriefe die Bitte ausgesprochen, das älteste Fräulein Uslar allein von der Ankunft der Kiste zu benachrichtigen.

Was für herrliche Sachen kamen da zum Vorschein! Aber während Frau Rosine und ihr lieber Mann bewunderten, wurde Minna immer betrübter.

»Tante ist sehr gütig,« sagte sie, »aber was fangen wir mit den eleganten Sachen an? Wir haben hier doch gar keine Gelegenheit, solche weiße Atlaskapotten mit Schwanbesatz zu tragen! Unsre Pelzsachen sind auch vollständig gut genug für unsre einsamen Spaziergänge. Diese Muffe von teuerm Nerz sind für uns ganz überflüssig. Ich schmeichelte mir, daß die Meerkatz Tante bestimmen würde, mir Geld zu schicken. Damit hätte ich jedem kaufen können, was er braucht und sich wünscht.« Minna zerdrückte eine Träne; sie fühlte, daß sich der Vater, wenn sie diese Kostbarkeiten unter dem einfachen Tannenbäumchen ausbreitete, gekränkt fühlen müßte.

»Wollen Sie man nicht erst das Briefchen von Frau Generalin Exzellenz lesen?« mahnte der Rendant.

Minna errötete; sie hatte den Brief der Tante ganz übersehen. Als sie ihn gelesen hatte, mußte sie doch lachen. »So ist die Tante; daran erkenne ich sie wieder, die gute, alte Frau. Wenn sie spazieren fährt, liebt sie es, bei den elegantesten Läden zu halten. Die Leute kennen ihre schwache Seite und legen ihr die verlockendsten Sachen vor; sie kann nicht widerstehen und denkt: ›das wäre ja für meine Nichten.‹ Die Meerkatz bittet und zankt – nichts hilft mehr. Kommt sie mit ihren Schätzen aber nach Hause, dann merkt sie, daß sie einen dummen Streich gemacht hat. ›Was soll ich nun mit dem unnützen Kram anfangen?‹ schreibt sie mir. ›Vielleicht weißt Du es; Du bist ja ein verständiges, und wie ich glaube, jetzt auch ein sehr praktisches Mädchen.‹«

»Scheint man ein Wink mit dem Laternenpfahl,« versetzte Grimmel.

»Wie meinen Sie das?« fragte Minna erstaunt.

»Da hast du wieder mal den Nagel auf den Kopf getroffen, Grimmel,« rief Frau Rosine. »Sehen Sie nicht, mein Herzchen, daß die Frau Tante damit sagen will, Sie möchten Sachen, die für Sie absolutement unbrauchbar sind, verkaufen und von dem Geld Dinge anschaffen, die Sie brauchen?«

»Verkaufen? Geschenke verkaufen, Frau Rendant?« Minna errötete tief; sie fühlte sich verletzt.

»Wollen Sie man nicht den andern Brief lesen?« fragte wieder Grimmel und überreichte Minna den der Gesellschafterin. Fräulein von Meerkatz sprach sich deutlicher aus. Mit vielen Anspielungen auf die gute Generalin, die einmal unverbesserlich wäre, erklärte sie ganz einfach, Minna müsse ihrem zarten Empfinden einen Stoß geben und zusehen die Sachen loszuschlagen, wobei Frau Rendant ihr gewiß einen guten Rat geben würde.

»Ich weiß, wie wir's anfangen!« rief Frau Rosine eifrig. »Die Karlings wollen gar zu gern die vornehmen Damen spielen, aber sie haben keinen Geschmack. Wenn ich ihnen nun sage, diese Sachen hätte Exzellenz von Cronitz für Fräulein Uslars gekauft ...«

»Aber, Frau Rendant, sollen es denn alle Leute erfahren, daß wir die Geschenke unsrer Tante verkaufen?«

»Wenn ich's den Karlings auch nicht sagte – so errieten sie's ja doch, und wegen der Exzellenz bezahlen sie gleich noch einmal so viel: den Fremden aber erzählen sie lieber, daß sie sich die Sachen direkt aus Berlin verschrieben hätten; darauf können Sie sich verlassen.«

»Wie gescheit Sie sind, liebe Frau Rendant! Nun, so muß ich's Ihnen doch überlassen und an nichts andres denken, als wieviel Freude ich mit dem erlösten Gelde machen werde.«

Sie wählte nun die Sachen aus, die Bruno, Adele und Ella erfreuen konnten, selbstverständlich auch die wollenen Strümpfe, die die gütigen Geberinnen selbst gearbeitet hatten, und überließ die kostbaren Gegenstände Frau Rosinens praktischem Geschick.

Triumphierend zählte Frau Rosine schon am andern Tage der glückstrahlenden Minna zweihundert Mark auf. Nun war sie reich! Nun konnte sie alle Pläne ausführen. Noch an demselben Abend schrieb sie der Tante, wie sie ihren Rat befolgt hätte und welch eine herrliche Bescherung sie ihrer Güte zu danken haben würde.

So lustig und übermütig und zugleich so geheimnisvoll in ihrem Tun hatten die Geschwister ihre Minna doch noch nicht gesehen. Frau Rosine spielte dabei eine große Rolle; sie sah ungeheuer wichtig aus, wie sie Minna zu einem Gang nach der Stadt abholte. Als sie aber heimkehrten – hielt die Droschke drüben bei Grimmels. Bruno und Ella strengten ihre Augen an, doch bei der Dunkelheit war nichts zu unterscheiden; nur Minna kam über den Hof gesprungen, lustiger und geheimnisvoller als je.

Selbst an den Weihnachtsvorbereitungen nahm Adele keinen Teil. Minna hatte ihr eine kleine Summe einhändigen wollen, aber Adele erklärte, in einem so elenden Neste gäbe es ja doch nichts Geschmackvolles zu kaufen; entweder wolle sie Weihnachten glänzend wie früher oder gar nicht feiern. Minna verlor die Geduld, sagte ihr ein paar heftige, unfreundliche Worte und überließ das arme Kind dann seinen verkehrten, traurigen Gedanken.

Zu einem richtigen Feste gehört nach alter Sitte, wie Frau Rosine gesagt hatte, auch ein Scheuerfest, denn das ganze Haus müsse sich auch äußerlich dazu schmücken. Was aber Frau Rosine sagte, wurde befolgt. Minna, um das schöne braune Haar ein Tuch gelegt, unter dem sich kleine, widerspenstige Löckchen hervordrängten, eine große Schürze vorgebunden, half wie eine kleine Scheuerfrau und fürchtete sich vor keiner Arbeit. Ella war prächtig dabei zu benutzen; flink wie ein Wiesel, griff sie alles verständig an, und was das beste war, sie hatte den guten Willen, sich hilfreich zu erweisen. Adele aber floh vor Seife, Wasser und Bürsten in den hintersten Winkel und war nahe daran, ihre Schwestern zu verachten.

Als nun alles so blank und sauber war, frische Vorhänge an den Fenstern aufgemacht und grüne Tannenreiser um das Bild der Mutter, das die Öldruckbilder doch verdrängt hatte, geschlungen waren, da gestand sich Minna, daß ihr diese Stuben jetzt einen ganz behaglichen, wohnlichen Eindruck machten.

»Du hast eben jetzt nur noch den Geschmack einer Scheuerfrau,« bemerkte Adele spitz.

Nun aber kam noch ein Hauptvergnügen – das Stollenbacken. Frau Rosine übernahm es, obgleich sie selbst alle Hände voll zu tun hatte, denn ihr einziger Sohn Otto, Gymnasiast in Beuthen, wurde erwartet.

Früh am Morgen, als es noch ganz dunkel war, kam sie schon herüber. Die Ärmel aufgestreift, mit mehlbestäubter Schürze, stand sie vor dem Backtrog, und während sie rührte und knetete, kommandierte sie: »Butter – Zucker – jetzt die Rosinen! – O, ihr Neugiersbraten, wollt ihr die Nasen in den Teig stecken?«

Diese Anrede galt den jüngsten Uslars, die sich immer näher gedrängt hatten; sie fanden das Stollenbacken ungeheuer interessant. Als gar am Nachmittag der Bäckerjunge erschien, auf dem Kopf ein großes Brett mit den lieblich duftenden Stollen – da erfüllten sie mit ihrem Jubel das ganze Haus.

Zum erstenmal empfand Minna den ganzen Stolz einer guten Hausfrau, wenn sie in ihre so reichgefüllte Speisekammer trat. Da standen die dick mit Zucker bestreuten Stollen, ein Korb rotbackige Äpfel und große gelbliche Nüsse, da lag die geschlachtete fette Gans, daneben der Karpfen für den heiligen Abend, da stand eine Schüssel voll Mohnklöße, ohne die ein guter Schlesier keine Weihnachten feiert. Und an der Wand hing noch die schöne Garnitur von Würsten, Schinken und Speckseite von dem geschlachteten Schweinchen.

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»Jetzt die Rosinen ...«


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