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3. Kandu

Die Gewalt der Maya spielt am greifbarsten mit dem Element der Zeit. Bald bläht sich der Bruchteil eines Augenblicks zum Bersten vor Schicksalsfülle, bald schleicht sie im breiten Bett des Stroms mit dünner Strähne, ein Untertauchen – eine Lebensspanne. Was spannt den Raum zwischen zwei Atemzügen zur Länge eines Lebens, das von Lust und Kummer überfließt? Es ist das Ich, das sich an sich selber hält, indem es, was ihm innen und außen zufließt, sich zueignet und festhalten möchte. Wenn es sich selbst verliert, schwindet die Zeit, und ihre gelassene Breite schmilzt zusammen in blitzende Augenblicke. Es bedarf keiner überweltlichen Weisheit, um das zu erfahren; das wissen schon die Liebenden. Ineinander sich verlierend gehen sie nicht bloß der Welt verloren, aber auch jedes sich selber, wenn sie ganz im anderen verfließen und immer wieder mit ihrem Ich und Du in das Eine verschmelzen, das beide auslöscht. Das ist die natürliche Einweihung durch Eros, der nach griechischer Götterlehre neben anderen auch der »älteste der Götter« heißt. So sehen auch die Veden seinen indischen Bruder Kama als erste der göttlichen Gewalten an, die sich greifbar und benennbar aus der undurchdringlichen Flut des Anfangs hob. Lust und Verlangen des Lebens zu sich selbst war die erste Regung des anfänglichen Einen, das dunkel in Dunkel gehüllt bei sich selber glühte und über sich hinaus zur Weltgeburt drängte; Lust und Verlangen war der erste Samen, der ihm entfloß, um das Denken aufzubauen, mit dem das Ich sich selber in Bewußtsein faßt. Die Liebenden wiederholen das Weltschöpfungsgeschehen, aus ihrer Umarmung soll ja ein neuer Weltleib im kleinen entstehen, ein neuer Äon im Leben des Kindes anheben. So sinken sie auf Augenblicke vor die Grenze zurück, an der Ich und Zeit anhoben – aber nicht viele begreifen die Einweihung, die der Liebesgott ihnen dabei nahebringt, sie halten sich an die Lust, die er schenkt. Vielleicht muß einer schon unwillkürlich oder um sie ringend auf dem Wege zu Heiligkeit und Erkenntnis sein, wie der heilige Kandu, von dem ein Mythos erzählt, um das geheime Geschenk ergreifen zu können, das der Gott mit seinen versehrenden Blumenpfeilen sendet.

Der Einsiedel Kandu hauste am Ufer der Gomati, des »Kuhflusses«. Seine Stätte war heilig und rein, menscheneinsam und herzerfreuend, das Ufer trug Wurzeln, Knollen und Früchte in Fülle und gab ihm Brennholz, Blumen und Gras für Opfergaben und Opferstreu. Das Dickicht von vielerlei Bäumen und Schlingpflanzen scholl vom Ruf vieler Vögel, allerlei Tiere hausten in Rudeln bei der Einsiedelei, die von Blüten und Früchten aller Jahreszeiten überquoll. Dort glühte der Heilige in wunderbar mächtiger Glutgewalt mit Gelübden, Fasten und Entsagungen, mit strengen Observanzen von Baden und Schweigen. In der heißesten Sommerzeit setzte er sich fünffacher Glut aus, saß in der Mitte von vier Feuerbränden und ließ die Sonne als fünften auf sich niedersengen, in der Regenzeit schlief er auf der nassen nackten Erde, im Winter aber sammelte er übermächtige Glutkraft der Askese, indem er in nassem Gewande, das vom Bad im Flusse troff, der Kälte trotzte.

Götter und selige Geister, Vollendete und Verklärte im Himmel waren voll hohen Wunderns, als sie sahen, wie stark die Glut dieses Heiligen war. Kandu setzte Erde, Luftraum und Himmel – alle drei Welten versetzte der Asket in Glut mit der Kraft seiner Glutgewalt. »Oh, seine ungeheure Festigkeit, oh, seine ungeheure Glut!« riefen die Götter, als sie ihn in sich glühend stehen sahen. Da kamen sie beim Könige der Götter zusammen und ratschlagten voll Eifers untereinander, sie hatten Angst vor dem Heiligen, er könnte mit seiner übermenschlich gestauten Kraft den Göttern gefährlich werden und ihr ordnendes Walten im Weltall verstören. Ganz außer sich verlangten sie, seiner Askese Abbruch zu tun.

Als der Götterkönig Indra, der Herrscher der drei Welten, ihre Absicht erfuhr, wandte er sich zu einem himmlischen Weibe in seinem Thronsaal. Denn gern zerstört er die Frucht solcher Askese, die dem Menschen gottgleiche Kräfte schenkt. Pramlotscha hieß das Weib und war von herrlichem Wuchs, prahlend mit Gestalt und Jugend. Schlanken Leibes, mit weichen Schenkeln und vollen Brüsten trug es alle Zeichen der Schönheit an sich. Indra sagte: »Geh schnell hin, Pramlotscha, wo jener Heilige Glut in Askese häuft, und stürz ihn geschwind in Wirrsal, du Strahlende, daß sein Glühen in Askese gestört werde!« – Aber Pramlotscha hatte Angst vor dem glühenden Heiligen, daß er ihre Absicht durchschaute, ihrer Versuchung widerstände und sie für ihre Kühnheit verfluchte. Sie sprach: »Dein Wort, höchster der Götter, vollbringe ich immerdar! Aber hier, o Herr, bin ich bang und sorge um mein Leben. Ich fürchte den hohen Heiligen, der in der Ordnung keuschen Brahmanwandels steht. Überfurchtbar ist er in seiner flammenden Glut, der strahlenden Sonne gleich an stechendem Glanz. Wenn mich Kandu erkennt, daß ich gekommen bin, ihn zu verstören, wird er voll höchster Strahlenglut im Zorn einen Fluch über mich sprechen, der schwer zu tragen sein wird.« Und sie wies auf andere Himmelsfrauen: »Sie brüsten sich mit Jugend und Gestalt, ihre Leibesmitte ist schön, und ihr Gesicht ist reizend, ihre Brüste sind voll und steil, sie sind geschickt, Liebe einzugeben – gib ihnen diesen Auftrag!« – Aber Indra entschied: »Die anderen sollen bleiben – du gerade bist zu diesem Amt geschickt. Ich gebe dir den Liebesgott, den Lenz und den Wind zu Gefährten. Geh mit ihnen, du Schönhüftige, hin, wo der Heilige weilt.«

Die Feinäugige hörte Indras Wort, da ging sie mit ihren Gefährten über den Pfad des Himmelsraumes hin zur Einsiedelei Kandus. Sie kam und sah den schönen wilden Wald, und sah den Heiligen in flammender Glut, fleckenlos stand er in seiner Einsiedelei. Sie schritt mit ihren Gefährten dahin, streifte durch den Wald und betrachtete ihn in all seiner Pracht, er glich dem Götterhaine »Lust«, wie er von Blüten aller Jahreszeiten überquoll, von Affenherden wimmelte und rings erklang von den Stimmen der Vögel. Dem schönen Weibe blühten die Augen weit auf vor Wundern, und es sprach zu den drei Gefährten Wind, Liebesgott und Lenz: »Nun steht mir bei ihr drei, ein jeder nach seiner Art!« – Und die drei Götter antworteten ihr: »Ja!« Da hub sie wieder an: »Nun will ich hingehen, wo der Heilige weilt, nun will ich diesen Bezwinger seines Leibes, der die Hengste seiner Sinne gezügelt hat, in einen schlechten Rosselenker wandeln, dem die Zügel hinfallen, vom Pfeil des Liebesgottes zerschnitten. Und wäre er Brahma selbst, oder Vischnu, der Quäler der Menschen, oder der schwarzrote Schiva – doch werd' ich nun sein innerstes mit dem Pfeile der Liebe zerfleischen!«

Sprach's und schritt hin, wo der Heilige weilte – zu seiner Einsiedelei, bei der die wilden Tiere, von der Glutgewalt des Heiligen gebändigt, friedlich miteinander lebten. Am Ufer des Stromes, das der Gesang des Kokil mit seiner Süße erfüllte, blieb sie stehen. Einen Augenblick stand sie still, dann hub die herrliche Himmelsfrau zu singen an. Da entfaltete der Lenz mit einem Male seine Macht, süß mit den Rufen des Kokil, unzeitig und sinnberückend. Und der Wind begann zu wehen, der in den Malayabergen des Südens seine Heimat hat, und brachte ihre Düfte mit sich und regnete frische Blumen, große und kleine, sacht hernieder. Und der Liebesgott mit den Blumenpfeilen trat dem Heiligen nahe und störte seinen Sinn auf.

Der Heilige vernahm den Schall ihres Singens. Da ward sein Sinn Wunderns voll, und, vom Pfeile des Liebesgottes versehrt, ging er hin, wo das Weib mit den schönen Brauen stand. Er sah sie und erschauerte vor Lust. Vor Wundern blühten ihm die Augen weit auf, sein Obergewand sank von ihm ab, er entglitt sich selbst, und die Haare an seinem Leibe sträubten sich vor Lust. Er sprach: »Wer bist du? Wem gehörst du an, Schönhüftige, Gesegnete, lieblich Lachende? Du raubst mir den Sinn, du mit den schönen Brauen. Sag mir die Wahrheit, Schlankleibige!« – Pramlotscha sagte: »Deine Dienerin bin ich, und um Blumen kam ich hierher. Weise mich flink an, was darf ich auf dein Geheiß verrichten?«

Als er diese Worte von ihr vernahm, ließ er verblendet sich seine Festigkeit entgleiten, er nahm das Mädchen bei der Hand und schritt mit ihm in seine Einsiedelei. Da gingen Liebesgott, Wind und Lenz selbander von dannen, wie sie gekommen waren, und kehrten in den Himmel der Götter zurück, da sie ihr Werk verrichtet hatten. Sie kündeten dem Götterkönige, was sie getan hatten; als Indra und die Götter es vernahmen, freuten sie sich und waren guter Dinge.

Kandu betrat mit der Frau die Einsiedelei; da schuf er sich selbst die allerherrlichste Gestalt, wie sie der Liebesgott trägt, voll Schönheit und Jugend, sinnberückend und mit himmlischem Schmuck geziert: die Gestalt eines Sechzehnjährigen in göttlichem Gewand, mit himmlischen Blumenketten, Düften und allem Liebreiz geschmückt – im Nu erschuf er sie sich aus der gesammelten Fülle seiner glühenden Kraft.

Als sie solche Kraft an ihm gewahrte, überfiel sie höchstes Wundern. »Oh, diese Kraft seiner Glutgewalt!« sprach sie bei sich selber und freute sich. Da ließ er hinfahren Baden und Andacht des Morgens und Abends, hinfahren das Flüstern heiliger Sprüche, die Opferspenden und das erinnernde Aufsagen seines heiligen Wissens und die Verehrung der Götter – hinfahren ließ er die Regel seiner Gelübde, seines Fastens und inneren Schauens, und gab sich selig Tag und Nacht mit ihr dem Liebesspiele hin.

Sein Herz war des Liebesgottes voll, da empfand er nicht das mähliche Schwinden seiner Glutgewalt, die er verschwendete, da gewahrte er nicht wie der Morgen dämmerte und wie der Abend dämmerte, gewahrte nicht Tag noch Nacht, nicht die Gezeiten des Monds, wie er wächst und schwindet; Monde und Jahreszeiten, steigende und fallende Sonnenzeit und die Jahre fühlte er nicht – nicht die fließende Zeit. So hing sein Herz an den Freuden der Sinne.

Aber sie, die Schlaue, hielt ihn im geheimen fest mit ihrem liebeentsprungenen Gebaren, sie verstand sich auf zärtliche Worte. So blieb Kandu mit ihr über einhundert Jahre vereint – der Heilige ganz dem Liebesbrauche hörig.

Da sprach sie zu dem Großmächtigen: »Ich möchte in den Himmel gehen, das sollst du mir in Gnaden gewähren.« – So sagte sie zu ihm, aber der Heilige war ihr in seinem Sinne ganz verfallen: »Ein paar Tage noch, Liebste, bleib bei mir!« gab er zur Antwort. Da er so zu ihr redete, genoß die Schlanke abermals über ein volles hundert Jahre die Freuden der Sinne mit dem Gewaltigen. Dann fing sie wieder an: »Gib mir Urlaub, Erhabener, ich will zur Wohnung der Götter gehen.« Und wieder antwortete er: »Bleib!«

Als abermals über hundert Jahre vergangen waren, sprach das Weib mit dem reizenden Antlitz und strahlte dabei vom Lächeln der Liebe: »Ich gehe zum Himmel, Brahmane.« Aber er gab ihr zur Antwort: »Bleib hier bei mir, du mit den schönen Brauen! Du wirst noch lange nicht gehen.« – Die Schönhüftige fürchtete seine Verwünschungen, wenn sie seinen Unwillen weckte, und blieb weiter bei dem Heiligen: um ein Geringes weniger als zweihundert Jahre. Dann sprach sie dem Großmächtigen wieder davon, zum Hause des Götterkönigs zu gehen; er aber antwortete ihr nur: »Bleib!«

Sie war in Angst, er werde sie verfluchen, und in Willfährigkeit war sie ihm liebevoll bereit; sie fühlte das Leid, das im Bruch der Liebe läge, darum verließ sie den Heiligen nicht, als er so zu ihr sprach. Und wie der Heilige so Tag und Nacht mit ihr in Liebe verbrachte, ward seine Zärtlichkeit neu und immer neu, so war sein Sinn von Liebe erfüllt.

Einmal aber trat der Heilige hastig aus der Hütte, und wie er hinausschritt, sagte die Schöne zu ihm: »Wo gehst du hin?« Und er antwortete ihr: »Der Tag hat sich geneigt, du Schöne, ich will die Abendandacht begehen, sonst gibt es eine Lücke in meinem frommen Werk.«

Da lachte sie hellauf und fragte den großen Heiligen fröhlich: »Hat sich dir jetzt der Tag geneigt, du Alleswissender in ewiger Ordnung? Wer sollte sich nicht wundern, wenn ihm das erzählt wird!«

Der Heilige sprach: »Am Morgen kamst du, Liebe, zum schönen Ufer dieses Stromes, da sah ich dich, Schönhüftige, und du kamst in meine Einsiedelei. Nun breitet sich die Abenddämmerung, und der Tag ist zur Neige gegangen – was soll dein Spott? Sag mir, was wirklich ist?«

Pramlotscha sprach: »Am Morgen kam ich, Brahmane – das ist wahr und dünkt mich nicht falsch. Aber jetzt sind seit jenem Augenblick Hunderte von Jahren dir vergangen.«

Da befiel den Brahmanen ein jäher Schrecken, und er sprach zu der Frau mit den langgeschweiften Augen: »Sag mir, du Zage, wie lange Zeit hab' ich mit dir immerwährend geliebt?«

Pramlotscha sprach: »Neunhundert Jahre und sieben darüber, dazu sechs Monde und noch drei Tage.« – Da sagte der Heilige: »Sprichst du die Wahrheit, Zage, oder ist das Spott, du Schöne?« – Pramlotscha sprach: »Werde ich dir ins Angesicht, Brahmane, eine Unwahrheit sagen? gerade jetzt, wo du, der Spur nachgehend, mich fragst?«

Als der Heilige diese Worte von ihr vernahm, schalt er selbst seinen eigenen Fehltritt: »Fluch, Fluch über mich! Meine Glutgewalten sind zunichte! Dahin ist der Schatz des Wissens und das höchste ewige Brahman! Entrissen ist mir die Erkenntnis des Wahren! Irgendeiner schuf dieses Weib, mich zu verblenden. Im Siege über mich selbst wollte ich das höchste Göttliche, das Brahman, erkennen, das jenseits der sechs Wogen von Hunger und Durst, Alter und Tod, Leid und Verblendung west – Fluch dem reißenden Ungeheuer der Sinnenlust, das mich auf diesen Weg brachte! Mein Gelübde und alles heilige Wissen und alles, was ich vollbrachte, sind nun vernichtet durch die Sinnenlust, den gemeinen Pfad, der zur Hölle führt.«

So schalt der Heilige, ewiger Ordnung kundig, sich selbst und sprach zur Himmelsfrau, die da saß: »Geh, du Schlimme, wohin du magst. Was du vollführen solltest, hast du vollbracht. Mit Liebesgebärden hast du mich dem Götterkönig zu Gefallen aufgestört. Ich will dich nicht in Asche verwandeln mit dem stechenden Feuerblitz meines Zornes. Es heißt: Sieben Schritte mit Guten, sieben Worte mit Guten bedeuten Freundschaft – und mit dir habe ich zusammengelebt. Oder hast du schuld? Oder was täte ich mit dir? Mein ist die Schuld ganz und gar, daß ich meine Sinne nicht bezwang. Aber weil du, um Indra gefällig zu sein, meine Glutgewalt vernichtet hast, bin ich das große Blendwerk deines Anblicks leid.«

Während der Weise so zu der schlanken Frau sprach, überkam sie ein furchtbares Zittern, und es troff ihr der Schweiß. Er sah wie sie zitterte, und sah ihren lianenschlanken Leib von Schweiß triefen, und »Geh!« rief er voll Zorn: »Geh!«

So schalt der große Heilige sie, und sie verließ seine Einsiedelei. Sie schritt durch die Luft dahin und wischte sich den Schweiß mit den Zweigen der Bäume ab. Von Baum zu Baum ging die Junge und wischte sich mit den schlank aufragenden, rötlich frischen Schossen der Bäume ihre Glieder ab, von denen die Schweißperlen tropften. Da trat die Frucht, die sie zuvor von dem Heiligen in ihrem Leibe empfangen hatte, in Gestalt des Schweißes aus ihrem Körper hervor, indes sich die Härchen auf ihrer Haut sträubten. Die Bäume nahmen die Frucht von ihr, und der Wind brachte die Frucht in eins, der Mond nährte sie mit seinen Strahlen, und mählich wuchs sie heran und ward eine Tochter der Bäume. Marischa war ihr Name, sie hatte liebliche Augen. Sie wurde die Gattin der »Söhne des Weisen«, die Herrscher der Vorzeit waren, und ward die Mutter des göttlichen Ältervater Dakscha.

Auch der ehrwürdige Kandu ging von dannen, als seine Glutgewalt entschwunden war. Er ging zur Stätte Vischnus, die nach ihm »Höchstes Wesen« heißt. Er sah die heiligste Stätte am Ufer des südlichen Weltmeeres, die allen Wünschen Frucht schenkt und Erlösung verleiht, die auf Erden schwer zu finden ist.

Lieblich war sie, mit Hainen geschmückt, von Blumen und Schlingpflanzen bestanden, erfüllt von vielerlei Vogelruf. Glückverheißend war sie, allerwärts angenehm zu betreten, voll Blumen aller Jahreszeiten, den Menschen alles Glück schenkend, segenspendend war sie, eine Schatzgrube aller guten Eigenschaften. Bhrigu und andere hohe Heilige der Vorzeit hatten hier geweilt, und Verklärte, Himmelsgeister und andere Wesen, die nach Erlösung verlangten.

Dort schaute er Vischnu im Tempelbild, geziert von allen Göttern, die ihn umgaben, verehrt von Brahmanen und Leuten aller Kasten und Lebensalter. Schon als er die Stätte und das Bild »Höchstes Wesen« erblickte, fühlte der Heilige sich am Ziel seines Strebens. Er sammelte seinen Sinn in eine Spitze, richtete ihn auf Vischnu und brachte ihm seine Verehrung dar. Als Yogin, die Arme starr gen Himmel gereckt, stand er, seinen Geist in eine Spitze gesammelt, und flüsterte den Spruch vom »Anderen Ufer des Brahman«:

»Fernstes jenseitiges Ufer ist Vischnu:
Ufer der Uferlosen.
Ferner und höher als die Höchsten:
Höchstes Wesen ist seine Form.
Er ist Ufer des Brahman,
Fernstes Ufer ist er.
Er, der Herr, ist das Brahman,
Der Allwordene ist Brahman,
Der Unerschütterliche, der Herr der Geschöpfe ist Brahman.
Er, Vischnu, ist das unvergängliche Brahman,
Das ewige, ungeborene,
Unberührt von Verfall und allem Geschehn.

So wahr dieses höchste Wesen das nie zerschmelzende, ungeborene ewige Brahman ist, so wahr soll alle Leidenschaft und andere Unvollkommenheit an mir zur Ruhe eingehen.«

Als das höchste Wesen dieses Flüstergebet vernahm und Kandus grenzenlose Hingabe gewahrte, ward der Gott von höchster Liebe zu ihm erfüllt. Wer sich ihm ganz ergibt, den liebt er wie sein Kind. Vischnu nahte ihm, auf dem Sonnenvogel Garuda reitend – es war, als brächte er den Weltraum zum Erdröhnen, als der Herrlich-Erhabene mit tiefer Wolkendonnerstimme sprach:

»Heiliger, sag mir den höchsten Wunsch, der dir im Herzen lebt. Ich bin gekommen, dir eine Gabe nach Wahl zu gewähren, wünsche dir ein Geschenk nach deiner Wahl, du Frommer!«

Als Kandu dies Wort vom Gotte der Götter, der die Wurfscheibe trägt, vernahm, schloß er jählings die Augen und erblickte Vischnu vor sich: er war blau wie Flachsblüte, und seine Augen waren langgeschweift wie Lotosblätter, er hielt Muschelhorn, Wurfscheibe und Keule in Händen und trug Diadem und Armreifen. Die Locke »Glückskalb« zeichnete seine Brust, Ketten wilder Waldblumen schmückten ihn. Er hatte alle Zeichen an sich, alle Kleinodien zierten ihn, sein Leib war mit himmlischem Sandel gesalbt, mit himmlischen Blumengewinden geschmückt.

Wundern durchdrang den Heiligen, die Härchen seiner Poren sträubten sich vor Wonne. Steif wie ein Stock fiel er zu Boden und verneigte sich anbetend. »Jetzt ist meine Geburt mit Frucht gesegnet, jetzt ist meine Askese fruchtgesegnet«, sprach er, dann hub er an, den Gott zu preisen:

»Anbetung dir, Herr der Geschöpfe, goldner Urkeim der Welt, Licht und zuschauendes Auge der Welt! Unentfalteter, Siegreicher, Herr der Welten, du bist das urstofflich höchste Wesen! Anbetung dir, Gatte der strahlenden Göttin des Glücks, Herr des Lotos, aus dem sich die Welt entfaltet, Ewiger, des Leibesfrucht die Erde ist! End- und Anfangsloser, Unüberwindlicher, Unzerbröckelnder, in Herrlichkeit thronend! Du übst den Brauch des Gewittergotts, Kummer und Leid Vernichtender, der auf den Wassern ruht, Hirt der entfalteten Werdewesen! Unentfaltet und Herr der Wesen wohnst du in ihnen und bleibst unverstört von ihren stofflichen Kräften, wahrer Kern der Wesen und ihr Mutterschoß! Du bist das Opfer und der Opfernde, Bote des Opfers und sein Ursprungsschoß, du mit den goldenen Gliedern, Kind der wolkenscheckigen Himmelskuh! Du weißt um den Acker unseres Leibes, trägst ihn als göttlich unvergänglicher Lebenskern, besitzest den Acker, schaffst ihn: Du hast die Gewalt! Du bist das Wesen im Acker und bist des Ackers bar, du Schöpfer des Ackers!

Du bist die Stätte, an der die entfalteten Kräfte der Welt wieder in eins verschmelzen, ihre Heimstatt und ihr Halt, ihr Bringer und Verzehrer, lustvoll spielend in entfalteten Kräften und sich ihrer entäußernd. Du bist der Gewesene, der Werdende und bist des Werdend-Seienden Herr! Du schaffst die Werdewesen und bist unentfaltet, bist das Werden und trägst die Werdewesen, bist der Gott, der Werdewesen werden läßt, dich nennen sie den ungeborenen Herrn!

Du bist Schiva als Stieraffe und als Rudra, bist ohne Ende und weißt das Getane, bist der Urstoff. Ungreifbar bist du, nie fehlend, bist der Herr! Bist heilige Strophe, Spruch und Melodie, bist Feuer und Wind, Wasser und schätzetragende Erde, bringst die Welt aus dir hervor und ißt sie wieder in dich hinein, bist der überwaltende, alldurchwaltende, strahlend höchste unbewegliche Herr der Welten!

Allschauend, allbezwingend bist du Tag wie Nacht, dich nennen die Weisen das allumspannende Jahr, du bist das Kind und der Alte, bist Mann und Weib und keines von beiden. Du bist die Weltflut, bist der Arzt, bist der schönbeschwingte Sonnenvogel, du hast den Anfang und sammelst all in eins, bist die Übergröße und bist jenseits der Weide der Sinne.

Von dir her kommen die Opfer, die Regen auf Erden wirken, dir entsprang die allhin herrschende Kraft, die allem Lebendigen im Herzen sitzt und über alle Werdewesen hinausragt an Strahlenmacht, Glanz und Ruhm. Von dir kam den Göttern der Trank der Unsterblichkeit, kam Butter und dicke Milch, kamen die Gewächse des Dorfes und der Wildnis, zahmes und wildes Getier. Als großer Fisch trugst du die heilige Offenbarung auf deinem Rücken aus den Fluten des Weltuntergangs, setztest die Wasser des Weltmeers in Aufruhr, den lotosgeborenen Brahma zu erfreuen; als uranfänglicher Eber hobst du die Erde aus dem Weltmeer, bergesgleich ist deine Gestalt, mit der du als Schildkröte die große Erde trägst!

Vischnu als Schildkröte

Anbetung dir, Unendlicher, ungreifbar Feiner, nur den Yogin schaubar, aller Ursachen Ursach und Heimstatt des Wandels großer Yogin, du schwer zu Findender! Auf der Weltschlange im Milchmeer ruhst du auf herrlichem Lager in herrlichem Schmuck von Gold und Juwelen!«

So pries er den Gott. Voll Gefallen sprach Vischnu: »Sag schnell, herrlicher Heiliger, was wünschest du dir von mir?« – Kandu sagte: »Hier im endlosen Strome kreisenden Lebens, der schwer zu überqueren ist, treibe ich, von deiner Maya verblendet, gewaltig lange Zeit ziellos dahin. Da sträuben sich die Haare vor Grauen in dem vergänglichen Dasein, so vielfältig ist es voller Leiden, hinfällig wie ein Blütenblatt, ohne Stütze und Halt, unstet wie Wasserblasen, aller Widrigkeiten voll, über die Maßen furchtbar und schwer zu überwinden. Und ich finde kein Ende, da ich in meinem Geist an der Welt der Sinne hafte. Jetzt bin ich zu dir um Rettung gekommen, Herr der Götter, mich quält die Angst vor diesem kreisenden Strome immer neuer Leben – heb du mich aus dem Ozean des Werdens heraus! Zu deiner höchsten ewigen Stätte will ich eingehen, von der es keine Wiederkehr gibt, dank deiner Gnade!«

Da sprach der herrlich-erhabene Gott: »Mir hingegeben bist du, Heiliger, verehre mich immerdar! Wahrlich, dank meiner Gnade sollst du Erlösung finden, die du ersehnst. Alle, die mir ergeben sind, Königsadel und Bauern, auch Frauen und niedere Kasten, ja, wer im niedrigsten Stande geboren ist – alle erlangen sie höchste Vollendung, um wieviel mehr du, ein in heiliger Lehre wiedergeborener Brahmane! Auch das unterste Volk, das von Hundsfleisch lebt, erlangt Vollendung ohne Grenzen, wenn es mir ergeben von wahrem Glauben voll ist – von den höheren zu schweigen.«

So sprach der Gott, der die ihm Hingegebenen wie seine Kinder liebt, und – unerforschlich ist sein Gang – entschwand er daselbst. Als er von dannen war, ward Kandu in seinem Sinn verzückt. Alle Erdenwünsche ließ er fahren, sein Geist fand friedvollen Stand in sich selbst. Er bändigte alle Sinne und verlor das Gefühl für »mein«, er konnte nicht mehr »ich« bei sich tun. Er sammelte den Geist in einer Spitze und versenkte sich in innere Betrachtung des höchsten Wesens, da erlangte er fleckenlose, friedevolle letzte Erlösung, die, aller entfalteten Kräfte bar, in reinem Sein besteht und selbst den Göttern schwer erreichbar ist.

Die Gestalt dieses wunderbaren Heiligen gibt zu bedenken, wie glühende Selbstvergewaltigung mit dem Ziel gottgleicher Allmacht und sinnliche Selbstverlorenheit bis zu völligem Vergessen von Zeit und Ziel in ihrer Wurzel eines sind mit der Kraft höchster Hingabe an die Unendlichkeit Gottes: sie sind eins in der Maßlosigkeit, der sie entspringen. Der große Asket wird zum großen Sinnenmenschen und zum glühenden Frommen: Gut ist das Element seines Wesens, die Richtung, die sie nimmt, geben ihr Begegnungen. Sie ist die hinreichende Größe zur Höhe titanischen Stolzes, zur Tiefe des Sturzes und zu letzter Begnadung. Aus nicht Geringerem – das ist die Meinung – kann die endliche Ergebung und Erkenntnis reifen, die Gott genehm ist, als aus solch maßlosem Zwange und solch zeitloser Entfesselung aller Kräfte. Das höchste Ziel bedarf der höchsten Pfeilkraft. Der Weg zum höchsten Ziel ist nicht die simple Gerade, die schlichten Ganges zwei Punkte in der platten Ebene am kürzesten verbindet, es wird, wie im Weltraum der Sphärenbahnen, auf der weitesten Spannung des größten Kreisbogens erschwungen. Die Überwelt in ihrer Lauterkeit öffnet sich der alchymischen Selbstverwandlung eben der furchtbarsten Mächte, die unterweltlich den Menschen beherrschen: dämonische Machtlust und besinnungsloser Trieb; was in die tiefste Hölle bannt, trägt allein, geläutert, bis in die reinste Höhe, wenn seine unbändige Kraft die Richtung wandeln kann.

Kandus glühende Askese zielt auf Vergöttlichung aus eigener Kraft; maßlose Stauung der Natur leiht ihm übernatürliche Macht, die das Walten der Götter zu durchkreuzen droht. Indra spürt die gefahrdrohende Spannung, die der Asket in sich nährt, er schickt ihm, sie zu entladen, die Verführerin. Diese Himmelsfrauen sind hetärische Geschöpfe, den Seligen in Indras Welt zu unerschöpflicher Liebeslust gesellt; der sterbliche Mann verlockt sie nicht, er kann es ihren himmlischen Gesellen, den Gandharven, nicht gleichtun an Liebeskraft; aber sie erfüllen den Befehl des Götterkönigs, wenn es drunten einen zu verführen gilt, um seine Askese zu brechen. Dieser Asket hat wirklich schier göttliche Kräfte in sich gesammelt, aber der betörende Anblick des Götterweibes genügt, sie zu entfesseln. Asketische Glut meint Maya als Inbegriff göttlicher Macht, zauberische Verwandlung zu wirken; um sie zu erringen, wird alle Kraft gestaut zu unermeßner innerer Glut, die sich in alles verwandeln kann und zu allem entladen: zu Zorn und Fluch, der wie ein Blitz in Asche wandelt, worauf er fällt, zu Schönheit und Jugend, wenn der Asket sie sich wünscht, zu allen reizenden und herrlichen Dingen: himmlischen Gärten und Palästen und allen Freuden der Welt.

Die Größe der gestauten Glut ermißt sich bei Kandu an der Dauer, deren sie bedarf, sich zu verströmen: was das All bis in Indras Sphäre erhitzte, verpufft sich nicht in ein paar Schäferstunden. Aber es reicht nicht hin, das Götterweib zu schmelzen; herzlos und reizend, immer zu Willen und schadenfroh, selbstsicher und ein wenig bang gibt sich die himmlische Hetäre dem Glühenden – mit einem Schatten von Mitleid und voll Verachtung für den Menschenknirps, der sich's vermaß, mit den Göttern anzubinden und an ihrer ach so alten List zum Narren wird wie andere Heilige vor ihm. In allem Rausch des Mannes, der sie überflutet und ihn aus sich selbst hinwegspült, bleibt sie unbezwungen in ihrer göttlich unerschöpflichen Lustbereitschaft; keinen Augenblick lang verliert sie das Gefühl der Zeit, und mag sie noch in Menschenjahren zählen, übermenschlich in ihrem Reiz und ihrer Unwandelbarkeit – unverwandelt, unangerührt, selbst wenn sie Mutter wird. Ein Schatten von Rührung aus anerkennender Bewunderung für die übermenschliche Leistung, die sie entfesselt, huscht über sie hin, fast ein Lächeln der Liebe – aber die Verführerin kennt ihre Pflicht, die Göttliche bleibt ungeblendet vom halbgöttlichen Schimmer des Buhlen, der sich trübt und verlischt, indem er sich verschwendet

 

Mit seiner Maßlosigkeit stellt Kandu im großen das Schicksal der meisten dar, wie sie ganz ich- und weltverfallen, »ganz dem Liebesbrauche hörig«, triebhaft an der Maya ihres Lebens hängen, den Sturz der Zeit, das Absinken der eigenen Kraft und Lebensfülle nicht spüren, bis es sie jählings überfällt, daß sich der Tag geneigt hat und es Zeit zu abendlicher Andacht wäre. Die Maya des Lebens gleicht dieser bestrickenden Himmelsfrau, mit seinem Reize entfesselt es uns zu immer neuen Ausbrüchen des Verlangens und der Kraft, bis Erschöpfung uns kühlend um die Schläfe streicht.

Aus derselben Tiefe in uns steigen vielfältige Träume als Kinder einer Nacht, untereinander verschieden nach Schauplätzen, Gestalten, Vorgängen, meinen aber, wenn ihr Sinn uns aufgeht, einen gleichen Kern innerer und äußerer Wirklichkeit unseres Lebens. Sie rühren ihn nur von verschiedenen Seiten an, umschreiben ihn aus wechselnden Blickpunkten. So steigt auch die Maya unserer wachen Welt, vielfältigen Aspekts und doch in allem Wechsel Ausgeburt und Ausdruck derselben inneren Größe, aus uns auf: Entfaltung unserer persönlichen Welt, so eigen wie unsere eigentümlichen Träume. Aufwallend und verebbend, Blasen und Laute sprudelnd wirft die Quelle unseres Lebens innen ein Gleitendes, Chamäleonhaftes auf: die Träume unserer Nächte und den Traum der wachen Welt. Träume sind etwas Unwillkürliches, aller Absicht entrückt, und dabei ein völliger Zwang, der sich auf uns legt. Wir haben sie nicht, sie haben uns, wir sind in ihnen gefangen. So ist auch die Maya der Welt unserer Absicht ganz entrückt: wir wollen nicht Welt und Ich, dieses Ineinanderspiel der Maya, haben, und es gelingt uns – wir sind hineingeglitten in beide, als wir entstanden und mählich zu uns und der Welt erwachten, und eigentlich ist dies Spiel wohl anfangslos. Es hat uns, als völliger Zwang legt es sich über uns und bringt es zuweg, daß wir diesen Zwang, diesen Alp von Welttraum gar nicht als solchen gewahren, so völlig umfängt uns diese Maya: »Selbst den Göttern ist sie undurchschaubar, sie gleicht dem Gaukelspiele eines Traumes und verblendet alle Welt« – so völlig undurchschaubar ist sie, daß wir sie so wenig gewahren wie der Fisch das Wasser, solang er darin lebt. Erst wenn wir uns ihr entreißen könnten, wie der Fisch an der Angel dem Wasser entrissen wird, würden wir wissen, was uns da umfangen hielt, und wie völlig es uns hielt, aber unser Ich würde an dieser Erfahrung von Unwelt ersticken wie der Fisch im Wasserlosen, es müßte sterben, wenn ihm seine Maya der Welt, in der es wurzelt wie sie in ihm, weggerissen würde. Eben um diesen Tod, dies völlige Abstreifen des Ich geht es dem indischen Yogin. Der steht – laut Krischnas Wort in der Bhagavadgita – über dem Asketen, der Glutgewalt in sich staut, wie über dem Erkenntnisvollen und dem Werkfrommen; als höchster Yogin aber gilt, wer vertrauenden Glaubens sich mit seinem innersten Selbst dem Gotte ergibt.

Mit dieser Rangfolge verkündet der Allgott in seiner Menschwerdung Krischna die Heilsordnung des letzten Weltalters, in dem titanische Glut, Erkenntnisflug und rituale Werkfrömmigkeit als alte Wege zur Überwelt der hingebenden Gottesliebe (bhakti) den Platz räumen. Die Wallfahrtsstätte »Höchstes Wesen« – Puruschottama, das ist Puri am Golf von Bengalen – erstand zu Ende des dritten Weltalters als Gnadenort der kommenden Zeit. Damals, als Vischnu in Krischnas Gestalt auf die Erde herabgestiegen war, hob der Ozean das Bildnis des höchsten Wesens an den Strand, der davon seinen Namen hat. »Seither weilt der Gott der Götter an dieser erlösungverleihenden Stätte und gewährt Frucht aller Wünsche.« Dieses Gnadenbild, der Kern des heiligen Ortes, ist so alt wie die Welt: Brahma ließ es im uranfänglichen Weltalter vom »Aller Werke kundigen Gott«, dem göttlichen Handwerker, fertigen, alle Frommen, Götter, Menschen und andere Wesen sollten es schauen, um vor Dämonen und Unholden gefeit zu sein und den Weg in die Himmelswelt zu finden. Er selbst weihte es mit geheimen Sprüchen. Da kam Indra und verehrte es mit Waschungen und Gaben und nahm es mit in seine »Stadt der Unsterblichen«. Dank seiner überwand er alle Dämonen und beherrschte die Welt.

Im folgenden Weltalter übte der Unhold Ravana zehntausend Jahre Askese und erlangte als Preis dafür, daß kein Gott ihn töten konnte. Da überwand er die Götter und entführte das wunderbare Bild in seinen Palast auf der Insel Lanka. Gegen die Götter gefeit, wähnte er sich unüberwindlich und meinte des schützenden Wunderbilds entraten zu können; er gab es seinem Bruder. Da kam Rama, nur ein Mensch, aber der Allgott in Menschengestalt, und befreite die Welt von der Herrschaft des Unholds. Er führte das Bild nach seiner Hauptstadt Ayodhya, dort verehrte er, Vischnu in Menschengestalt, seine eigene uranfängliche Gestalt elftausend Jahre lang, dann ging er wieder zu Vischnus höchstem Wesen ein, das Bild aber gab er dem Herrscher des Ozeans zu hüten, der die Schätze des Meeres besitzt. Wer dieses Wunderbild verehrt, hebt sich samt seinen Ahnen aus dem Kreislauf von Geburt und Tod empor zum höchsten Wesen, er lebt als seliger Gott, bis alle Welt mit ihren Himmeln an Weltalters Ende sich wieder in die all-eine Flut des Urbeginns zerlöst. Wer an dieser Gnadenstätte stirbt, wird erlöst, auch wenn er ohne diesen Wunsch dort stirbt; auch Vögel und Würmer und alles Getier, die dort verenden, kehren ein zum höchsten Wesen.

Puri, der Erlösung schenkende Ort, liegt mit dem Blick aufs Meer, auf Ruhe und Dünung des gestaltlos Entformenden, dem alle Gestalt entstieg. So blickt jener Wallfahrtsort an der Mündung der Koka und viele andere auf den grenzenlosen Horizont der in sich rollenden, schimmernden Tiefe. Wie zu den Gipfeln des Himalaya, auf denen die Überwelt anhebt, pilgert der Inder zum Meer – er tut es den Flüssen gleich: »Wie die Flüsse hinwallend im Meere untergehen und Namen und Gestalt darin verlieren, so geht der Wissende, von Namen und Gestalt entlöst, zum göttlichen Wesen ein, das höher als das höchste ist«, sagt ein Spruch der Upanischads, und über zweieinhalb Jahrtausende später singt Tagore:

Wanderer, wohin geht dein Weg?
»Baden geh ich im Meer beim Morgenrot,
Entlang den baumbesäumten Weg.«
Wanderer, wo ist das Meer?
»Wo der Lauf des Flusses endet,
Dämmerung sich in Morgen wendet,
Wo der Tag ins Dunkel rollt.«
Wanderer, ziehen viele mit dir?
»Weiß nicht, wie ich sie zählen sollt'.
Sie wandern alle Nächte
Mit Lampen in der Hand,
Sie singen alle Tage
Auf den Wassern und über Land.«


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