Theodor Wolff
Der Marsch durch zwei Jahrzehnte
Theodor Wolff

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Im Garten eines Landhauses, das auf einem der Hügelzüge an der französischen Küste, in ziemlicher Höhe über dem Meere steht, fanden sich regelmäßig an jedem Sonntag, und manchmal auch an einem Wochentage, sehr verschiedenartige, aber durch geistige Interessen verbundene Menschen zusammen. Sie stammten aus vielerlei Ländern, sie hatten nicht die gleichen Arbeitsgebiete, ihre politischen Anschauungen gingen oft auseinander, aber sie waren entweder voll Wissen oder voll Wißbegierde und lebten zwischen der Erbschaft vergangener Jahrhunderte und den Problemen der Gegenwart. Allerdings nahmen sie an diesen Problemen mehr oder minder leidenschaftlich teil, und während einige von ihnen erregt und sogar erschüttert waren, betrachteten andere die Dinge so überlegen und so von der Erkenntnis der Vergänglichkeit durchdrungen wie ein Marabu, der auf den verschütteten Gräbern unzähliger Pharaonengeschlechter herumspaziert. Gerade die meisten derjenigen, die durch die Ereignisse aus ihrem liebgewonnenen Wohnsitz, ihrem Beruf, ihrem Verdienst vertrieben, plötzlich entwurzelt und zu der Wanderung ins Ungewisse gezwungen worden waren, wollten in diesem Kreise ihre Gefühle nicht zur Schau stellen – sie hatten den Takt des Kranken, der in einer animierten Gesellschaft die beängstigende Not seines Herzens verbirgt. Der Besitzer des schönen Landhauses war ein aus Hamburg gebürtiger Kunsthistoriker, der in Amerika einem reichen Manne Gemäldegalerie und Bronzensammlung eingerichtet, dann die Tochter des Mäzens geheiratet hatte und selber Amerikaner geworden war. Er hatte mehrere Bücher über die Meister von Siena, über Giotto und seinen Lehrer Cimabue geschrieben, und da er fand, daß man die Werkstätten der alten Kunst nachgerade bis in ihre letzten Winkel 6 durchstöbert habe, und da er ein ironischer Geist war, beschäftigte er sich jetzt damit, in den Museen Fälschungen oder irrtümlich mit einem großen Namen bezeichnete Bilder aufzuspüren und ihren Bewunderern zu erklären, daß sie genarrt worden seien. Liebenswürdig, gastfrei, von jeder einengenden Ideologie losgelöst, vereinigte er bei sich, unter den Orangenbäumen und in seinem prachtvollen Bibliothekszimmer, Bewohner der Küste und Durchreisende, die ihm in seine Tafelrunde zu passen schienen, und war auch hilfsbereit, wenn er eine ihm sympathische Person in Bedrängnis sah. Seine echt amerikanische, noch junge Gattin mischte sich nur selten mit einem Wort in die Unterhaltung, beschränkte sich auf ein aufmerksames Zuhören und häkelte unablässig Sweater und Shawls. Aus Deutschland waren, neben mir und den Meinigen, noch sechs Menschen hierher verweht. Einer von ihnen war der Dichter eines viele hunderte Male gespielten Dramas und köstlicher, vom Duft der Heimaterde durchwobener Romane, hochstehend durch seinen Schöpfersinn, durch seine vieles umfassende Bildung, durch die Vornehmheit seines Charakters und die Weite seines Denkens, verfeinerter Vollgermane, den, ebenso wie seine Frau, nur das Bedürfnis nach einem Luftwechsel fortgetrieben hatte, und eine andere Berühmtheit dieser deutschen Gruppe war ein jüdischer Arzt und Forscher, eine große Autorität auf dem Gebiet der Nierenerkrankungen, Mitglied der Akademien in zahlreichen Ländern, nun ausgestoßen aus deutschen Hörsälen und einstweilen damit beschäftigt, für einen englischen Verleger ein Buch über sein Spezialgebiet fertigzustellen. Sodann gab es da einen ebenfalls jüdischen, schon bejahrten Professor der Mathematik, der bescheiden und bedrückt umherschlich, und seine lebhaftere Gattin, die resolut zu sagen pflegte, wenn sich ihre Lage nicht bessere, so würden sie und ihr Mann ein Ende machen und entschlossen – die Entschlossenheit war nur auf ihrer Seite – aus dem Leben gehen. Vorläufig war ihre Lage sehr schlecht, und jeder mußte sich fragen, wie sie ohne die Freundlichkeit des Hausherrn, der ihnen ein Zimmer in seinem Gartenpavillon eingerichtet hatte, noch hätten existieren können. 7 Sie hatten zwei Töchter, bei Verwandten in Deutschland – der einzige Sohn war gleich in den ersten Tagen des Krieges bei den Kämpfen im Elsaß gefallen. Schließlich ist noch ein schönes junges Mädchen zu nennen, die Tochter einer preußischen Generalswitwe aus der Mark Brandenburg, bei dem berühmten Mediziner als Sekretärin tätig, aber, wie nähere Beobachtungen ergaben, befreundet mit einem deutschen Maler, der unten in einem Küstenort wohnte und niemals hinauf zu der Hügelvilla kam.

Es fanden sich an manchen Tagen noch andere Deutsche ein, und ich habe nur diejenigen, die immer da waren, aufgezählt. Die meisten Gäste gehörten anderen Nationen an, was nicht verhinderte, daß die Unterhaltung sich häufig um Deutschland drehte und dann gewöhnlich weit temperamentvoller wurde als bei Berührung irgend eines anderen Themas, bei Erwähnung der russischen oder spanischen Dinge zum Beispiel, obgleich es in der Gesellschaft auch Zuwanderer und sogar einige richtige Emigranten aus diesen Ländern gab. Ein intimer Freund des Gastgebers war ein amerikanisierter Norweger, der für Revüen und Zeitungen sehr witzige kleine Geschichten schrieb und sich nebenbei, ähnlich wie Flaubert, eine Sammlung all der Dummheiten, dünkelhaft vorgebrachten banausischen Behauptungen, pompösen Unsinnsdokumente angelegt hatte, die er mit Vorliebe aus angeblich wissenschaftlichen Zeitschriften herausfischte und triumphierend in seine Trophäenkammer trug. Regelmäßig erschienen der französische Professor für neuere Literatur an dem Lyzeum der nahen Stadt und seine rundliche, gutmütige Lebensgefährtin, ein offenbar nicht mehr an sein Geschäft gefesselter Bankier aus Genf, ein englischer Landbesitzer, der auf den Nachbarhügeln Nelken züchtete und allerlei religionsphilosophische Studien trieb, und eine italienische Gräfin, geschiedene Gattin eines Diplomaten, die trotz ihrer Bewunderung für Mussolini außerhalb Italiens lebte, um hier draußen einen fast ganz erblindeten Politiker zu trösten und zu versorgen, der früher, in der Vergangenheit Italiens, etwas bedeutet hatte, und vermutlich auch in ihrer eigenen Vergangenheit.

8 Unvermeidbar war es, daß häufig von der Emigration gesprochen wurde, nicht ausschließlich von der deutschen, aber auch dann im Gedanken an sie, wenn die Unterhaltung über sie hinaus ins Allgemeine ging. Es wurde gesagt, daß ein jäher Schicksalswechsel die besseren Naturen über sich selbst hinausheben müsse, aber diesen Entwicklungskursus konnten nicht immer diejenigen durchmachen, denen die Angst vor dem kommenden Tag an der Kehle saß. Alle waren einig in der Meinung, daß es in der Emigration zwar eine gemeinsame Pflicht sei, unverschuldetes Unglück zu lindern, aber keine andere Solidaritätsverpflichtung geben könne, denn welche Verantwortung trugen der Dichter, der Arzt, der Mathematiker und ehrenhafte Kaufleute für das Tun und Benehmen eines nicht ebenso sauberen Individuums? Als man einmal von ziemlich unwichtigen Leuten sprach, die vom Martyrium nicht getroffen worden waren und nur gern ein wenig mit ihrer Heldenrolle renommierten, zitierte der Dichter eine Stelle aus Dostojewskis »Dämonen«: »Wenn aber damals jemand Stepan Trofimowitsch unwiderleglich bewiesen hätte, daß er eigentlich nichts zu fürchten hatte – er würde in den Tod gekränkt gewesen sein.«

Daß zwischen den Unterworfenen, die in Deutschland geblieben waren, und den Auswanderern sich eine Entfremdung herausbilden müsse, erschien klar. Die Ansicht überwog, daß jeder Fall einzeln und nach den besonderen Umständen zu betrachten sei. Unterschiede in Auffassung und Haltung bestanden auch hier draußen, denn es gab diejenigen, die im Auslande den Kampf gegen die neuen Machthaber fortsetzten, und diejenigen, die andere Arbeitsmethoden wählten und darauf verzichteten, ihre völlig unzweifelhaften Gedanken wie Pfeile gegen den Feind abzuschnellen. Unzweifelhaft und nicht mißzuverstehen waren die Gedanken und Gefühle aller, die dort in der freien, durchsonnten Luft beieinander waren, und auch wenn sie Jeffersons Dokument nicht kannten, bildeten die Sätze zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 den Zentralpunkt ihres geistigen und moralischen Wesens: »Wir halten diese Wahrheiten für von selbst einleuchtend: daß alle 9 Menschen gleichgeschaffen, von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt sind, daß darunter sind Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit.« Übrigens hatten solche Diskussionen keine Ähnlichkeit mit den zänkischen Bosheiten, die aus dem Pariser Exil Heines und Börnes hinaus auf den Straßendamm drangen. Einer der Anwesenden äußerte, daß jede Emigration ihre streitbare Mannschaft gehabt habe und haben müsse, daß aber mancher, der mit Lust im Nahkampf stand, es unbefriedigend finden könnte, Geschosse abzusenden, die, wenn sie auch lästig werden, doch nicht über die Mauern des Gegners hinüberdringen. Der Hausherr, der zeigen wollte, wie wenig Neues es unter der Sonne gebe, holte aus seiner Bibliothek Jacob Burckhardts 1868 entworfene »Weltgeschichtliche Betrachtungen« und entnahm daraus Sätze über die »Emigranten, welche man sich mit enormer Überschätzung viel zu mächtig denkt oder zu denken vorgibt«, und über die seltsame Neigung, es »wie einen Raub« zu achten, »wenn sich jemand der Mißhandlung und dem Mord entzogen hat«. Mit Ausnahme eines einzigen Gastes war die ganze Gesellschaft der Ansicht, daß jeder Emigrant, der Deutsche sowohl wie der Russe, Spanier und Italiener, sich davor hüten müsse, seinem Ursprungsland feindselig gegenüberzustehen oder sich sogar in eine gegen sein Land gerichtete Front einzureihen. Wenn der vertriebene Dante den Kaiser Heinrich, den Fremden, knieend beschwor, seine Vaterstadt, das hochmütige Florenz, zu belagern und niederzuzwingen, so mag immerhin in seiner Phantasie diese Handlungsweise vom Traum des großen allumfassenden Imperiums umglänzt worden sein. Heinrich Heines Heimatliebe verkümmerte nicht auf dem Boden der Verbannung, und der tönende Hohepriester der Emigration Victor Hugo, der von Jersey und Guernsey aus seine Donner gegen die Tyrannis schleuderte, blieb der entflammte französische Patriot. Nur der norwegische Amerikaner meinte, einwenden zu sollen, weder habe diese Tyrannis Victor Hugo seiner Gesinnung wegen unwürdig gefunden, Franzose zu heißen, noch habe die vormärzliche Reaktion Heine seiner Rasse wegen aus 10 der deutschen Gemeinschaft ausgelöscht. Es war aber anzunehmen, daß auch dieser Teilnehmer der Tafelrunde, der gewissermaßen eine radikale Opposition verkörperte, die französischen Royalisten, die in Koblenz für den Sieg der Koalition beteten und unter ihrem Schutz zurückkehrten, nicht für vorbildlich hielt. Die Gattin des Mathematikprofessors dachte an das, was sie zunächst bewegte, und bemerkte, Victor Hugo habe auf Jersey gewiß nicht Not gelitten, und Heine habe unter der so rücksichtslos verhöhnten Reaktion seine Arbeit in Deutschland verwerten können und Geld verdient. Um seine literarischen Kenntnisse nicht ganz im Verborgenen zu lassen, äußerte sich der Bankier aus Genf über Victor Hugo, in dessen Werk und in dessen geräuschvollem Titanentum französische Kritiker jetzt respektlos alle Lächerlichkeiten und jede Leere unter dem blendenden Wortluxus aufdeckten, der aber die Melodie des Verses wie kaum ein anderer habe schwingen lassen, Posaune und Flöte gemeistert habe und in der Unruhe und Fülle seiner Zeugerkraft den Zeitgenossen zu einem sagenhaften Beherrscher der Elemente geworden sei. Unvergängliches Vorbild jeder Anklageliteratur seien die »Châtiments«. Der Dichter erwiderte, dieser Meinung stimme er zu, aber schließlich habe nicht Victor Hugo mit den Posaunentönen, die viele Jahre hindurch ohne Pause von Jersey und Guernsey nach Paris hinüberdröhnten, sondern Bismarck die Herrschaft Napoleons III. gestürzt. Selbstverständlich nähmen diese historischen Tatsachen den »Châtiments« nichts von ihrem Wert.

Das schöne junge Mädchen zitierte die Stelle aus Rilkes »Cornet«:

Nicht immer Soldat sein. Einmal die Locken offen tragen und den weiten offenen Kragen und in seidenen Sesseln sitzen und bis in die Fingerspitzen so »nach dem Bad sein« –

und man konnte dagegen nur einwenden, daß der Emigrant selten auf seidenen Sesseln saß. Der französische Professor der Literatur erinnerte daran, daß Sièyès, der große Theoretiker der Verfassungsgrundsätze und des dritten Standes, 11 in den späteren Jahren der Revolution sich in ein »philosophisches Schweigen« einschloß und hinterher denjenigen, die ihn fragten, was er während der Terrorzeit getan habe, die Antwort gab: »J'ai vécu« – »ich habe gelebt«. Streitsüchtig wie immer erklärte der norwegisch-amerikanische Geschichtenerfinder, Sièyès habe Verfassungsideen gehäkelt, wie die verehrte Hausfrau die Sweater, und in dem Vergnügen an seiner Kunstfertigkeit die Farben bald so und bald so zusammengestellt. Die übrige Gesellschaft war bereit, anzuerkennen, daß das »philosophische Schweigen« des Abbé Sièyès und der Kampf Victor Hugos berechtigt gewesen seien, und daß es auf die Gesinnung ankomme und auf den richtigen Geist.

Mitunter aber erhitzten sich in den Gesprächen über die Zeitereignisse die Gemüter, und besonders einige Frauen hatten starke Ausdrücke für ihre Empfindungen, während der männliche Organismus im allgemeinen besser dazu befähigt schien, still zu verdauen. Wenn zufällig gerade ein paar im Exil lebende Russen anwesend waren, ergab sich eine Art Rivalität zwischen dem älteren Unglück und dem neuen. Um der Gesellschaft eine Disziplin aufzuzwingen, wurde beschlossen, daß für jeden sprachlichen Exzeß eine Strafe, verschieden gestuft je nach der Schwere des Vergehens, zu zahlen sei. Ein an der Vorderseite mit primitiver gotischer Schnitzerei versehener Opferkasten, der wohl einmal in einer ländlichen Kirche gestanden hatte und mit wertvolleren Stücken in die Sammlung des Kunsthistorikers gelangt war, wurde herbeigeschleppt, und jeder, der seine Zunge nicht zügeln konnte und der Verurteilung verfiel, warf seine Bußmünze hinein. Sodann drang, gegen eine Minorität, die Ansicht durch, daß man nicht immer nur und allzuviel über das sprechen solle, was doch durch kein Hin- und Herreden geändert werde, sondern sich bemühen müsse, nach dem Rezept des »Decamerone« eine Ablenkung zu finden, die Gedanken von dem zu hartnäckig umkreisten Punkte abzubringen. Mehrere Mitglieder der Tafelrunde wurden gebeten, durch Vorlesungen oder Vorträge, erzählend oder belehrend, das ihrige für solche Abwechselung und Zerstreuung zu tun. 12 Der Hausherr versprach eine Schilderung der Abenteuer, die er erlebt hatte, als er in Spanien auf der Jagd nach falschen Meisterbildern war. Der französische Literaturprofessor kündigte eine Reihe von Vorträgen über die Liebe bei den Romantikern an. Der Dichter wollte seinen eben beendeten Roman vorlesen, in dem er die menschliche Gestalt des heiligen Franz von Assisi aufleben ließ. Von dem Wikinger aus Amerika erwartete man heitere Geschichten und als gleichfalls humoristische Beigabe einige Proben des gespreizten Unsinns, der, sorgfältig eingeordnet und mit Verfassernamen, Ursprungsort und Datum versehen, bereits viele Aktenmappen füllte und sich vermehrte wie die Fliegen im August. Der Arzt, dem man verschiedene Vorschläge machte, entschuldigte sich, was jeder verstand. Mich forderte man auf, Erlebtes und Gesehenes zu berichten, etwas über jene »Führer der Nation« zu erzählen mit denen ich in Berührung gekommen sei, und da ich meinen Beitrag nicht gut verweigern konnte und die Idee sich auch ein wenig umformen ließ, sagte ich zu. Von den Menschen und Ereignissen der Zeit vor dem Kriege hatte ich in zwei Büchern, »Vorspiel« und »Der Krieg des Pontius Pilatus«, gesprochen, jetzt, dachte ich, müßten spätere Bilder gezeigt werden, müsse der Film weiterrollen. Es könnte dann ein Vorbeimarsch der Männer werden, die, wie ehemals die hohen Herren in den Krönungszügen die Reichsinsignien, den Schatz des deutschen Schicksals in ihren Händen trugen – oder doch an dieser Ehre teilzuhaben schienen, – und immer marschiert, marschiert in gleichmäßiger Bewegung, marschiert in gleichmäßiger Willigkeit das Volk. 13

 


 


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