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Die Verlobung.

Ein Sittenbild aus Rußland.

Der reiche Kaufherr Anton Antonowitsch Gromow stand in seinem langen Kaftan gravitätisch im großen, weißen Saal und erteilte drei Männern, die in ausgeliehenen, schlechtsitzenden, fettgetränkten Fräcken devot vor ihm standen, verschiedene Befehle.

Die Leute nahmen sich recht drollig aus mit ihren Tatarengesichtern, denen sie durch ihre Backenbärte ein europäisches Ansehen zu geben versuchten, mit ihrem gescheitelten, künstlich gewellten Haar und den großen, roten Händen.

»Mit eurem Herrn habe ich bereits alles besprochen, bin auch vorläufig recht zufrieden mit euch. Den Tisch deckt ihr so reich als möglich und sorgt besonders für Weine und Zakußka (d. h. Vorspeisen, eigentlich Delikatessen). Daß sich aber keiner von euch unterstehe, auch nur ein Gläschen Branntwein während des ganzen Abends zu trinken.«

Die Männer lächelten verlegen.

»Wie können Euer Gnaden nur so etwas von uns denken!« begann der Älteste und zwinkerte seinen Kameraden zu.

»Wie können Euer Gnaden nur so etwas –« fielen diese ein.

Doch Herr Gromow wehrte mit der Hand ab.

»Schon gut, schon gut, ich kenne euch! Also daß sich keiner betrinkt, sonst geht's ihm schlecht.«

Die »Offizianten«, wie man die einem Restaurateur oder Konditor entlehnten dienstbaren Geister nennt, verbeugten sich schweigend.

»Ist nun vorläufig alles in Ordnung?« fragte Anton Antonowitsch und ließ seine Blicke musternd durch den Saal und das Gastzimmer schweifen.

Die Möbel standen steif auf ihren Plätzen, nirgend war ein Stäubchen zu sehen, und auf jedem Fensterbrett befand sich ein großer, silberner Armleuchter mit hohen, vergoldeten Stearinkerzen.

»Wieviel Arme hat jeder Leuchter?« fragte Gromow.

»Fünf, Euer Gnaden, fünf Arme! Und zünden wir erst die Lichter an, so weiß die ganze Stadt, was hier losgeht«, sagte der älteste Offiziant mit geheimnisvollem Lächeln.

Unter dem Heiligenbild, welches immer in der rechten, sogenannten ersten Ecke des Zimmers angebracht ist, war ein schmaler, länglicher Tisch hingestellt worden, bedeckt mit einem schweren, weißen Damast.

Auf dem Tisch lag ein kostbares, schönes Bild der heiligen Mutter Gottes in reicher Goldverkleidung. Nur das Antlitz und die Hand der heiligen Jungfrau waren gemalt; ihr goldenes Gewand war mit echten, vorspringenden Perlen verziert und ihr Mantel auf einer Schulter mit einer reichen Spange aus Edelsteinen zusammengerafft; im goldenen Heiligenschein schimmerten bunt drei große Sterne aus Rubinen und Smaragden.

Anton Antonowitsch betrachtete das Muttergottesbild mit großem Stolz, bekreuzigte sich und murmelte:

»Eines solchen Heiligenbildes braucht sich selbst eine Fürstentochter bei ihrer Verlobung nicht zu schämen.

Darauf untersuchte er, ob das goldene, gefüllte Salzfäßchen fest in dem Kulitsch (hohes Ostergebäck, eine Art Milchbrot) stehe, warf noch einen flüchtigen Blick auf das Kreuz und das Evangelium, nickte befriedigt, und wendete sich dann an den ältesten Offizianten.

»Vergiß nicht, den kleinen Teppich, den man mir eben geschickt hat, vor den Altartisch zu breiten, aber nicht, zu nahe, damit sich der Batjuschka (Geistliche) zwischen Tisch und Teppich stellen kann.«

Jetzt trat auch Frau Gromow mit kleinen Schritten in den Saal.

Sie nahm sich gar feierlich aus in dem schweren, violetten Seidenkleid, das reiche Falten warf und bei der geringsten Bewegung knisterte.

»Ist alles nach Wunsch?« wendete sich die gute Frau sichtbar erregt an ihren Gatten.

»Alles in Ordnung«, nickte Gromow und fuhr fort, indem er wohlgefällig seine stattliche Frau betrachtete: »Hast dich ja recht früh angekleidet, Awdotja Iwanowna. Die Verlobung findet ja erst um acht Uhr statt.«

»Ach, Anton Antonowitsch, es ist schon sechs Uhr; die ersten Gäste werden gewiß bald kommen, und es wäre doch nicht anständig, sie warten zu lassen. Meinst du nicht, daß man auch schon die Lichter anzünden könnte?«

»Wenn du es wünschst, Awdotja Iwanowna!«

Gromow war heute in besonders weicher Stimmung und hätte um nichts in der Welt seine Frau gekränkt. Übrigens begann auch er unruhig zu werden, blickte öfters auf die Uhr und ging mit großen Schritten in den beiden Zimmern auf und ab, während die Offizianten alles festlich beleuchteten und Awdotja Iwanowna, ihr Spitzentaschentuch mit gekreuzten Händen im Schoße haltend, sich in einen Lehnstuhl niederließ.

»Was macht Sonitschka?« fragte endlich Anton Antonowitsch.

»Ich habe sie eben wecken lassen,« antwortete Frau Gromow, »ich bin recht froh, daß sie ein wenig geschlafen hat, das macht sie schön für den Abend.«

»Wer ist bei ihr?« fragte der Kaufherr weiter.

»Die zwei Stubenmädchen und die Njanja« (Kinderfrau.)

Die Offizianten waren hinausgegangen. Es war sehr still in den zwei großen, festlich erleuchteten Zimmern; man hörte nur das leise Ticken der Wanduhr und die festen, regelmäßigen Schritte Gromows.

Awdotja Iwanowna senkte den Kopf tiefer auf die Brust; fast wäre sie nach all den Anstrengungen, Mühen und Sorgen des Tages, trotz ihrer unruhvollen Erwartung eingeschlafen, als plötzlich von der Straße herauf ein Schnalzen mit der Zunge und ein langgedehnter, zischender Laut hereindrangen, dazu die Worte: »Ruhig – Pferdchen!«

»Man kommt!« rief Herr Gromow, und das Ehepaar stellte sich vor die Saaltür, um die Gäste, zumeist nur Verwandte, zu empfangen.

Die Tür ging auf, und herein trat die Swacha (Heiratsvermittlerin) Anna Petrowna.

Sie nahm sich kaum Zeit, die Gatten zu begrüßen, und fragte gleich:

»Was macht denn unsere Schönheit, was macht das Täubchen? Also endlich haben wir ihn erlebt, diesen langersehnten Tag; nun Gott sei Lob und Dank! Das arme, arme Täubchen! Wo steckt sie? damit ich sie trösten kann!«

Sie war recht komisch, die gute Anna Petrowna mit ihrem roten Gesicht und den kleinen, listig blinzelnden Augen. Sie trug einen gelbseidenen Rock, und einen dunkelroten, wollenen Überwurf, der augenscheinlich nicht für sie gemacht war. Statt eines Kragens hatte sie um den Hals ein schwarzes Sammetband geschlungen, an dem ein riesengroßes, blauemailliertes Medaillon hing, das Geschenk einer jungen Frau, deren Glück sie kürzlich zustande gebracht hatte.

»Sonitschka ist in ihrem Zimmer und kleidet sich an«, sagte Awdotja Iwanowna und führte die Swacha bis zur Tür ihrer Tochter. »Gehen Sie nur hinein, Anna Petrowna!«

Nach diesen Worten kehrte Frau Gromow wieder in den Saal zurück, während Anna Petrowna, diskret an die Tür klopfend, mit süßlicher Stimme fragte: »Darf man herein, Täubchen?«

Im nächsten Augenblick wurde die Tür von der Njanja geöffnet, und die dicke Anna Petrowna trat tänzelnd, lächelnd und schwatzend ins Zimmer.

Der kleine Raum war urbehaglich mit seinen fast modernen, zierlichen Möbeln, auf denen die verschiedensten Toilettengegenstände herumgestreut lagen.

Sonitschka saß noch in einem kurzen, gestickten Rock auf einem niederen Sessel; zwei Mädchen knieten vor ihr und zogen ihr weiße, durchbrochene Seidenstrümpfe über die kleinen, rosigen Füße.«

»Sputet euch, geschwind«, wiederholte immer wieder die Njanja und blickte und lief von einer zur anderen.

»Anna Petrowna, bitte setzen Sie sich hier in den Lehnstuhl.«

Anna Petrowna machte sich's bequem und faltete die Hände.

»Nikita Prokopowitsch Patrikejew wird ein Musterehemann werden,« sagte sie nach einer kleinen Weile. »Wie er unser Täubchen jetzt schon liebt, Njanja, davon machst du dir keinen Begriff! Als ich das letztemal bei seiner Mutter war, da stürzte er mir entgegen: ›Nun,‹ fragte er, ›was sagt das Fräulein? Wird sie mich heiraten wollen?‹ ›Natürlich!‹ antwortete ich, ›Sie haben einen sehr guten Eindruck gemacht, Nikita Prokopowitsch.‹ Er war so froh darüber, daß er mich umarmte und küßte. Na, Täubchen, brauchst nicht eifersüchtig zu werden, ich bin ja eine alte Frau. Ganz blaß und mager ist er geworden vor lauter Liebe!« schloß Anna Petrowna und wackelte mitleidig -gefühlvoll mit dem Kopfe.

»Ach, das ist wohl das Kleid?« fuhr sie fort, stand auf und ging zum Bett, auf dem eine schwere Atlasrobe ausgebreitet lag. »Schön, sehr schön«, schmunzelte sie, mit Wohlgefallen den überladenen Aufputz von Schleifen, Bändern und Spitzen betrachtend. »Da gehen einem ja die Augen über vor lauter Reichtum.«

»Dafür sind wir auch die einzige Tochter«, meinte die Njanja und rief gleich darauf: »Geschwind, schnürt das Fräulein jetzt.«

Sonitschka war durchaus nicht wohl zumute. Die zierlichen Schuhe drückten sie, und die hohe, komplizierte Frisur verursachte ihr Kopfschmerzen. Den meisten Kummer bereitete ihr jedoch das Schnüren, das die zwei Mädchen besorgten, indem eine jede an dem langen Schnürsenkel zerrte und zog.

»Genug, genug«, stöhnte Sonitschka und verzog weinerlich den Mund.

»Mein Seelchen, mein Täubchen, noch ein klein wenig«, bat die Njanja und preßte mit beiden Händen das Korsett zusammen.

Auch Anna Petrowna war hinzugetreten.

»Noch ein bißchen Geduld, Sophia Antonowna, gleich wird's gut sein; aber denken Sie doch, heute abend müssen Sie die Schönste sein und alle ausstechen!«

Sonitschka erwiderte nichts mehr und beschloß, alles über sich ergehen zu lassen.

»Sonitschka, ich bin's«, ertönte plötzlich die Stimme ihrer Freundin, und Lisa hüpfte in einem weißen, mit kirschroten Bändern verzierten Mullkleid herein.

»Guten Abend, Njanja, guten Abend Anna Petrowna – wer kannte Anna Petrowna nicht! – Verschaffen Sie mir doch nächstens auch einen so guten Bräutigam wie ihn, Sonitschka. Herr Gott, du bist ja ganz blaß – wohl zu fest geschnürt?«

»Ach, gar nicht zu fest, Fräulein«, antwortete die Njanja ärgerlich und fügte hinzu: »Hör' nicht darauf, Seelchen, bist gar nicht blaß. Bitte, Anna Petrowna, helfen Sie mir jetzt.«

Während sich die beiden Frauen am Verlobungskleid zu schaffen machten, zog Lisa ihre Freundin zum Spiegel.

»Na, glaubst du, daß du ihm so gefällst? Die wollen immer nur recht rotwangige haben!« Und leise flüsternd fügte sie hinzu, indem sie aus ihrer Tasche ein rundes, flaches Schächtelchen zog:

»Bevor du aus deinem Zimmer trittst, legst du dir heimlich etwas von dem Puder auf die Wangen. Dann bist du schön wie eine Zarin.«

Sonitschka schob mit einem innigen Dankesblick das Kästchen hinter den Spiegel, drehte sich um, und neigte gleich darauf ihren Kopf, da die beiden Dienerinnen das Kleid bereithielten, um es ihr überzuwerfen.

Die Tür ging wiederum auf, und herein trat eine ältere Frau, die Patin Sonitschkas.

Sie küßte das junge Mädchen auf die Stirn und bekreuzte es. Sie hatte beim Eintreten die Tür offen gelassen; einige Frauen standen auf der Schwelle und blickten neugierig ins Zimmer. Nach und nach traten sie näher und ließen ihre Blicke teilnehmend und abschätzend über Sonitschka gleiten.

Es wurde allmählich schwül in dem kleinen Raum von den vielen Frauen. Eine jede gab halblaut ihre Meinung zum Besten und erteilte einen Rat, machte einen Vorschlag und riskierte eine harmlose, kleine Anspielung.

Es entstand ein ganz eigentümliches Gesumme, in welchem nur hier und da das kurze Lachen Lisas und die resolute Stimme der Njanja deutlich vernehmbar waren.

»Mein Täubchen, du solltest doch noch ein Armband anlegen, sieh – dieses breite da mit den Perlen, hier würde das große goldene Kreuz gut hinpassen; jetzt nimm doch die schönen Korallenohrringe oder die von Granaten, oder besser noch – die schweren, goldenen.«

Die Njanja war in großer Verlegenheit; sie hätte nach Bauernart gern einen ganzen Juwelierladen über Sonitschkas Hals und Armen ausgeschüttet.

Das junge Mädchen tat mechanisch, was man ihr sagte, und bemerkte es gar nicht, wie bald die eine, bald die andere Hand an ihr herumnestelte, wie ein Armband nach dem anderen ihr angelegt, dann abgenommen, dann wieder – dank der Njanja – angelegt wurde, wie man sie drehte und schob, küßte und streichelte; sie stand da, die Hände mutlos gesenkt, wie eine Märtyrerin, der man die Dornenkrone aufzusetzen im Begriff ist.

Anna Petrowna war schon seit einiger Zeit aus dem Zimmer verschwunden, und schritt in großer Aufregung durch die Empfangsräume. Dann und wann warf sie einen ungeduldigen Blick auf die Uhr und seufzte immer: »Ach Gott, ach Gott!« Dann wieder blieb sie stehen und knüpfte ein kurzes Gespräch mit einer alten Verwandten an, wobei sie es nicht unterließ, sich und die Rolle, die sie am heutigen Abend spielen sollte, gebührend hervorzuheben.

»Ja, denken Sie sich nur die Lage der beiden jungen Leute, wenn ich nicht dagewesen wäre und sie nicht zusammengeführt hätte! Aber ich habe mich auf meine alten Beine gemacht und bin gelaufen und habe gesprochen und geredet ... Oh, es war ein hartes 5tück Arbeit, doch nun belohnt mich Gott durch das Glück der Kinderchen! ... Ach Gott, ach Gott!« seufzte sie wieder und blickte auf die Uhr, deren Zeiger auf sieben stand. »Wann werden sie endlich kommen?«

Endlich stahl sie sich, da sie es vor Ungeduld nicht mehr aushalten konnte, aus den Zimmern und eilte auf die Außentreppe, die in den Hof hinabführte.

Der große, viereckige Hof lag öde und verlassen da; die beleuchteten Fenster warfen helle Lichtflocken auf den glitzernden Schnee. Am Ende des Hofes, gegenüber der Treppe, war ein hoher Holzstoß aufgeschichtet.

Das aus den Fenstern strahlende Licht beleuchtete das Gesicht eines flachshaarigen Jungen, dessen Augen neugierig in die Zimmer hineinlugten.

»Du Schlingel!« rief die Swacha, während sie vor Kälte mit den Zähnen klapperte, »lauf' 'mal vors Tor und schau, ob sie kommen!«

Ob sie kommen!

Jeder im Hause wußte, wer alles unter dem sie gemeint war.

Behende wie ein Affe kletterte der Knabe vom Holzstoß herab, schlug seinen kurzen Schafspelz fester über das rote Kattunhemd und eilte auf die Straße hinaus.

»Nun, wie steht's?« fragte Anna Petrowna nach einer Weile.

»Sie kommen, sie kommen!« rief der Bursche außer Atem, »fünf Schlitten habe ich gezählt, gleich sind sie da!«

Und ohne weiter auf die Frau zu achten, kletterte er wieder auf seinen Beobachtungsposten.

Anna Petrowna lief, so schnell es ihr Umfang erlaubte, die Stufen hinauf und stürzte in den Saal mit den Worten: »Sie kommen, sie kommen!«

Und »Sie kommen!« klang es wie ein Echo von Mund zu Mund.

Frau Gromow war nahe daran, alle Haltung zu verlieren.

»Wo ist Sonitschka?« fragte sie unruhig.

»Sonitschka, man rufe Sonitschka, Sonitschka soll kommen!« riefen alle im wirren Durcheinander.

Die Swacha, zufrieden mit dem Eindruck, den ihre Ankündigung auf die Gesellschaft hervorgebracht, eilte ins Vorzimmer, und von da auf die Freitreppe.

Der erste Schlitten war eben vorgefahren.

Der Bräutigam Nikituschka sprang rasch heraus und reichte seiner Mutter, die in einen weiten Atlaspelz eingehüllt war, hilfreich die Hand.

»Treten Sie ein, Anna Nikolajewna«, sagte die Swacha zu Frau Patrikejew und fragte gleich darauf mit glückseligem Lächeln: »Sie haben gewiß viele Gäste mitgebracht?«

»Nur die nächsten Verwandten«, antwortete Patrikejew selbstgefällig, während sich das Vorzimmer immer mehr füllte, »zwanzig Personen! Na, über Mangel an Verwandtschaft kann sich die Braut nicht beklagen.«

Während sich die Gäste ihrer Mäntel und Hüte entledigten, winkte Anna Nikolajewna Patrikejew ihren Gatten herbei und sagte leise:

»Ich beschwöre dich, Prokop Iljitsch, denke daran, daß heute deines Sohnes bedeutsamster Tag ist, also benimm dich würdevoll und gib dir keine Blöße vor der ganzen fremden Verwandtschaft.«

»Sei ganz ruhig, glaubst du, ich verstünde mich bei fremden Leuten und feierlichen Gelegenheiten nicht zu benehmen?«

Endlich betraten alle in langer Reihe den Saal.

Welch eine Stille folgte plötzlich auf das Gesumme und Gesurre! Wie die alten Verwandten im Nebenraum die Köpfe zusammensteckten und die Braut vorschoben! Wie theatralisch und effektvoll klang jetzt die sakramentale Phrase von Herrn Gromows Lippen: »Wir bitten ergebenst in das Gastzimmer!«

Sonitschka sah, daß plötzlich sehr viel Menschen auf sie zutraten und sich verbeugten, sie fühlte, wie ihre Patin ihr einen leisen Stoß versetzte, und hörte die Worte: »So grüß' doch!« Dann verschwamm alles vor ihren Augen, sie griff hastig nach der Lehne eines Stuhles und ließ sich fast bewußtlos in den Sessel nieder.

Als sie es endlich wagte, die Augen zu erheben, fielen sie auf Nikituschka, der am anderen Ende des Zimmers saß und in der Tat, wie Lisa es vorausgesagt hatte, seine Braut »mit den Blicken verschlang«. Sonitschka wurde sehr verlegen und glättete die Spitzen ihres Taschentuchs, das sie krampfhaft in der Hand hielt.

Alle Anwesenden schwiegen und betrachteten einander mit fast feindselig-kritischen Blicken. Die beiden »Verwandtschaften« saßen einander gegenüber wie zwei feindliche Parteien, und nur die Swacha, die sich noch immer nicht beruhigte, hätte gern die beiden Gruppen mit hoch emporgehobenen Händen gesegnet und sie alle zusammen an ihre wogende Brust gedrückt.

Unter anregendem Schweigen wurde es endlich acht Uhr.

Sonitschka fragte sich schon, wie lange sie noch so dasitzen würde, und tauschte manchmal verständnisinnige Blicke mit Lisa, die sich mit der größten Ungeniertheit Nikituschkas volles, blondes Gesicht besah.

Der Mund ist nicht übel, dachte sie – na, der Schnurrbart ist nur eben schwach angedeutet. – Gott, was hat er für einen roten Hals! Warum macht er nur so komische Augen? Jetzt reißt er sie auf, nun klappt er sie zu – – – er sieht recht dumm aus! Und Sonitschka – wie sie steif dasitzt in dem schweren Atlaskleid; sie sollte doch nicht immer ihr Spitzentuch plätten, das macht sich gar nicht gut! Na, sie wird doch nicht zu weinen anfangen, ach nein, sie unterdrückt bloß ein Gähnen. Es ist aber auch wirklich zu langweilig.

Glücklicherweise ließ der Geistliche nicht lange mehr auf sich warten.

Die Saaltür ging auf, und herein trat im neuen, dunkelbraunen Alpakatalar der Vater Vassili, gefolgt vom Diakon und dem Kirchendiener.

Alle erhoben sich und schritten dem Geistlichen entgegen, um den Segen zu empfangen und sein »Händchen« zu küssen.

Vater Vassili war ein mittelgroßer, ziemlich starker Mann, mit langem, dunkelblondem Bart und rötlichem, künstlich gewelltem Haar, das ihm in langen Strähnen über die Schultern fiel. Die grauen, schlauen Augen blickten jeden durchdringend an, während die vollen Lippen sich häufig zu einem ironischen Lächeln verzogen.

Vater Vassili zählte zu den wenigen aufgeklärten Popen; er war überaus ehrgeizig und hoffte, mit Hilfe einflußreicher Verbindungen bald nach Moskau versetzt zu werden. Er vermied es, sich mit dem armen »Pöbel« abzugeben, sondern hielt sich – nicht nur als Geistlicher, sondern auch als Freund – an die wohlhabenden Kaufmannsfamilien.

Da er nicht übermäßig teuer war, das heißt Klugheit genug besaß, keine bestimmte Summe für gewisse Zeremonien, wie Verlobungen, Hochzeiten und Beerdigungen, zu verlangen, sondern es immer den reichen Kaufleuten überließ, ihn nach ihrem eigenen Gutdünken zu honorieren, so erfreute er sich des Rufes eines sehr braven, durchaus nicht interessierten Geistlichen, dem das Seelenheil seiner Gemeinde näher ging als sein eigener Vorteil.

Nachdem sich die kleine Unruhe gelegt hatte, nahmen wieder alle ihre Plätze ein; dem Vater Vassili wurde ein besonders bequemer Lehnstuhl hingeschoben, in den er sich ächzend und krächzend niederließ.

Der Diakon und der Kirchendiener setzten sich im Nebensaal vor die Gastzimmertür.

»Es ist wohl Zeit, daß wir beginnen«, wendete sich Vater Vassili nach einer kurzen Ruhepause in leisem Flüsterton an Herrn Gromow.

Bei diesen Worten stand er auf, und machte dem Kirchendiener und dem Diakon ein Zeichen, worauf sich die beiden Männer erhoben, und die großen, schönen Wachskerzen auf dem Altartisch anzündeten.

Der Geistliche trat zu Sonitschka, nahm sie bei der Hand und ging mit ihr zum Bräutigam, den er ebenfalls bei der Hand faßte.

In dem Augenblick händigte ihm Patrikejew, durch ein energisches Zeichen seiner gestrengen Gattin daran erinnert, die zwei goldenen Trauringe ein, worauf sich die ganze Gesellschaft erhob und dem Vater Vassili in den Saal folgte.

Dort stellten sich die Brautleute auf den schmalen Teppich, der Geistlich vor den Tisch, der Diakon und der Kirchendiener ihm zur Seite.

Die Feierlichkeit begann.

Woran dachten wohl Sonitschka und Nikituschka, während die Messe gelesen wurde und die verschiedenen, halb gesungenen Gebete sie bei jedem Nennen ihrer Namen daran erinnerten, daß sie, obzwar einander noch völlig fremd, nun schon fast wie ein Ehepaar fürs Leben verbunden waren?

»Tauscht dreimal die Ringe!« unterbrach jetzt der Geistliche den Gedankengang der jungen Leute, indem er ihnen die goldenen Reifen an den Zeigefinger der rechten Hand steckte.

»Küßt euch dreimal!« gebot Vater Vassili weiter, indem er lächelnd auf das verlegene Paar blickte.

Der arme Nikituschka. Wie ungeschickt näherte er sich seiner hübschen Braut, die in diesem Augenblick viel darum gegeben hätte, unvermählt bleiben zu dürfen, bloß um sich diesen Kuß vor Zeugen ersparen zu können.

Da es aber keinen Ausweg gab, stand sie still und steif da, während ihr Nikituschka den ersten, schüchternen Verlobungskuß auf die frischen Lippen drückte.

Sonitschka schloß die Augen.

»Wird er mich noch zweimal küssen?« fragte sie sich ängstlich.

Doch zu ihrer großen Erleichterung blieb es bei diesem einen Kuß.

Vater Vassili legte die Hände noch einmal segnend über das Brautpaar und entfernte sich vom Tisch.

»Segnen Sie die Tochter«, wendete sich nun der Diakon an Herrn Gromow und überreichte ihm das Heiligenbild, während Frau Gromow aus den Händen des Kirchendieners »Brot und Salz«, d. h. den Kulitsch mit dem goldenen Salzfäßchen in Empfang nahm.

Aller Anwesenden bemächtigte sich eine große Aufregung.

Sonitschkas Eltern stellten sich jetzt auf den Platz des Geistlichen.

Anton Antonowitsch war nahe daran, seine Ruhe zu verlieren, als seine Tochter das Heiligenbild, das er ihr entgegenhielt, küßte und sich ihm dreimal zu Füßen warf, während Nikituschka seinerseits vor der sichtbar erregten Frau Gromow drei Kniefälle machte. Als aber Nikituschka vor das Heiligenbild trat, während Sonitschka schluchzend der Mutter Füße umarmte, da zog manch eine ihr Tüchlein heraus, um die hervorquellenden Tränen zu trocknen.

Sonitschka fühlte sich wie zerschlagen, als sie sich erhob.

»Wein' nicht mehr, sonst wirst du häßlich«, flüsterte ihr Lisa ins Ohr.

Alle standen noch im Saal, schüttelten sich die Hände und beglückwünschten sich gegenseitig.

Die große Rührung war endlich einer allgemeinen Freude gewichen.

Selbst Frau Patrikejew drückte Sonitschka herzlich an ihre Brust und küßte sie auf die Stirn, während das braune Köpfchen der Schwiegertochter sich auf ihre Hand senkte und zwei zitternde, heiße Lippen dieselbe küßten.

Herr Gromow begleitete die Geistlichkeit ins Vorzimmer.

»Es tut mir wirklich sehr leid, Batjuschka, daß Sie heute abend nicht bei uns bleiben wollen.«

»Leider ist es mir unmöglich, Anton Antonowitsch, ich muß noch meine Predigt für morgen ausarbeiten.«

»Nun, so erlauben Sie mir wenigstens, Ihnen zu danken«, dabei drückte ihm Gromow mehrere Zehnrubelscheine in die Hand. »Morgen wird Ihnen mein Ladendiener Altas zu einem Talar bringen; auch Ihnen«, wendete sich der Hausherr an den Diakon.

Der Kirchendiener machte sich mit dem Weihrauchfaß zu schaffen, während seine Augen nach einem Paket schielten, das auf einem Stuhl lag.

»Ich bitte Sie, das Paket mitzunehmen; es enthält schwarzes Tuch für einen Anzug«, sagte Gromow.

Als Anton Antonowitsch zu den Gästen zurückkehrte, hatten diese sich bereits ins Gastzimmer zurückgezogen.

Sonitschka und Nikituschka saßen stumm auf dem Sofa und wurden von den Verwandten angestarrt, was sie in die größte Verlegenheit brachte.

Glücklicherweise unterbrach das Eintreten eines Offizianten, der ein Glas auf einem silbernen Teebrett hereinbrachte und in der Hand eine Flasche Champagner hielt, die Stille, die sich nach der Aufregung wieder eingestellt hatte.

Die Swacha sprang auf und stellte sich neben das Sofa, an die Seite des Bräutigams.

Über alle Gesichter flog ein übermütiges Lächeln.

Herr Patrikejew nahm als erster das gefüllte Glas, schritt damit auf die Brautleute zu, trank es in großen Zügen auf ihr Wohl aus, schnalzte mit der Zunge und sagte dann, indem er das junge Paar scharf fixierte:

»Der Wein ist bitter!«

»Wan muß ihn versüßen!« riefen alle Männer.

Die Frauen lächelten bedeutungsvoll, und Lisa rutschte vor Vergnügen auf ihrem Stuhl hin und her.

Die Swacha beugte sich mit fröhlichem Augenzwinkern zu Nikituschka.

»Nun hilft Ihnen nichts; Sie müssen den Wein nach altem Brauch versüßen und ihre Braut küssen.«

Sonitschka hatte die Worte gehört; sie war sehr böse auf die ganze Gesellschaft, die sich einen solchen Scherz erlauben durfte. Aber doch da war wirklich nichts zu machen.

Die Brautleute mußten aufstehen, sich vor Patrikejew verneigen und einander küssen.

Die Gäste alle, Männer und Frauen, traten nun nacheinander auf das Brautpaar zu.

Die Frauen nippten bloß von dem Glas, das immer auf's neue gefüllt wurde, und verbeugten sich steif und altmodisch, die Männer aber fanden fast ohne Ausnahme den Wein »bitter« und bestanden darauf, daß er versüßt werde, so daß Sonitschka aus der Verlegenheit gar nicht herauskam.

Endlich war die Gratulation zu Ende.

Der Abend nahm jetzt seinen gewöhnlichen Verlauf.

Die Männer zündeten ihre großen Pfeifen an, einige setzten sich in entferntere Zimmer und spielten Karten, andere – unter welchen sich natürlich Patrikejew befand, eilten zu dem Tisch, der mit Zakußka und verschiedenen Getränken überladen war.

Die Frauen bildeten kleinere Gruppen und besprachen mit halblauter Stimme die Eindrücke der Feier.

»Wollt ihr nicht im Saal ein wenig auf und ab gehen?« fragte Frau Gromow die jungen Leute, die noch immer stumm nebeneinandersaßen.

Nikituschka stand auf.

»Gehen wir«, sagte er zu Sonitschka, die sich ebenfalls erhob und gesenkten Kopfes ihrem Bräutigam folgte.

Eine Zeitlang wandelten sie schweigend und ohne sich anzusehen, auf und ab, nur wenn sie an den Spiegeln vorbeikamen, betrachteten sie einander neugierig.

Sonitschka fand immer mehr Gefallen an ihrem Bräutigam, ja sie fühlte, wie die Befangenheit allmählich von ihr wich, so daß sie als die erste zu sprechen begann und fragte:

»Jetzt nach der Verlobung werden Sie wohl jeden Tag zu uns kommen?«

Nikituschka war glücklich, selbständig ein Gespräch führen zu dürfen, und antwortete mit einem Feuer, das man ihm nie zugetraut hätte:

»Ach, ich wollte, ich brauchte gar nicht mehr fortzugehen!«

Sonitschka bekam heftiges Herzklopfen.

»Sind Sie so sehr in mich verliebt?« fragte sie naiv und erschrak selbst über ihre Frage.

Nikituschka war recht ärgerlich, denn er wäre jetzt am liebsten, wie es die Romane vorschreiben – seiner Braut zu Füßen gefallen, sah sich aber durch die vielen Anwesenden in jeder freien Äußerung seiner Empfindungen behindert. Im Hinblick auf die Gäste im Nebenraum sowie auf die Offizianten, die im Saal geschäftig hin und her liefen und die lange Tafel deckten, begnügte er sich daher mit der Antwort:

»Ach, Sie wissen gar nicht, Sophia Antonowna, wie sehr ich Sie anbete!«

»Sie freuen sich wohl sehr auf die Hochzeit?« lispelte Sonitschka.

»Ja, sehr«, bestätigte Nikituschka lebhaft. »Ich will Ihnen auch sagen, warum: Ganz abgesehen davon, daß ich gerade Sie heirate, werde ich auch im Hause eine ganz andere Stellung haben als bisher. Sie ahnen es gar nicht, wie streng meine Mutter ist; und als lediger Sohn mußte ich mich bis jetzt allen Befehlen gehorsam fügen. Nicht eine Pfeife, nicht eine Zigarette durfte ich ohne ihre Einwilligung rauchen! Freuen Sie sich auch auf die Hochzeit?« fragte er nun seinerseits.

»O ja«, nickte Sonitschka. »Mütterchen hat schon eine Menge Kleider für die Ausstattung bestellt, aber das Brautkleid ist das schönste; es ist ganz aus weißem Atlas –«

In diesem Augenblick hüpfte Lisa herein, um sich die festlich gedeckte Tafel anzusehen und das Brautpaar zu beobachten.

»Laß dich durch mich nicht stören!« raunte sie ihrer Freundin zu.

Sonitschka aber zuckte ärgerlich mit den Achseln.

»Mußtest du gerade jetzt kommen, wir sprachen eben über Liebe!«

Lisa hüpfte nun weiter zu den Tafeln, ohne sich weiter um die Verstimmung der jungen Leute zu kümmern, die wieder steif und schweigsam nebeneinander herschritten.

»Siehst du,« rief Lisa, indem sie auf zwei besonders schöne, in der Mitte der langen Tafelseite gedeckte Plätze deutete – »da kommst du hin, Sonitschka, und neben dir sitzt Nikita Prokopowitsch.«

Das Brautpaar betrachtete bewundernd den hufeisenförmig gedeckten Tisch, der von Blumen, Silber und Kristallen strotzte. Die schönsten und wertvollsten Gegenstände, die köstlichsten Blumen standen vor den Plätzen des Brautpaares.

»Ist das aber reizend! Wie hübsch wir uns da ausnehmen werden!« rief Sonitschka.

Würde sie jetzt jemand gefragt haben, ob sie ihren Bräutigam liebe, sie hätte aus vollem Herzen »ja« gesagt, so dankbar war sie ihm für die Rolle, die sie am heutigen Abend spielte, und die ihre Mädcheneitelkeit höchlichst befriedigte.

»Wenn er mich jetzt küssen wollte, ich hätte keine Angst mehr«, dachte Sonitschka.

Doch der ehrbare Kaufmannssohn wagte gar nicht daran zu denken, von einem Recht Gebrauch zu machen, zu dessen Ausübung er bis jetzt immer noch der Aufforderung »älterer, erfahrener Leute« bedurft hatte.

Lisa erfaßte rasch die ganze Situation.

»Gott, sind die Männer dumm!« entschied sie in ihrem Innern und warf einen mitleidigen Blick auf ihre Freundin.

Endlich, um Mitternacht, versammelte sich die Gesellschaft zum Abendbrot.

Die Swacha eilte auf Sonitschka zu, umarmte sie zärtlich und flüsterte ihr ins Ohr:

»Nun, mein Täubchen, sind Sie mit dem Bräutigam zufrieden? Ist er nicht ein schöner, guter Mann? Wenn Sie wüßten, wie er Sie anbetet!«

Und ebenso eilig und geheimnisvoll trat sie auf Nikituschka zu, um ihm ebenso leise zuzuraunen:

»Nun, mein schöner Herr, was sagen Sie zu Ihrer Braut? Ist sie nicht ein Engel? Wenn Sie wüßten, wie sie Sie liebt!«

Alle ließen sich auf die ihnen bestimmten Plätze nieder, und zwar die Frauen an die eine, die Herren denen gegenüber auf die andere Seite des Tisches.

Nur Herr Patrikejew setzte sich an Sonitschkas Linke, und Frau Patrikejew nahm neben ihrem Sohn Platz, während das Ehepaar Gromow den Brautleuten gegenübersaß.

»Gefällt sie dir noch immer?« fragte Anna Nikolajewna leise ihren Sohn.

»Mehr als je, Mütterchen.«

»Nur nicht zuviel Gefühl«, meinte die vorsichtige Frau Patrikejew und schüttelte bedächtig mit dem Kopf.

Jetzt wurden die Speisen herumgereicht.

Patrikejew wendete seine größte Aufmerksamkeit den vor ihm stehenden Flaschen zu, was Anna Nikolajewna, die sich manchmal vorbeugte, um ihren Gatten zu beobachten, mit wahrem Entsetzen erfüllte.

»Kneif' mal deinen Vater von rückwärts in den Arm und sag' ihm, daß er nicht so viel trinken soll, sonst zeige ich ihm, ›wo die Krebse überwintern‹, flüsterte Frau Patrikejew.

Nikituschka tat, wie ihm geheißen, doch Patrikejew, der tatsächlich schon angeheitert war, rief ganz laut:

»Aber Frau, so sei doch nicht auf die Braut unseres Sohnes eifersüchtig; wenn ich ihr auch den Hof mache, so kommst du doch nicht zu kurz dabei.«

Anna Nikolajewna wollte in die Erde sinken vor Scham und Ärger, um so mehr, als sie bemerkte, daß Herr Gromow seine Augenbrauen verwundert in die Höhe zog, und Awdotja Iwanowna ängstlich im Kreise herumblickte, ob niemand durch diese unpassende Rede verletzt sei.

»Bitte, stellen Sie die Weinflaschen weiter und schenken Sie meinem Manne seltener ein«, raunte Anna Nikolajewna einem vorübergehenden Offizianten zu, der den Befehl sofort und geschickt ausführte.

Das Essen nahm seinen Verlauf ohne weitere Störung.

Vor dem zweiten Braten erschien der älteste Offiziant mit mehreren Flaschen, die er auf ein kleines Tischchen neben sich hinstellte.

Darauf entrollte er eine lange Liste der nach Rang und Stand geordneten anwesenden Verwandten sowie derjenigen, die aus irgendeinem Grunde der Einladung nicht hatten Folge leisten können.

In wenigen Augenblicken waren die hohen, geschliffenen Gläser gefüllt. Der älteste Offiziant stellte sich in Positur und rief mit einer wahren Stentorstimme, indem seine Augen die Versammelten stolz überflogen:

»Auf das Wohl der Braut und des Bräutigams!«

Alle erhoben sich von ihren Plätzen, verneigten sich gegen das Brautpaar und leerten die Gläser in einem Zug.

»Der Wein ist bitter!« riefen wiederum einige Spaßvögel, unter denen Patrikejews Stimme am vernehmlichsten klang. So war das Brautpaar neuerdings gezwungen, nach altem Brauch den verleumdeten Wein zu versüßen.

Sonitschka ging bereits lächelnd auf den Scherz ein, während Nikituschka im stillen noch viele solcher Aufforderungen herbeisehnte.

Die Gläser wurden abermals gefüllt.

»Auf das Wohl von Prokop Iljitsch und Awdotja Nikolajewna«, rief der Offiziant, die Namen von der Liste herablesend.

Wiederum standen alle auf, wieder verneigten sich alle gegen die Gerufenen, doch leerten sie diesmal das Glas nur zur Hälfte, denn fast gleich darauf ertönte auch die Stimme des Offizianten:

»Auf das Wohl von Anton Antonowitsch und Awdotja Iwanowna!«

Das Klappern mit Messern und Gabeln, das Rücken der Stühle, das leise Kichern der Frauen, das laute Lachen der Männer, die Rufe »der Wein ist bitter«, das Anstoßen mit den Gläsern, das alles verstummte, wenn der Offiziant den Namen eines abwesenden Verwandten rief.

Die einen wechselten einen Blick, die anderen ließen ihre Augen suchend um die Tafel schweifen, andere richteten sich halb auf, erhoben die Gläser und blickten verdutzt um sich.

»Abwesend!« verkündete Gromow laut und feierlich.

Darauf setzten sich alle wieder und nippten nur leicht vom Wein, indem sie in Gedanken den Abwesenden leben ließen.

»Sonitschka, trink' nicht so viel«, sagte Awdotja Iwanowna besorgt, als sie sah, daß Sonitschkas Wangen immer röter wurden, und:

»Nikituschka trink' nicht so viel«, sagte auch Anna Nikolajewna, die während des ganzen Abends an ihrem Sohne herumhofmeisterte.

Patrikejew, der noch einige Mal Wein verlangt hatte, den man ihm jedoch nicht einschenkte, beherrschte sich noch so weit, daß er keinen Skandal machte, und allmählich überkam ihn eine solche Müdigkeit, daß er einnickte und seinen schweren Kopf auf Sonitschkas Schulter fallen ließ.

Alle schienen sich sehr gut zu unterhalten.

Hie und da flogen Scherzworte von einem Ende der Tafel zum anderen, die stürmisch belacht wurden.

Selbst die Hauen wagten sich immer mehr aus ihrer passiven Heiterkeit heraus, und gar manche von ihnen gab eine lustige Geschichte aus der guten, alten Zeit zum besten.

Lisa saß neben der Swacha, die von den vielen Getränken ganz erhitzt aussah, und schien eifrig über etwas mit ihr zu sprechen, wobei sie immer wieder nach einem jungen Manne schielte, der am oberen Ende des Tisches saß und es schon beim Beginn der Tafel versucht hatte, durch beredte Blicke seiner Bewunderung Ausdruck zu geben.

»Sei ruhig, Seelchen, ich werde dir auch einen schönen Bräutigam finden«, lallte die Swacha, die keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte und in ihrer Verwirrung das junge Mädchen duzte. »Einen Bräutigam werde ich für dich finden, der noch weit besser ist als Nikituschka, denn was ist denn eigentlich an Nikituschka dran? – puah!«

Sie tat wieder einen herzhaften Schluck, der sie neu belebte.

»Sie sollen binnen wenigen Monaten verheiratet sein, Seelchen, einen echten Petersburger Kavalier sollen Sie haben; für die hiesigen Bauern sind Sie zu gut!«

»Ganz recht, einen Petersburger Kavalier,« nickte Lisa befriedigt, »denn die hiesigen Männer sind entweder Trunkenbolde oder dumm!«

Sie schleuderte einen verächtlichen Blick auf den zärtlich herüberblinzelnden Jüngling, der ganz erschrocken über die plötzliche Ungnade das Glas, das er eben in der Hand hielt, fallen, ließ, so daß es in Scherben brach.

»Das bringt Glück!« rief Gromow, der auch aufgetaut war, und erhob sein Glas. »Der letzte Schluck aus diesem Kelche sei dem Wohle des Brautpaares und dem unserer teuren Gäste geweiht! Wer ein guter Verwandter und treuer Freund ist, der folge meinem Beispiel!«

Mit diesen Worten leerte Anton Antonowitsch sein Glas und warf es in großem Bogen über seine Schulter in die nächste Ecke.

»Hurra!« schrien alle und leerten die Gläser bis auf den letzten Tropfen.

Surrend schwirrten die Kelche durch den Saal und zerschellten klirrend in der Ecke.

»Der Wein ist bitter!«

Und »Hurra!« ertönte es wieder, als sich das Brautpaar zum letztenmal küßte.

Auch Patrikejew war erwacht.

»Hurra!« schrie er und ließ den Teller seinem Glase nachfolgen.

»Hurra!« stimmten alle, selbst die Frauen, nochmals ein und umarmten einander im leichten Weinrausch.

– – – Es war drei Uhr geworden, als das Verlobungsfest in der eben geschilderten Weise zu Ende ging und ein Schlitten nach dem anderen die müden Gäste nach Hause brachte. – – –

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