Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIV.
Die wahre Gefahr für die Zivilisation

Washington, den 25. November

Auf den einleitenden Seiten dieser Schriftenfolge habe ich gesagt, daß die westliche Zivilisation im Begriff sei, einen schnell fortschreitenden Zersetzungsprozeß durchzumachen, einen Prozeß, der in Rußland schon vollendet ist und der sich über die ganze Welt ausbreitet. Es ist ein ungeheurer Weltprozeß, der eine noch nie dagewesene gemeinsame Tätigkeit aller Nationen fordert, wenn er aufgehalten werden soll, und ich begrüße diese Washingtoner Konferenz als den vielversprechenden Anfang einer solchen gemeinsamen Tätigkeit.

Jetzt, da die Washingtoner Konferenz ihren Spielraum und ihre Grenzen festgesetzt und sich ein bestimmtes Arbeitsgebiet ausgesucht hat, wird es zweckmäßig sein, wieder auf diese umfassendere Frage des allgemeinen Niedergangs zurückzukommen.

Nun gibt es hier in Amerika noch eine große Anzahl von Menschen, welche sich noch immer weigern, diesen intermittierenden und veränderlichen Prozeß anzuerkennen, diesen Prozeß, der wieder einsetzt, weiterläuft, eine Weile stehenbleibt, dann hastiger vorwärts eilt und der alles, was wir unter dem Begriff der Zivilisation zusammenfassen, zur endlichen Vernichtung mit sich fortreißt. Die bloße Behauptung, daß etwas Derartiges in Gang ist, wird als »Pessimismus« bezeichnet, und mit einer Art genialer Feindseligkeit widersetzen sie sich jedem Versuch, die Möglichkeit irgendeiner Handlungsweise ins Auge zu fassen, durch welche dieser Prozeß aufgehalten werden könnte.

Ich nehme an, daß sie das Ertönen eines Feuersignals oder das Tuten einer Automobilhupe auch »Pessimismus« nennen würden – bis sie durch die Sache selbst einen tüchtigen Stoß erhielten. Es würde denselben Eindruck einer unangenehmen Warnung auf sie machen und als Störung ihres ruhig hingleitenden Lebensweges erscheinen. Sie bestreiten, daß dieser angebliche Verfall im Gange ist, oder, was von einem gesunden praktischen Gesichtspunkte aus dasselbe ist, daß er sie oder irgend etwas, woran ihnen gelegen wäre, jemals erreichen wird.

Die Hungersnot in Rußland, die Zerstücklung Chinas, das Zurückfallen des südöstlichen Europa in einen Zustand der Barbarei, das Herunterkommen Konstantinopels auf das Niveau eines betrunkenen Bordells, der langsam nahende Zusammenbruch Deutschlands kümmert diese »Optimisten« in keiner Weise. Amerika fehlt es ja an nichts. Soll ich meines Bruders Hüter sein? Es ist nichts weiter als eine schlimme Phase »dort drüben«, und die Menschen müssen eben sehen, wie sie sich da herausfinden.

Wartet nur das Schwingen des Pendels ab, die Rückkehr der Flut. Die Dinge werden sich wieder ausgleichen – über Bergen von Leichen. Es sind schon solche bösen Zeiten gewesen in den fernen Landen drüben, die offensichtlich weniger von Gott bevorzugt worden sind als Amerika.

Es dürfte mithin doch am Platze sein, etwas weiter auf diese Sache einzugehen und die Gründe anzugeben, die mich zu der Annahme bewegen, daß in unserem System ein Fäulnisherd vorhanden ist, ein Kräfteverfall, der kaum zur Gesundung führen dürfte. Die Bewegung ist möglicherweise nicht die des schwingenden Pendels, nicht die einer Ebbe, auf welche die Flut folgt. Ferner ist es unvermeidlich, daß dieser Fäulnisprozeß nicht nur Europa und Asien, sondern auch Amerika angreifen wird.

Laßt mich in den allgemeinsten Wendungen wiederholen, was geschehen ist und gegenwärtig noch geschieht, um die Welt zu verarmen und zu zersetzen. Erstens sind sehr viele Menschenleben durch den großen Krieg vernichtet worden, vor allem in Europa. Meistens waren es die jungen Leute, die getötet wurden, welche sonst die Blüte der arbeitenden Massen jener Länder im gegenwärtigen Augenblick gewesen wären. Das ist an sich ein großer Verlust an Energie, aber er läßt sich wieder gutmachen. Eine neue Generation wächst heran, jene Millionen von Toten zu ersetzen und den wirtschaftlichen Verlust der tragischen und unglückseligen Vernichtung auszugleichen.

Ferner ist die außergewöhnliche Vergeudung an Sachwerten, an Energie und Rohmaterial, das lediglich zu Zerstörungszwecken verwendet wurde, ein unersetzlicher Verlust. Mit Arbeit und mit Mut lassen sich verwüstete Gebiete wiederherstellen, lassen sich frische Kräfte finden, die ungeheure Arbeitssumme wieder auszugleichen, welche auf die Herstellung von Sprengstoffen verschwendet worden ist. Viele herrliche Gebäude, Kunstwerke und Ähnliches sind vernichtet worden und können nie wieder hergestellt werden, aber ihre Stelle kann wohl eingenommen werden durch neue Anstrengungen einer schöpferischen, künstlerischen Kraft – wenn Fleiß, wenn Vertrauen, wenn Hoffnung vorhanden sind.

Weit ernster im Hinblick auf die Zukunft als die Vernichtung von Sachwerten oder von Menschenleben sind gewisse subtile Zerstörungen, weil sie eben jene Arbeitslust, jenen Mut, jene Hoffnung und jenes Vertrauen lähmen, welche die Vorbedingung aller Neuwerdung sind.

Allen voran geht die Verschuldung, die überall vorhanden ist, besonders aber in den europäischen Ländern. Die ganze Munition im Werte von Milliarden, die an der Front verknallt und zersplittert worden ist, mußte seinen Eigentümern abgekauft werden. Um es zu erlangen, mußte jede kriegführende Regierung Schulden machen. Menschenleben kosten wenig, aber Material kostet viel. Die europäischen Kriegsteilnehmer sind von Schulden schwer bedrückt, jeder europäische Arbeiter und Gewerbetreibende, jeder europäische Geschäftsmann ist ein Schuldner, auf jedem europäischen Unternehmen ruht eine erdrückende Steuerlast wegen dieser Schuld. Ein Versuch ist gemacht worden, diese unerträgliche Last von dem Sieger auf den Besiegten abzuwälzen, aber der Besiegte hatte schon soviel aufgeladen, wie er zu tragen imstande war.

Als die Menschen zuerst anfingen, Experimente mit Geld und Kredit zu machen, war das Los des Schuldners ein unerträgliches. Er konnte zum Sklaven seines Gläubigers werden, er konnte ins Gefängnis geworfen oder sonst schwer gestraft werden. Man fand aber bald, daß es nicht im Interesse der Allgemeinheit, ja nicht einmal im Interesse des Gläubigers war, den Schuldner zur Verzweiflung zu treiben. Man erfand bestimmte Prozeßverfahren für Bankrotteure, um sie wieder flott zu machen und soviel wie möglich aus ihnen herauszubekommen. Dann entließ man sie zu neuen Unternehmungen und zu neuen Hoffnungen.

Wir haben die gleiche Milde noch nicht auf den staatlichen Bankrott angewandt, vielleicht weil die staatliche Zahlungsunfähigkeit selten vorkommt. Darum finden sich jetzt in Europa Völker, die so mit Schulden und Strafsteuern überlastet sind, daß jeder Arbeiter, jeder Geschäftsmann von der Wiege bis zum Grabe unter dieser Last seufzen muß. Er wird ein Schuldhöriger seines einheimischen oder auswärtigen Gläubigers, und seine Unternehmungslust wird erdrückt und entmutigt durch diese Belastung. Die Verschuldung hat eine ungeheure und allgemeine Entmutigung ganz Europas zur Folge.

Aber auch dies braucht nicht notwendig die Wiederbelebung Europas zu verhindern. Es ist noch ein anderes und tieferliegendes Übel am Werk, das es den Menschen unmöglich macht, »an die Arbeit zu gehen«, um das zerstörte Wirtschaftsleben wieder aufzubauen. Das ist die fortschreitende Entwertung des Geldes. Europa kann nicht an die Arbeit gehen, kann seine Angelegenheiten nicht in Gang bringen, weil in einem großen Teile der Welt das Tauschmittel unzuverlässig und unbrauchbar geworden ist. Das ist die unmittelbare Ursache, welche die Zivilisation der Alten Welt zerstört.

Wir müssen uns erinnern, daß unsere ganze Wirtschaftsordnung auf dem Gelde beruht. Wir kennen keine andere Art, einen großen Geschäftsbetrieb zu leiten, eine Fabrik, ein großes Bauerngut, ein Bergwerk, außer durch Geldzahlungen. Bezahlung durch Sachwerte, Tauschhandel u. dgl. sind altertümliche und unbeholfene Aushilfsmittel; man kann sich unmöglich vorstellen, daß eine große Stadt wie Neuyork ihre Industrie und ihr Geschäftsleben auf einer so primitiven Grundlage weiterführen könnte. Jede moderne Stadt, London, Paris, Berlin, ist auf dem Fundament der Geldwirtschaft aufgebaut und würde in vollständigen Verfall geraten, wie Petersburg schon zusammengebrochen ist, wenn das Geld sie im Stiche ließe. Aber in großen und stets zunehmenden Gebieten von Europa ist der Wert des Geldes jetzt ein so schwankender, daß kein Mensch mehr dafür arbeiten will, daß niemand mehr den Versuch macht zu sparen, daß niemand sich mehr auf finanzielle Abkommen für die Zukunft einlassen will.

Dergleichen ist noch niemals in diesem Maße vorgekommen, und das ganze Geschäftswesen geht dabei zugrunde, so daß große Massen von Arbeitern erwerbslos sind.

Europa ohne zuverlässiges Geld ist ebenso gelähmt wie ein Gehirn, dem es an gesundem Blute fehlt. Es kann nicht handeln, es kann sich nicht mehr rühren. Erwerb wird unmöglich und die Produktion hört auf. Die Städte nähern sich langsam und sicher der Hungersnot, die Petersburg bereits verschlungen hat; die Bauern und Landwirte produzieren nicht mehr, als für die Befriedigung ihrer persönlichen Bedürfnisse notwendig ist. Produkte auf den Markt zu bringen außer zu Tauschzwecken ist die reine Komödie. Die Schulen werden nicht mehr ordentlich geleitet, ebensowenig die Krankenhäuser und die öffentlichen Anstalten. Lehrer, Ärzte, Beamte können nicht mehr von ihren Gehältern leben, entweder verhungern sie oder sie wandern aus.

Dieser Zustand ist eine Folge der leichtfertigen Ausgabe von Papiergeld durch beinahe jede europäische Regierung. Wir können uns einen Begriff von ihrer Leichtfertigkeit machen, wenn wir den Stand ihres Devisenkurses vor dem Kriege mit dem nach dem Kriege vergleichen. Erst jetzt fangen wir an, die Größe des Unheils zu ermessen, welches diese Entwertung des Geldes über die ganze Welt gebracht hat.

Wir haben das Bindeglied der Bargeldzahlung, welches bisher die Zivilisation zusammengehalten hat, geschwächt, daß es nahe daran ist, ganz abzureißen. Sobald dieses Glied reißt, steht die Maschine still. Die moderne Stadt wird ein ungeordneter Haufe arbeitsloser Menschen werden und das freie Land wird eine Wildnis sein, in welcher Bauern ihre Nahrungsmittel aufspeichern – und da die städtische Bevölkerung keine Nahrung haben wird und keine Mittel besitzt, sich welche zu verschaffen, so können wir uns auf die entsetzlichsten Unruhen gefaßt machen, bevor es uns gelingt, die Massen zu überreden, sich mit philosophischer Ruhe in ihr Schicksal zu ergeben.

Soziale Revolutionen entstehen nicht aus Verschwörungen, sie sind Symptome sozialer Mißstände. Sie sind nicht Ursache, sondern Wirkung. Das meine ich, wenn ich von dem Zusammenbruch der Zivilisation schreibe. Ich meine das Ende alles städtischen Lebens, das ohne Geld nicht fortbestehen kann, und das Aufhören aller organisierten Verkehrswege. Ich meine ein Zusammenbrechen der zum Zweck der Aufrechterhaltung der Ordnung bestehenden Organisationen. Ich meine das Ende des organisierten Unterrichtswesens.

Ich meine den Zusammenbruch unserer sozialen Ordnung durch den Zusammenbruch des Geldes. Dieser Zusammenbruch ist in Rußland bereits in weitem Umfang eine vollendete Tatsache, er bereitet sich in vielen Gebieten von Osteuropa vor, er ist binnen wenigen Monaten in Deutschland zu erwarten, er kann sich über Italien und Frankreich und von da nach England und selbst bis Amerika hinüber fortpflanzen. Er kann noch aufgehalten werden durch die angestrengte gemeinsame Tätigkeit der ganzen Welt, den Wert des Geldes wiederherzustellen.

Von dieser energischen gemeinsamen Tätigkeit sind freilich vorerst hier in Washington keine Anzeichen zu verspüren.


 << zurück weiter >>