Georg Wegener
Erinnerungen eines Weltreisenden
Georg Wegener

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10. Die rosenrote Stadt

[Initial M] Mit einem Male war das rollende und knatternde Geräusch der Bahn, das den ganzen Tag und die halbe Nacht hindurch das Gehör betäubt hatte, zu Ende, und die plötzliche Stille, die mich umgab, wirkte doppelt stark und eigen. Ich war der einzige Gast, der am Haltepunkt Jaipur, der Hauptstadt des gleichnamigen Staates in der indischen Radschputana, ausstieg. Der Mond war voll, und als ich das dunkle Bahnhofsgebäude durchschritten hatte, empfing mich eine märchenweiße Helle. Von dem weißgelben Sande des großen Vorplatzes und der von ihm ausgehenden Straße wurde der Schein widergestrahlt und umfloß in seltsamem Leben Nähe und dämmrige Ferne. Einige schöne, anscheinend reichgeschirrte Reitpferde standen in der Mitte des Platzes, leise mit den Hufen scharrend, jedes gehalten von einem indischen Soldaten, der, in sich zusammengekrochen, ein dicker, dunkler, lebloser Ballen, am Boden hockte; der schwarze Strich einer langen Lanze überragte den schwarzen Schattenriß. Auf wen sie hier warten mochten, wußte ich nicht, aber ihre Erscheinung mehrte nur das Phantastische dieser totenstillen weißen Nacht.

Jetzt löste sich aus dem Schatten am Bahnhofsgebäude eine dunkle Gestalt ab, kam auf mich zu und nannte mit gedämpfter Stimme – meinen Namen! – – Es war der indische Diener des Gasthauses, an das ich vorher geschrieben hatte; ein Wagen war ebenfalls zur Stelle. Rasch wurde mein Gepäck aufgeladen, und ich rollte in die lichte Mondnacht hinein. Bequem zurückgelehnt in den geräumigen Landauer, der mir in der Verklärung des Mondlichtes wie ein fürstliches Gefährt vorkam, genoß ich mit Entzücken die köstliche Kühle der Nacht und das tiefe Schweigen. Undeutliche Gestalten von kleinen Häusern und Hütten, von Hecken und Bäumen glitten vorbei. Fast lautlos gingen die Räder über den tiefen, weichen, mehligen Staub der Straße; es war, als schwebte ich leise durch die Stille.

Da, plötzlich, ein seltsamer Laut, schmerzerfüllt, wie das Klagen eines Kindes. In langen Schwingungen zitterte er durch die Nacht, ohne daß sich angeben ließ, woher er kam. Und nun noch einmal, noch schneidender, wie ein Ausdruck tiefster Qual und leidenschaftlichen Jammers. Ich war emporgefahren und starrte in die geisterhafte Dämmerhelle ringsum, ohne etwas zu gewahren. Jetzt aber brach ein Höllenspektalel los. Von nah und fern antworteten ähnliche Laute, bald dem Wimmern und Weinen menschlicher Kinder, bald dem Geheul verliebter Katzen gleich, bald so eigenartig gellend und schrill wie nichts anderes auf der Welt. Die Stimmen steigerten sich offenbar im Wettstreit eine an der andern, und das Geheul erfüllte als Klang ähnlich allenthalben die Luft wie der bleiche Mondschein als Licht.

Einen Augenblick – wenn auch nur einen – hatte ich gestutzt, dann erkannte ich das Gelärm. Es waren die Schakale, die kleinen, zwerghaften Wölfen ähnlichen Raubtiere, die nachts um die Gärten und Höfe der indischen Städte streichen und in hellen Mondnächten konzertieren. Überall mußten sie sein, rechts und links vom Wege und auch wohl auf ihm selbst; aber nichts war von ihnen zu sehen, ihre kleinen, grauen Gestalten zerflossen in dem weißen Mondlicht. Nur hin und wieder schien es, als ob man ganz dicht neben dem Wagen eines der Tiere gewahrte, schemenhaft wie ein kleines Gespenst und sich wieder auflösend in nichts, ehe man es fester ins Auge fassen konnte.

Endlich rollte mein Wagen in den großen Vorgarten des schlummernden Gasthauses; ein paar Gestalten mit Laternen kamen und geleiteten mich in mein Zimmer, das, im Oberstock gelegen, sich mit breiter Tür auf eine einsame, mondbeglänzte Terrasse öffnete. Noch lange, noch in den Traum hinein, hörte ich durch die offenstehende Tür das klägliche Heulen der Schakale, das klingt, als verkörpere sich in ihm all der jahrtausendelange, sonst stumm getragene Jammer, den Natur und Mensch in dem bei aller Lichtfülle so düsteren Lande Indien zu erdulden haben, und verschaffe sich eine Stimme der Anklage gegen den ehernen, mitleidslosen Himmel über ihnen. –

Am folgenden Tage war ich früh heraus. Das Gasthaus liegt noch außerhalb der Stadt, etwa anderthalb Kilometer von ihrem nächsten Tor entfernt. Eine Menge ärmlicher brauner Gestalten, meist Frauen und Kinder, kleine flache Körbchen auf dem Kopfe und wenig mehr als ein zerrissenes Tuch um die Glieder gehüllt, eilten zu ihrer harten Feldarbeit.

Bald belebte sich die Straße, auf der ich fuhr, reicher und reicher; sie füllte sich auch mit besser gekleideten Leuten und Wagen aller Art; ich näherte mich dem Stadttor. Schon lange war zur Linken in einiger Entfernung ein mäßig hoher, zierlich mit Zinnen versehener Wall über dem staubbedeckten Grün von Gärten sichtbar geworden, die Stadtmauer von Jaipur. Endlich öffnete sich in einem kastellartigen Vorbau der Eingang, durch den man nicht geradeaus, sondern, wie bei mittelalterlichen Befestigungen Europas auch, in rechtem Winkel in die Stadt hinein gelangt. Man quert zunächst einen großen, mit Befestigungen umgebenen Vorhof und dann erst das eigentliche Tor der Stadt.

Die Wälle, die diesen Vorhof umgeben, sind rosenrot angestrichen, und in dem Rot sind in weißer Farbe allerlei zierliche Arabesken ausgespart, Formen von Blättern und Blüten, Elefantenfiguren oder auch nur dekorative Liniengebilde. Rechts und links vom Toreingang prangen auf der Wand zwei riesige buntgemalte Männer, schnauz- und backenbärtige Krieger mit großem Turban, grimmem Blick und nußknackerartiger Steifheit.

Jetzt rollen wir durch das innere Tor. und nun tut sich eines der merkwürdigsten Städtebilder auf. die es auf diesem Planeten gibt.

Bis zum Anfang des achtzehnten Jahrhunderts war die Hauptstadt des Staates Jaipur die Stadt Amber, deren Ruinen noch heute, von einem der schönsten Schlösser Indiens malerisch überragt, einige Meilen nordwärts von hier zwischen den Bergen liegen. In einer echt orientalischen Laune, wie es heißt, weil er einen Traum von übler Vorbedeutung gehabt, beschloß der damalige Maharadscha Siwai Jai Singh eines Tages, diese Residenz zu verlegen. Sein allmächtiger Wille zwang die ganze Einwohnerschaft, nicht nur ihre bisherigen Häuser im Stich zu lassen, sondern auch die neue Stadt, die er ihnen anwies, ganz nach seinem Wunsche aufzubauen. Sie ist nach einem regelmäßigen Grundriß angelegt; sehr breite, schnurgerade Hauptstraßen durchziehen sie rechtwinklig von einem Tor zum andern, und wo sie sich schneiden, findet sich immer ein großer freier Platz. Die Häuser der Straßenzüge sind ebenfalls nach einheitlicher Formel errichtet, meist zweistöckig, dicht aneinanderschließend und alle in dem gleichen sarazenischen Stil erbaut, mit hufeisenbogigen Fenstern und zierlichem Gitterwerk. Vor allem aber sind sie allesamt rosenrot angestrichen, oder man kann auch sagen, mit einem blassen Himbeerrot, das der ganzen Stadt den Ausdruck gibt, als sei sie mit Limonade übergossen. Weiße Verzierungen sind überall in der blaßroten Farbe ausgespart. Hier und da unterbricht wohl ein etwas reicherer, zuweilen sogar ein sehr phantastischer Bau mit vielen Fenstern und Erkern die Gleichmäßigkeit der Straßenzeilen, aber auch er zeigt denselben Baustil und ist ganz ebenso rot angemalt. Da die Farben oft erneuert werden müssen, so sind sie fast überall frisch. Wenn ein Kind sich eine Stadt von Kuchen mit rosenrotem Zuckerguß und weißen Verzierungen darauf vorstellen will, dann kann sie ganz so aussehen wie Jaipur.

Vielleicht war es die Absicht des Fürsten, durch diese vergnügte Farbe seinem Volk vor Augen zu führen, daß das ganze Leben unter der Regierung eines solchen Fürsten rosenrot sei. Und wirklich, der erste Eindruck des Innern ist so. Für den Reisenden, der die Stadt zum ersten Male betritt, bietet Jaipur ein Bild des heitersten, sonnigsten und rosigsten Daseins, das sich denken läßt. Zu beiden Seiten des gutgepflasterten Mittelweges der Straße ziehen sich die Häuser entlang breite, durch einen fortlaufenden Bordstein abgesonderte Streifen, die tennenartig geglättet und abgeteilt sind. Das sind die offenen Verkaufsplätze der Basare. Große Haufen von Korn, von Gemüsen, von Früchten aller Art sind auf ihnen aufgeschichtet, und eine kaufende Menge drängt sich feilschend darum. In leuchtende Farben sind die braunen Gestalten der Bewohner gekleidet, die nach indischer Gewohnheit sich regellos über den Straßendamm verteilen, so daß es in belebten Straßen immer wie ein Volksauflauf aussieht. Zahlreiche Wagen rollen mit lebensgefährlicher Geschwindigkeit dazwischen hindurch. Die Kutscher schreien die nicht rasch genug Ausweichenden an, Ausrufer preisen ihre Waren; hier folgt uns eine Schar Backschisch heischender Kinder, dort tönt das Quälen eines einheimischen Musikinstrumentes. Ein wimmelndes Leben überall, an dem hier fast noch mehr als sonst in Indien die Tiere ihren Anteil haben. Frei trotten die heilig gehaltenen Kühe allenthalben durch die Straßen und mischen sich in das dichteste Gewühl der Menschen. An gewissen Stellen schütten ihnen reiche Bürger Futter hin, ein der Gottheit wohlgefälliges Werk; da drangen sie sich dann in Haufen auf dem Fahrdamm und weichen nur langsam unserm Wagen, oder vielmehr unserm vorauseilenden buntgekleideten Läufer aus. Auf den Zinnen der Dächer sieht man possierliche Affen herumturnen, und reizende grüne Papageien flattern dort hin und her. Wo die großen Hauptplätze sich ausdehnen, haben seit alter Zeit die Tauben ihre Futterplätze und zierlich in Stein gehauenen Tränkstätten; sie sitzen dort und picken in nach Hunderten und Tausenden zählenden Scharen. Wenn wir vorüberkommen, scheucht sie wohl ein auf unsern Backschisch rechnender Eingeborener auf, und wie eine blaugraue Wolke erfüllen sie, flügelrauschend den Platz.

Jetzt tönt ein fernes rhythmisches Klingen von hellen Glocken. Über den Häuptern des niedrigen Gewühls der Straße werden in der Ferne riesige Gestalten sichtbar wie wandelnde Berge. Das sind die Elefanten des Maharadscha. Langsam kommen sie heran, mit dem ernsthaft würdevollen Schritt dieser herrlichen Tiere. Sie tragen buntgesticktes Sattelzeug, von dem lange Glocken an Riemen frei herabhängen und unter ihrem Bauche hin und her schwingen. Aber auch ihr Körper ist in bunten Farben bemalt, gelb und rot und blau in sonderbaren Schnörkeln; und die breiten Ohren schüttelnd, schreiten sie langsam an uns vorüber.

All das bunte Gewühl dieser rosenroten Stadt ist aber im letzten Grunde nur gedacht als der glanzvolle Rahmen für die Herrlichkeit des Fürsten. Inmitten der Stadt selbst liegt sein Palast. Nicht ein einzelnes, mächtig aufragendes Gebäude, sondern eine ungeheure Sammlung von Häusern und Höfen, von denen man von außen nichts gewahrt, als daß mitten in die Zeile der Bürgerwohnungen sich da und dort ein Bauwerk einschiebt, dessen Grundfarbe nicht rot, sondern gelb ist. Gelb ist die Sonnenfarbe, die dem Fürsten allein vorbehalten ist für seine Bauten, und diese gelben Gebäude sind die Toreingänge seines hinter den Straßenzeilen verborgenen Palastes.

Durchschreiten wir eines, so ist das bürgerliche Gewühl der Stadt hinter uns versunken. Eine endlose, schwer zu entwirrende Folge von Baulichkeiten dehnt sich vor uns aus, die ganz dem Maharadscha und seinem Haushalt dienen. Da sind die Räume seines Marstalls, wo in kaum übersehbaren Fluchten von Ställen die vielen Hunderte seiner Rosse stehen. Ein anderer Hof birgt die Elefanten. Köstlich ziselierte, wie Gold glänzende Messingtore, die sich nur für den Fürsten selbst öffnen – der Fremdling wird durch eine Nebentür geleitet –, schließen einen der inneren Höfe, wo große offene buntgemalte Hallen mit Spiegeln, Sesseln und schweren Sonnenvorhängen für die Audienzen und Empfänge verschiedener Art erbaut sind. Zu dem Wunderlichsten, was man auf der Erde sehen kann, gehört ein weitläufiger Hof, das Observatorium genannt, wo derselbe Vorfahr des gegenwärtigen Fürsten, der die Stadt Jaipur gebaut hat und der zugleich die Astronomie aus Liebhaberei übte, sich eine ganze Reihe der seltsamsten, für den Laien meist durchaus unverständlichen astronomischen Instrumente zur Bestimmung von Polhöhen, Sonnenzeiten, Sternörtern und dergleichen hat bauen lassen. Man hat zunächst den Eindruck eines umgekehrten Kinderspielzeugs. Wie ein spielendes Kind sich so etwas im Miniaturformat herstellen würde, so ließ sich, scheint es, der Sultan dies in einem phantastischen Riesenmaß und aufs kostbarste in schwerem Mauerwerk und Marmor ausführen. Da ist zum Beispiel eine gigantische Sonnenuhr, deren Schattenwerfer ein aufrechtstehendes Mauerdreieck von 27 m Höhe ist. Der Schatten der Sonne wandert den Tag über auf einem riesigen, aufrechtstehenden Mauerhalbkreis von solcher Größe entlang, daß er stündlich etwa 4 m zurücklegt, so daß der fürstliche Astronom das Vergnügen hatte, ihn mit bloßem Auge bequem fortrücken zu sehen. Die in den Erdboden eingelassenen Marmorschalen, auf deren eingeritztem Gradnetz man die Stellungswinkel der Sonne und des Mondes durch einen darauf geworfenen Schatten abliest, haben Durchmesser von mehreren Metern. Es handelt sich aber doch bei der Wahl dieser Riesenmaße nicht ganz um eine Spielerei; Fachleute haben mir gesagt, daß die Größe dieser Instrumente manche astronomische Beobachtung ermöglichte, die der Stand der damaligen Herstellung optischer Instrumente, zumal in Indien, noch nicht gestattet hätte.

Den Mittelpunkt des ganzen Palastes bilden mächtige, dichtwipflige Gärten, in deren Innerm man einsam wie im Walde ist. Nur die zinnengekrönten Höhen des alten, auf einem steilen Berge vor der Stadt gelegenen »Tigerforts« schauen über die Wipfel herein. Große bunte Pfauen schreiten neben uns her durch das Gebüsch.

Kostspielige, weitgeleitete Wasserwerke und Hunderte von Springbrunnen, die zu besonderen Festzeiten spielen, nehmen die inneren Teile des Gartens ein. Als Hintergrund ihrer Schauanlage baut sich das Allerheiligste dieses ganzen Schlosses vor uns auf, Tschandra Mahal, der eigentliche Wohnpalast und zugleich die »Zenana« oder der Harem der Frauen des Sultans; ein hohes neunstöckiges Bauwerk mit luftigen Galerien und graziösen Erkern. Es ist uns, als Frauenhaus, natürlich besonders unzugänglich; nur von fern kann das Auge dort, wo das untere Stockwerk in breiten Hallen sich auf eine Marmorterrasse öffnet, in die geheimnisvolle Purpurdämmerung kostbarer Stoffe und seltsamer Geräte hineintauchen.

Verfolgen wir die Wasserwerke bis zum entgegengesetzten Ende des Gartens, so kommen wir zu einem großen algengrünen, schlammigen See, den hohe Mauern umfriedigen. Das ist der Krokodilteich des Maharadscha. Der uns begleitende Diener stößt einen dumpfen Ruf aus, und siehe, da bewegt sich's in dem grünlichen Schlamm. Was wir etwa für alte Baumstämme gehalten, schwimmt langsam heran zum Fuß der Treppe, auf der wir stehen, und schnappt, mit riesigem, zähnestarrendem Rachen klappend, nach den Bissen rohen Fleisches, die ihm zugeworfen werden.

Auch dieser Krokodilteich ist eine Schattierung, die wohl in das phantastische Gemälde dieses indischen Fürstenhofes paßt. Es heißt, daß zwischen ihm und dem prunkvollen Haremsgebäude gegenüber zuweilen recht unheimliche Beziehungen walten; ähnliche wie zwischen dem Serail des Großherrn von Stambul und dem Bosporus, in den zuweilen nächtlicherweile ein zugebundener Sack hineinplumpsen soll; und daß er somit wesentlich dazu beiträgt, die Tugend in jenen heiligen Hallen zu fördern, wo man die Rache sehr wohl kennt.

Mindestens war das früher so, wie man bei solchen Geschichten als vorsichtiger Mann hinzufügt.


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