Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Visionen und Prophezeiungen.

Vit Gilles war der Aufforderung des Abtes nachgekommen und hatte sich nach einigen Tagen zur Abtei begeben.

Der Prälat begrüßte ihn auf's herzlichste. »Ich habe dich zu mir beschieden, Vit,« begann er, »um dich zu bitten, der Stadt bei der Anordnung des zur Verteidigung Nötigen behilflich zu sein. Ich habe mit dem Bürgermeister gesprochen. Bemerken will ich noch, daß Johannes Offerhausen von jetzt ab Schultheißendienst tun wird, und Jörris Knops wird das Bürgermeisteramt übernehmen. Dieser wird sich mit dir verständigen und mit den Innungsmeistern wirst du auch wohl fertig werden. Hier hast du meine Vollmacht.« Damit überreichte er ihm ein Pergament, an dem das abteiliche Siegel angebracht war.

Vit bedankte sich für das große Vertrauen und bat um nähere Angaben, wie er sich verhalten sollte.

»Darüber kann ich nichts sagen, Vit, ich muß das deiner Erfahrung und Klugheit überlassen, rechne aber auf keinen Fall, daß mit Geld etwas gemacht werden kann, denn ich habe keins. Es kommt nichts ein, und die Kasse ist leer. Die Hakenschützen des Klosters stehen unter deinem besonderen Befehl. Ich habe die auswärtigen teilweise auch hierhergezogen. Es sind im ganzen 95 Mann.«

»Hm, das ist nicht viel,« meinte Vit, »doch es sind stramme Kerle, mit denen sich etwas machen läßt. Ich werde sofort das Nötige anordnen!«

»Ich muß mich auf dich verlassen, Vit. Vom Kriegshandwerk verstehe ich nämlich nicht viel.«

»Ist auch nicht vonnöten,« meinte Vit.

In diesem Augenblicke trat ein Mönch ein und legte einen Pack Pergamentblätter auf den Tisch. Es war Bruder Cyrillus, der Archivar der Abtei.

»Zwei Übersetzungen der ›Prophezeiungen von Bruder Hepidamus‹, sowie der ›Wanderungen durchs Jenseits von Trithemius‹, welche Hochwürden mir vor einiger Zeit zur Bearbeitung übergaben.«

»Es ist gut, Cyrillus,« sagte der Abt. »Hier, Vit, – du hast mich neulich um Lesestoff gebeten – nimm eine Abschrift mit nach Hause und laßt sie euch von Paul vorlesen. Es ist eine höchst wichtige Prophezeiung, welche unsere Zeit betrifft und die ›Wanderungen durchs Jenseits‹ sind eine ernste Mahnung, die ihr vielleicht auch gebrauchen könnt. – Doch eins: Wenn ich etwas von Truppenansammlungen vernehme, so werde ich dich benachrichtigen, jedoch wirst du dich auch selbst darum kümmern müssen. Soviel steht fest, die Franzosen und Hessen sind im Anmarsch, und wenn General Lamboi sie nicht zurückschlägt, so werden sie uns bald überfallen. Ist dies der Fall, dann werde ich nicht hierbleiben können, sondern mich nach Köln begeben müssen, um dort mit den Befehlshabern zu unterhandeln. Vielleicht gelingt es mir, die Neutralität für Gladbach zu gewinnen. Aber woher das Geld nehmen? Es ist eine traurige Zeit, alter Freund! Hier hast du zwei Rollen Goldstücke; mehr kann ich dir nicht geben. Bestreite damit die nötigen Ausgaben im Interesse der Stadt und des Klosters. Die Zünfte werden wohl noch Geld haben.«

»Etwas wohl, aber nicht viel, die Gewerbe gingen zu schlecht. Aber wir wollen schon fertig werden, der alte Gott lebt ja noch und wird uns hoffentlich nicht im Stiche lassen.« Damit nahm Vit die Pergamentrolle und entfernte sich. Auf dem Klosterhofe begegnete ihm Bruder Romuald, der Medikus der Abtei, welcher im Städtchen allgemein bekannt und beliebt war. Ebenso erfahren in der Heilkunde, wie unermüdlich in der Krankenpflege, genoß er großen Ruf in der Bereitung von Kräutern und Salben, denn er wußte stets zu helfen und hatte für alles und für alle ein heilsames Tränklein oder sonst ein Mittel bereit.

Meister Vit bat Bruder Romuald, ihm einen starken Schlaftrunk mitzugeben, vielleicht brauche er denselben.

»Könnt Ihr haben,« antwortete der Mönch, »kommt nur mit.«

Sie schritten über den Hof und gelangten in eine kleine Zelle, wo allerlei Tiegel, Retorten, Krüge und Flaschen standen. Er übergab Meister Vit zwei Fläschchen mit dem Bemerken, recht vorsichtig zu sein, da von der grünen Flüssigkeit acht bis zehn Tropfen genügten, einen Scheintod, und, bei einem schwachen Menschen auch den Tod herbeizuführen.

Vit versprach die größte Vorsicht, bedankte sich und ging nach Hause, wo er die Fläschchen in einem kleinen Wandschranke verbarg.

Im Laufe des Tages begab Vit sich zum Bürgermeister und hatte mit demselben eine längere Unterredung. Der Bürgermeister war der Meinung, man sollte sich mit den umliegenden Städten verbünden und zusammenhalten, bis die Kaiserlichen den Franzosen große Truppenmassen entgegenwerfen könnten. Davon wollte Vit nichts wissen, er wollte vielmehr die Stadt nur schlagfertig machen und alle mit Waffen versehen, die eben fähig waren, mit denselben umzugehen. Dieserhalb wollte er heute mit den Innungsmeistern und den tüchtigsten Mitgliedern sprechen und sie auf morgen abend in die Krone Die »Krone« war ein Wirtshaus und lag in der Judenstraße. einladen zu einem Kriegsrate. Hiermit erklärte der Bürgermeister sich einverstanden.

Vit war nun den ganzen Tag unermüdlich tätig gewesen, hatte mit den Innungsmeistern gesprochen, den Torwächtern die größte Wachsamkeit anbefohlen, war auf den Münsterturm gestiegen und hatte dort einen Wachtposten eingerichtet sowie die Hornsignale verabredet, welche im Falle einer Gefahr gegeben werden sollten. Zu Hause angekommen, begann er Helme, Schwerter und Lanzen zu putzen und zu reinigen, wobei ihm Paul behilflich sein mußte. Dieser sah manchmal von der Arbeit auf, und schaute voll Bewunderung auf den Großvater hinüber. »Großvater,« sagte er, »es scheint, als wenn Ihr auf einmal wieder jung würdet; so munter und fidel habe ich Euch lange nicht gesehen!«

»Glaub's wohl, mein Junge! Hab' mich lange darauf gefreut, und wenn wir mit den Feinden anbinden, dann sollst du sehen, wie wir ihnen die Hosen ausklopfen. Das Arbeiten hört nun auf, wir werden jetzt Krieger. Ein Glück für dich, daß ich dir das Hauen und Fechten beibrachte, und daß du reiten kannst! So leicht wird dich keiner unterkriegen, wenn es soweit kommt!«

»Sicher, Großvater,« meinte Paul, »mit so 25 Stück Hessen werde ich wohl noch vor der Morgensuppe fertig werden!«

»Nun höre mal einer den Prahlhans! Ja, wenn es Butterbrote wären, die würdest du schon klein kriegen. Und – Morgensuppe? Kann dir noch oft passieren, daß du ohne Morgensuppe in den Kampf ziehen mußt! Denn merke dir: Im Kriege heißt es nicht allein tapfer sein und Mut haben, sondern auch entbehren und hart sein gegen sich selbst, was manchmal schwerer ist als alles andere.

Aber deshalb wollen wir nicht verzagen und stets auf Gott vertrauen, dann mag kommen was will! Wir gehen durch dick und dünn und werden uns unserer Haut wehren bis zum letzten Atemzuge! Doch jetzt sei still, die Mutter kommt! Die will von Krieg nichts hören.«

Mechtilde mit Eva und Jakob traten ein und nahmen in dem behaglich erwärmten Stübchen Platz. Während sich die ersteren mit Handarbeiten beschäftigten, sahen sie den beiden Helden beim Putzen zu. Eva, die sich in der kurzen Zeit sehr zu ihren Gunsten verändert hatte, sah froh und glücklich drein. Sie zeigte sich fleißig und willig und war daher im Hause gut gelitten.

Es war mittlerweile dunkel geworden. Durch die geöffneten Fenster klangen die Abendlocken herein und die Anwesenden knieten nieder, um den »Engel des Herrn« zu beten.

Jetzt fanden sich auch der Stellmacher Steffen und der Schuster Källkes ein, sowie der Innungsmeister der Schmiedezunft, Kerst Jansen.

»Ah, das ist recht,« rief der Großvater, »daß ihr so früh kommt! Der Paul soll gleich mit einer Prophezeiung beginnen; wie mir der Herr Prälat sagte, soll sie äußerst interessant sein. Na, Invalide,« wandte er sich an Källkes, »kommst du auch morgen zur Zunftstube? Wirst wohl Oberbefehlshaber werden müssen!«

»Wenn es nach Neersen zum Fischfang geht – gewiß!« warf Meister Jansen ein.

»Ich will euch etwas sagen,« erwiderte Källkes gereizt, »wenn ihr mich immer zum besten halten wollt, dann gehe ich lieber gleich nach Hause. Merkt's euch!«

»Nun, nun, Pechdraht,« beschwichtigte ihn der Großvater, »du kannst doch Spaß vertragen! Laß gut sein! Wir werden ohnehin bald Ernst genug bekommen. Paul mach' Licht und fange an!«

Um genügend sehen zu können, wurden an den Leseabenden Leseabende. Unsere Vorfahren pflegten, wie es heute auf dem Lande vielfach noch üblich ist, sich an gewissen Abenden zusammen zu finden, an denen dann Ritterromane und sonstige Geschichten vorgelesen wurden. außer dem Kienspan noch zwei Kerzen angebrannt; denn obgleich es damals schon Öllampen gab, so wurden diese doch ihres trüben Lichtes wegen beim Lesen nicht gerne verwandt.

Paul zündete die Kerzen an und rückte eine derselben an sich heran. Dann begann er aus der Pergamentrolle vorzulesen:

Visionen des Münches Hepidamus zu St. Gallen.

Höchst wichtige Urkunden und Aufzeichnungen. Es schreibt Frater Bartholomäus in sein Diarium am Sonntage Rogate, dem 5. Sonntage nach dem Osterfeste des Jahres 1081: »Ich war gestern nach den Vigilien mit dem Bruder Hepidamus zusammen und sprach mit ihm über die Ereignisse, welche in jüngster Zeit die ganze Christenheit in Schrecken und Aufregung versetzt haben. Da sprach Bruder Hepidamus zu mir: ›Folge mir hinaus in den Klostergarten, ich will dir merkwürdige Dinge mitteilen von dem, was ich gesehen und gehört habe.‹ Und als wir die große eiserne Pforte geöffnet hatten und in den Garten eingetreten waren, der sich gegen die Höhen zum schwarzen Kreuz von Mitternacht gegen Mittag ausdehnt, sah ich die Berge Welschlands sich erheben. ›Siehe‹, sprach er zu mir, ›von Mitternacht gegen Mittag ist heute die Erde getrennt, und die Menschen haben sich in zwei Heerlager gespalten, gegen Süd und gegen Nord. Und der Norden zieht gen Süden als Feind, der Sohn gegen den Vater, und das Unglück folgt ihm über die Berge wie die Nacht dem Tage. Aber es wird bald ein Tag anbrechen, da wird ein Licht aufgehen um Mitternacht nach Norden und heller strahlen als dir Mittagssonne des Südens, und der Schein der Sonne wird erbleichen vor jenem Lichte. Alsbald wird sich eine düstere Wolke lagern zwischen jenem Lichte und der Menschheit, die dorthin blickt. Ein furchtbares Gewitter wird sich aus dieser Wolke bilden. Es wird den dritten Teil der Menschheit töten und ein Drittel aller Saatfelder und Ernten der Städte und Dörfer wird zerstört, und überall wird Not und Jammer sein.‹ Als wir am anderen Tage aus der Frühmesse zurückkehrten und zusammen im Garten arbeiteten, sagte ich zu Bruder Hepidamus: ›Mein lieber Bruder! Dasjenige, was du mir gestern gesagt hast, hat mich zu großem Nachdenken veranlaßt, und ich habe darüber nachgegrübelt, bis der erste Hahnenschrei den Morgen ankündete. Dennoch bin ich mir darüber nicht klar geworden, und mein Verständnis für dasselbe ist um nichts vorangeschritten.‹ Als ich dieses sagte, lächelte Frater Hepidamus und erwiderte: ›Lieber Bruder, glaubst du denn in dem Flusse, dessen glatte Spiegeln der Wind in schäumende Wellen verwandelt, oder in dem brausend niederstürzenden Bergstrome das Bildnis deines Angesichts erkennen zu können? Oder glaubst du aus dem Tale über den Berg schauen zu können? Höre darum! Als ich einst schlaflos auf meinem Lager ruhte, in Meditationen versunken, bemerkte ich plötzlich, wie sich die Dunkelheit in meiner Zelle allmählich verminderte. Ich war verwundert darüber, denn nach meiner Berechnung konnte es erst um die zweite Stunde nach Mitternacht sein. Ich richtete mich auf und sah mit Besorgnis, wenngleich mit heftiger Neugierde, nach der Ursache der auffälligen Helligkeit. Da erblickte ich rechts vor meinen Füßen, an dem Getäfel der Holzwand, eine weiße Kugel in der Größe eines Menschenkopfes, und als ich genauer hinsah, stand auf der Kugel eine menschliche Gestalt, fast durchsichtig, aber von Riesengröße. Ich zitterte. Plötzlich glitt die Gestalt von der leuchtenden Kugel herab und stand dann dicht vor meinem Lager. Ich hörte jetzt mit deutlicher, aber leiser Stimme die Worte sprechen: »Öffne deine Augen!« Kaum waren diese Worte gesprochen, als die Gestalt samt der Kugel verschwunden war. Dann war wieder alles in Dunkelheit gehüllt, und ich war starr vor Schrecken. Plötzlich glaubte ich seitwärts ein Geräusch zu vernehmen, wie wenn ein schwerer Vorhang zurückgeschoben oder aufgehoben wird. Ich sah hin und erblickte nach der Seite der Mauer hin, an welche die Kapelle Unserer Lieben Frau stößt, ein weites, ungeheures Feld. Mitten auf diesem Felde stand eine Stadt, mit Mauern umgeben und von vielen Türmen überragt. Durch die Stadt floß ein Strom, ähnlich dem Rheine, der sich in das brigantische Meer Das Brigantische Meer (vom Lat. Brigantium-Bregenz) war der heutige Bodensee. ergießt. Ein Tor der Stadt öffnete sich plötzlich, und ich sah zwei Männer aus demselben hervortreten. Der eine war von großer Gestalt und kräftigem Körperbau, er trug das Ordenskleid des hl. Augustinus; der andere war eine kleine schmächtige Figur mit lebhaft blitzenden Augen.

Die beiden Gestalten schritten einer Anhöhe zu, die sich vor der Stadt erhob und auf beiden Seiten frei lag. Als sie dieselbe erreicht hatten, sah ich plötzlich, wie einer der beiden Männer, nämlich der in dem Augustiner-Ordenskleide, riesenhaft an Größe zunahm. Sein Haupt reichte bis in die Wolken und sein Schatten bedeckte weithin das Land. Und er erhob seine Hand, schrieb in die Wolken des Himmels und sprach zugleich mit starker Stimme, die gleich einem fernen Donner über die Erde schallte: »Seht das Wort des Herrn, fliehet ihr feindlichen Mächte!« Und indem er mit dem Finger diese Worte in großen Schriftzügen an das Firmament schrieb, leuchteten die Buchstaben in glühendem Feuer und spiegelten sich in den Fluten des Flusses ab. Plötzlich zog von Süden her ein heftiges Gewitter herauf. Der Donner rollte fürchterlich und flammende Blitze durchzuckten das Firmament. Als das Wetter sich verzogen hatte, war der riesenhafte Mann verschwunden; aber seine Wolkenschrift leuchtete noch strahlender als zuvor, und ich sah Tausende von Menschen herbeiströmen, welche dieses Wunder anstaunten. Als ich dies alles gesehen hatte, verdunkelte plötzlich eine Wolke das Bild, und ich sank erschöpft auf mein Lager zurück. Dann war es mir, als hörte ich eine Stimme, welche die Worte des Propheten aussprach: »Mein Sohn, fürchte nichts, denn ich bin mit dir, und wenn du auch das Feuer durchschreiten müßtest, würden die Flammen dir nicht schaden, und der Hauch der Glut würde dich nicht berühren. Ich werde dich aus den Händen der Boshaftesten befreien und aus den stärksten Armen losmachen«. Seit jener Nacht sah ich oft im Traume geisterhafte Bilder an meinem Lager vorüberziehen. Die große Gestalt, welche damals auf der leuchtenden Kugel stand, erschien mir oftmals und sprach mit mir über verschiedene Dinge‹.«

Im Jahre 1082 schrieb Frater Bartholomäus in sein Diarium: »Am Mittwoch nach der Auferstehung des Herrn kam der ehrwürdige Bruder Hepidamus in sehr trauriger Stimmung zu mir. Als ich ihn um die Ursache seines Kummers befragte, antwortete er mir: ›Geliebter Bruder, warum sollte ich nicht traurig sein, da dem Menschengeschlechte noch so viel Trübsale bevorstehen!« Ich bat ihn, mir genauere Mitteilungen über jene Trübsale zu machen. Er sprach: »Als ich gestern meinen täglichen Gebeten oblag, ward ich plötzlich der Zeit entrückt und hinweggeführt an einen fernen Ort. Da sah ich ein gewaltiges Feuer gen Himmel steigen gleich dem Brande einer großen Stadt, und ich hörte ein Wehklagen von Männern, Weibern und Kindern, so daß mein Herz sich betrübte. Die Menschen fürchteten sich vor der Glut des Feuers und eilten nach allen Richtungen hin auseinander. Aber die Flammen ereilten sie und eine große Anzahl kam in denselben elendiglich um. Viele von denen, welche dem Feuer entronnen waren und in den Fluten des Flusses Schutz vor der heißen Glut zu finden hofften, ertranken, andere wurden von riesigen Vögeln ergriffen und hinweggetragen. Allenthalben herrschte Angst, Jammer, Not und Elend. Nach kurzer Zeit verwandelte sich das Aussehen der Gegend. Das Feuer war erloschen und alle Spuren desselben verschwunden. Grüne Saatfelder prangten ringsum, und ich erblickte viele neu angelegte Städte und Dörfer. Als ich nun darüber nachdachte, was dieses sonderbare Bild wohl bedeuten möchte, stand plötzlich die hohe Gestalt wieder vor meinem Bette. »Siehe«, sagte sie zu mir, »das sind einige der Tage, die dem menschlichen Geschlechte bevorstehen. Im Kreislaufe der Jahre werden sie herankommen, und sie werden in den Staub treten, die Eiche, mitsamt dem Felsen, auf dem sie wurzelt.« Da erwiderte ich voll Schmerz und Jammer: O, warum ist denn das Menschengeschlecht verflucht zu solchem Geschicke? Weshalb ist es mit größerem Elende behaftet als das flüchtige Wild? Kann denn der Allmächtige solche Leiden nicht abwenden? Die Gestalt sah mich mit eigentümlichen Blicken an und sprach: »Warum wird das Samenkorn in die Erde gelegt, und weshalb bedeckt der Schnee die Fluren des Feldes?«

Am Tage der Geburt des Herrn anno 1083 ward Frater Hepidamus von einer heftigen Krankheit ergriffen, welche sich so verschlimmerte, daß wir alle Hoffnung auf die Erhaltung des Lebens unseres geliebten Bruders aufgaben. Der Herr Abt sprach den ganzen Tag hindurch mit dem Kranken über die ewigen Dinge und die Seligkeit derjenigen, die im Herrn sterben. Aber Bruder Hepidamus entgegnete, es sei ihm noch nicht beschieden, in das Reich der Toten einzugehen, vielmehr sei ihm offenbart worden, daß er noch fünf Jahre zu leben habe.

Wirklich besserte sich auch sein Zustand wieder mehr und mehr, und am Tage der Beschneidung des Herrn anno 1084 konnte er wieder seinen gewöhnlichen Obliegenheiten nachkommen. Um diese Zeit teilte er mir eine merkwürdige Vision mit, welche er kurz nach seiner Wiedergenesung gehabt hatte.

»Ich sah«, erzählte er, »in Germanien, wo jetzt die Wälder sich an den Ufern der Ströme hinziehen, ein ungeheuer großes, von unzähligen Menschen bewohntes Land. Als ich dieses mit Bewunderung betrachtete, hörte ich plötzlich eine starke Stimme, gleichwie das Brausen eines starken Sturmwindes, welche zu mir sagte: »Ich bin der Geist, der aufgeht, von den sieben Leuchtern vor dem Throne dessen, der da war, ist und sein wird, und der waltet über dem menschlichen Geschlechte seit Anfang der Dinge. Öffne deine Augen und schaue. Höre auf das, was ich dir sagen werde. Siehe, ich will meine Fersen auf den Erdboden setzen, und ein Volk wird emporsprossen, wo jetzt der Wald die Fläche bedeckt, und der Eber dem Speere des Unfreien erliegt, und der Ur sich in die Falle des Jägers verirrt. Dieses Volk will ich groß machen vor allen Völkern der Erde. Die Sonne, die von Süden die Welt erleuchtet, will ich von Norden her scheinen lassen, und aus der Gegend des Schreckens und der Nacht wird ein Licht aufgehen, wie man zuvor noch keins gesehen hat. Aus Germaniens Gründen wird ein Strom hervorquellen, der die ganze Welt überflutet. Wehe denen, die sich erkühnen, den Lauf dessen zu hemmen, der seine Pflugschar über die Berge zieht und den Staub von seinen Füßen gegen Abend im Meere abschüttelt! Es wird aus den Stämmen Germaniens ein Volk erstehen und das Haupt aller Völker werden. Langer Zwiespalt wird dem Glanzpunkte seiner Macht vorangehen.

Der Herr wird gegen seinen Knecht und der Untergebene wider seinen Vorgesetzten sein Recht behaupten und verfechten. Dann wird sich aus dem Strudel der Parteien ein Mann erheben, welcher, ohne dem Rechte eine Stütze zu sein, doch mit dem Rechte Recht sprechen wird wider das Recht, und vom Aufgang bis zum Niedergange der Sonne wird sein Name in aller Munde sein, verdammt und verhaßt von einigen, bewundert und verehrt von anderen. Zwar wird unsägliches Elend sich an seine Schritte heften und sein Name leben in der Geschichte inmitten der Leichenhügel und Toten. Auch wird nicht das geschehen, was die Mehrzahl der Menschen glauben wird, das er erstrebte. Er wird vielmehr sein das Werkzeug des Geschickes, dazu bestimmt, die alte Welt in Trümmer zu schlagen und das Volk, aus dem er hervorgegangen, zur Freiheit zu bringen. Wehe dem, der in jener furchtbaren, aber großen Zeit durch das Gaukelspiel trügerischer Dämone sich blenden läßt und sich auf Abwege begibt, die ihm selbst, seinem Volke und Geschlechte verderbenbringend werden! Denn es werden in jenen Tagen des Zweifels und der Ungewißheit falsche Propheten mit süßen Worten ihr Gift feilbieten und diejenigen elendiglich zugrunde richten, welche, von einseitigen Vorurteilen befangen, ihnen Glauben schenken. Wer Ohren hat zu hören, der höre, und wer Augen hat zu sehen, der säume nicht, sie dem Lichte zu öffnen! Ein mächtiges Reich wird zugrunde gehen und ein mächtigeres an seine Stelle treten. Ein furchtbarer Orkan wird entstehen, und wehe allen, welche in den Bereich desselben geraten! Tausendjährige Herrschersitze werden herabsinken aus ihrer Höhe, gleichwie der Wirbelwind das Strohdach der Hütte fortführt. Zwischen dem Rhein und der Elbe und dem morgenwärts fließenden Strome der Donau wird ein weites Leichenfeld sich ausdehnen, ein Erntefeld der Raben und Geier. Und wenn dereinst der Landmann hier wieder seinen Samen ausstreuen wird und dieser emporkeimt, Ähren und Früchte tragend, dann wird jeder Halm in einem Menschenherzen stehen und jede Ähre in einer Menschenbrust ihre Wurzel haben.«

Als Hepidamus diese Vision hatte, wagte er es, seinen Schutzgeist zu fragen, wann denn solche schreckliche Tage hereinbrechen würden. Der Frater Bartholomäus Narsensis berichtet ausführlich, was der mystische und gelehrte Mönch hierüber erfuhr.

»Ich war«, so erzählte Hepidamus,»bei all dem Schrecklichen, was ich vernahm, doch begierig zu wissen, wann es sich ereignen würde und ob die Menschheit bald oder erst nach vielen Jahrhunderten für jene Tage reif sei. Als ich meinem Schutzgeist diese Ansicht äußerte, erwiderte dieser: »Keinem Sterblichen ist es gegeben, das Jahr und den Tag erfahren, wann dasjenige in Erfüllung gehen soll, was dir offenbart worden ist, aber ich will dich die Zeichen lehren, die jenen Tagen vorausgehen werden und sie ankündigen, wie die herüberkommende Schwalbe die Wiederkehr des Frühlings«. Als der Genius dies gesagt hatte, verschwand plötzlich die weite Landschaft, und ich sah nur noch den blauen, sternbedeckten Himmel über mir. »Schaue empor«, fuhr der Geist fort, und erkenne das Sternbild der himmlischen Krone dort. In diese Sternenkrone wird ein neues Juwel eingesetzt werden, und es wird ein hellglänzender Stern dort erscheinen, wo du jetzt nur das unerforschliche Blau des Himmels siehst. Wenn dieser Stern als weithin leuchtendes Feuerzeichen sichtbar wird, dann ist die Zeit nahe, wo das über die Menschheit kommen wird, wovon ich zu dir gesprochen habe. Dann sind die Tage vieler gezählt, aber keinem Sterblichen ist es gegeben, vorher zu wissen, wann jenes Zeichen am Himmel erscheinen wird.«

Frater Bartholomäus schreibt ferner: »Als ich mich einst mit unserem ehrwürdigen Frater Hepidamus über die Fortschritte unterhielt, welche die Völkerstämme bereits im Laufe der Jahrhunderte gemacht hatten seit der Errichtung unseres Monasteriums, sagte er: »Ich sah einst in einer nächtlichen Vision einen Mann von riesigem Wuchse. Er saß an einem Bach und war damit beschäftigt, einen Streitkolben aus verschiedenen dünnen Holzstäben herzustellen. Als er die Stäbe miteinander verflochten hatte, führte er einen Schlag damit in die Luft. Der Streitkolben schien seinen Zwecken nicht zu genügen, denn er nahm eine Anzahl eiserner Reifen und Nägel und befestigte damit die Stäbe fest aufeinander. Da bemerkte ich einen starken Ur, der mit Wucht auf den am Bache sitzenden Manne anstürmte. Dieser aber richtete sich empor, trat dem wütenden Feinde furchtlos entgegen und streckte ihn mit einem mächtigen Schlage zu Boden. Als ich dieses gesehen, sprach die Geisterstimme zu mir: ›Siehe, so wird dereinst sich ein geteiltes Volk zusammenscharen, gehalten, und umschlungen von mächtigen Banden; dieses wird seinen Feinden die Spitze bieten und dieselben mit mächtigen Schlägen niederschmettern. Nachdem dieses geschehen, wird das eiserne Band, das alle umschlang und zur vereinten Tat verband, sich lösen, und jeder einzelne wird, wenngleich mit der Gesamtheit verbunden, als selbständiges Reis emporstreben‹.«

»Ein andermal«, so heißt es in den Aufzeichnungen des Fraters Bartholomäus, »sah Hepidamus sich im Geist in eine andere Gegend versetzt und erblickte eine unzählige Schar Gewappneter, welche über den Donaufluß setzten und unter tobendem Geschrei nach Norden zogen. Von der Elbe her nahten andere Gewaltmassen, wohl ausgerüstet und bewaffnet. Inmittten eines großen Gebirgskessels stießen die beiden Heere aufeinander. Ein furchtbarer Kampf entstand, und eine ungeheure Menge von Toten und Verwundeten bedeckte die Erde. Der Elbfluß floß gleich einem Glutstrome durch die Gefilde, und ein unaufhörlicher Donner hallte über die Gegend. Da verdunkelte sich sein Blick, seine Sinne schwanden allmählich, und eine Stimme sprach zu ihm, dem fast Ohnmächtigen:

›Du siehst jetzt nichts als Kämpfe, Glut und Tod, aber das Geschlecht der Menschen wird nach diesen Kämpfen herrlicher blühen denn je zuvor. Allerdings werden sehr viele diese glückliche Zeiten nicht mehr erleben. Sie werden untergehen unter der Brandfackel des Krieges, und Unkraut wird über ihren Gräbern wuchern. Doch alles dieses wird den Lauf der Welt nicht hemmen. Mögen sich aber jene, die alsdann leben, wohl vorsehen!‹«

»Als wir einst nach dem Begräbnis eines Klosterbruders vom Kirchhofe zurückkamen,« so schreibt Frater Bartholomäus, »sprach ich viel mit unserem ehrwürdigen Bruder Hepidamus über den einstigen Untergang der Welt. Er äußerte sich darüber in folgender Weise: ›Es kann niemand das Jahr, den Tag oder die Stunde bestimmen, wann die Welt ihren Kreislauf erfüllt haben und zu ihrem ursprünglichen Zustande der Finsternis, Wüste und Leere zurückkehren wird. Soviel aber weiß ich bestimmt, daß dieser Tag nicht mehr so weit entfernt ist, als jener Zeitraum gedauert hat, welcher zwischen dem Tage der Geburt des Herrn und dem heutigen Tage liegt‹.«

 

F42: Die Vision des berühmten St. Gallener Mönches ist für die Gegenwart und die nächste Zukunft von sehr großer Bedeutung. Das Zeichen am Himmel, wovon in der genannten Prophezeiung die Rede ist, ist wirklich erschienen, und zwar nach den Beweisen von Augenzeugen im Monate Mai 1866. Zeitungen und öffentliche Blätter berichteten übereinstimmend und, ohne daß von irgendeiner Seite Widerspruch gegen diese Behauptung erhoben wurde, daß ein helleuchtender neuer Stern am 13. Mai 1886 gleichzeitig an zwei, 400 Meilen von einander entfernten Orten in Frankreich und dem südlichen Griechenland gesehen wurde, und zwar merkwürdigerweise genau an der derjenigen Stelle des Himmels im Sternbilde der Krone, für welche er 800 Jahre vorher prophezeit worden. Bei der großen Bedeutung dieser Sache und den merkwürdigen Folgerungen, die sich an die obigen Prophezeiungen über das Erscheinen eines neues Sternes sowie an die großen politischen Verwickelungen von 1866 knüpften, hat es der Herausgeber der Übersetzung, die derselbe nach einem alten defekten Manuskripte vornahm, im Jahre 1866 für seine Pflicht gehalten, genaue Erkundigungen darüber anzustellen, ob das behauptete Erscheinen eines helleuchtenden Gestirns auch in der Tat eingetreten und nicht am Ende eines der vielen Märchen seien, welche die Zeitungen täglich ihren Lesern als Wahrheit auftischen. Indessen haben diese Erkundigungen die vollständige Richtigkeit der behaupteten Tatsache ergeben. Aus einem diesbezüglich aus Paris erhaltenen Antwortschreiben geht hervor, daß der berühmte dort lebende Sternkundige, Herr Delaunay, ein Mann, der zu den geachtetsten und gelehrtesten Leuten seiner Zeit gehörte, die Tatsache eines neuen Gestirns als vollkommen erwiesen bestätigt hat. Herr Delaunay hat dies selbst und öffentlich erklärt, sodaß von einer Fälschung oder einem beabsichtigten Betrug gar nicht die Rede sein kann.

Nach Hepidamus, der im Jahre 1088 starb, würde also die Erde höchstens noch bis zum Jahre 2176 bestehen, und da wir bereits 1930 schreiben, nur noch 246 Jahre. Ehe aber der Untergang der Welt erfolgt, werden vorerst gewaltige Kriege ausbrechen und ungeheure staatliche Umwälzungen stattfinden. Den furchtbaren Kämpfen, welche hiermit verbunden sind, wird eine Reihe von glücklichen Jahren folgen. Es wird alsdann ein Mann sich erheben, der sich dem Laufe der Dinge entgegenstemmt, und seinem Anhange wird es gelingen, eine neue Ordnung ins Leben zu rufen. Diese wird aber nicht von langer Dauer sein, indem der Untergang alles Lebenden dann vor der Türe steht. So weit gehen die hauptsächlichsten Punkte der Prophezeiungen von Hepidamus, welche sich auf die Gegenwart oder die Zukunft beziehen. Einer Menge anderer, die im Laufe der Jahrhunderte bereits in Erfüllung gegangen sind, wurde in den vorhergehenden Blättern nicht gedacht, mit Ausnahme jener merkwürdigen Vision, welche sich höchstwahrscheinlich auf das Eintreten der Reformation im 16 Jahrhundert bezieht. Doch hat Hepidamus auch den Dreißigjährigen Krieg und seine schrecklichen Verheerungen vorausgesagt, sowie die Französische Revolution und das siegreiche Auftreten des Kaisers Napoleon I. und seinen nicht ehrenvollen Tod. Der Übersetzer und Herausgeber hat sich durchgängig jedes Versuches einer nähern Erläuterung der alten Vorhersagungen enthalten, indem er es vorzog, dem Leser nur die Äußerungen des berühmten Hellsehers vorzulegen und es seinem eignen Urteil anheimzustellen, welche Folgerungen er aus diesen Aufzeichnungen ziehen will. –

Auf die verschiedenen Anfragen wegen der Prophezeiungen des Mönches Hepidamus von St. Gallen will ich kurz folgendes bemerken: Die Prophezeiung ist eine hochdeutsche Übertragung der Reste eines Diariums oder Tagebuches, welches ein Frater des Klosters St. Gallen in der Schweiz während der Jahre 1080 bis 1091 unserer Zeitrechnung führte und darin alles notierte, was er für aufzubewahren wert hielt. Neben einigen Nachrichten über die damaligen klösterlichen Zustände, die indes für den Geschichtsschreiber wenig Interesse bieten, enthalten jene Blätter vornehmlich Aussprüche und Prophezeiungen des gelehrten Mönches Hepidamus, welcher im Jahre 1088 starb. Derselbe ist den Altertumsforschern durch seine Annales breves (kurze Jahrbücher) schon seit vielen Jahren bekannt, und diese Annalen, welche vom Jahre 709 bis zum Jahre 1044 unserer Zeitrechnung reichen, bilden einen höchst wichtigen Beitrag zur Kenntnis der damaligen Zeit und ihrer Zustände. Das Kloster St. Gallen wurde bekanntlich durch den später vom Papste heilig gesprochenen irländischen Missionar Gallus gegründet. Der deutsche Kaiser Karl der Große schätzte die dortigen Mönche sehr hoch, und besuchte oftmals das Kloster. Es ist auch bekannt, daß Kaiser Karl sich in verwickelten Reichsgeschäften bei den weisen und gelehrten Anachoreten von St. Gallen Rat holte und sich durch ihren Einfluß zu seinem eignen Vorteile leiten ließ. In den Jahren 800 bis 1000, also bevor in Deutschland der berühmte Albertus Magnus von Rollstädten lebte und durch den Glanz seines Namens die Welt erfüllte, blühte das Kloster zu St. Gallen unter einer Reihe von ganz hervorragenden Äbten, von denen ich nur Ropertus, Nokterus, Balbulus, Monachus, St. Gallus erwähnen will, herrlich empor. Die Mönche des Klosters, um welches sich im Laufe der Jahrhunderte nach und nach die Stadt St. Gallen (heute Hauptort des gleichnamigen Kantons der Schweiz, in der Nähe des Bodensees, wo der Rhein sich in denselben ergießt) anbaute, galten jahrhundertelang mit Recht als die gelehrtesten und in den Wissenschaften und mystischen Erscheinungen der Natur erfahrensten Männer. Von dem Mönche Hepidamus waren seine Zeitgenossen überzeugt, daß er die Kenntnisse der roten Tinktur besessen und in der alchimistischen Kunst des Abu Mußeh Dschafor al Sufi, den die heutigen Chemiker unter dem Namen »Geber« kennen, gar wohl bewandert sei. Hepidamus widersprach dem indes und erklärte mit wahrheitsliebender Bescheidenheit, wenn ihm Gott auch verschiedene Gnaden verliehen hätte, er doch eine Kunst, das Leben zu verlängern, nicht kenne. »Es gibt hier wieder vieles,« so äußerte er sich einst gegen einen seiner Klostergenossen, »was der Mehrzahl der Menschen für immer verborgen bleibt, und was der einzelne, der ohne eigenes Zutun nach Wert bevorzugt wird, teilweise weiß. Aber diejenigen, die solcher Gaben teilhaftig werden, wünschen wenig Aufsehen davon zu machen; sie sind der geheimen Kraft untertan, die ihnen jener Lichtblick gegeben, und weil diese ihnen die Wahrheit offenbart, verschmähen sie es, sich mit der Lüge oder dem Scheine der Unwahrheit zu umgeben. Ich weiß nicht und will auch nicht entscheiden, ob ich, trotz meiner wohlbewußten Unvollkommenheiten, einiger Vorzüge gegenüber meinen Brüder gewürdigt worden, aber ich weiß, daß alle diejenigen im Unrechte sich befinden, wissentlich oder unwissentlich, welche annehmen, ich besäße die Kenntnisse jenes Trankes oder jener Materie, von der die Alten behaupten, daß sie das Leben verlängere und uns vom Tode verschone, dem wir, Staub zum Staube zurückkehrend, dereinst anheimfallen werden.« Aus diesem Ausspruche des berühmten Mönches geht deutlich seine Wahrheitsliebe und seine ebenso große Bescheidenheit hervor. Es wäre ihm, hätte er es gewollt, damals gewiß ein leichtes gewesen, sich auszugeben als im Besitze jener Kunst, die man jahrhundertelang gesucht, ohne sie zu finden, der Kunst nämlich, das eigene Leben zu verlängern. Heute, fast tausend Jahre später, wissen mir freilich, daß es eine solche Kunst nicht gibt, und daß alle diejenigen Betrüger waren, die behaupteten, im Besitze solcher Kenntnisse zu sein; aber zur damaligen Zeit gab es noch viele Leute, die daran glaubten. Dagegen hat Hepidamus sich seinen Klostergenossen gegenüber oftmals über seine Visionen und sein sogenanntes zweites Gesicht ausgesprochen; indes war es dem berühmten Mönche durchaus nicht darum zu tun, durch seine mystischen Kenntnisse und durch die Fähigkeit des Hellsehens in die Zukunft unter seinen Zeitgenossen zu glänzen. Seine Aussprüche, die sich, auf die mehr oder weniger entfernte Zukunft bezogen, tat er nur gegenüber wenigen seiner vertrauten Genossen, und auch dann nur auf dringendes Zureden. Er war verschlossen wie die Welt des Übersinnlichen, in welcher er lebte und aus deren Geheimnissen sich uns Menschen nur selten etwas offenbart. Diese Eigentümlichkeit teilte Hepidamus übrigens mit den meisten anderen Menschen, von denen uns die Geschichte meldet, daß sie die außergewöhnliche Fähigkeit des Hellsehens besessen. Von dem berühmten Emanuel Swedenborg z. B. ist es bekannt, daß er trotz seiner natürlichen Mitteilsamkeit dennoch nicht gern von seinen Geistererscheinungen sprach und es bedurfte vieler Mühe und Bitten seitens seiner Freunde, ehe er etwas darüber sagte und ihnen 'Einzelheiten' mitteilte. Hepidamus selbst hat außer den bereits oben im Eingange erwähnten geschichtlichen Annalen nichts Schriftliches über seine Blicke in die Zukunft hinterlassen, da es ihm offenbar nicht darum zu tun war, die Kenntnisse zukünftiger Dinge in weiteren Kreisen zu verbreiten. Was man von seinen Prophezeiungen weiß, stützt sich einzig auf die Aufzeichnungen eines seiner Klosterbrüder, welcher diese regelmäßig fortführte. Diese Aufzeichnungen, die alle in lateinischer Sprache geschrieben sind, füllten ursprünglich wahrscheinlich einen ziemlich umfangreichen Pergamentband aus. Im Laufe der Jahrhunderte ist indes durch Unkenntnis und Nachlässigkeit ein großer Teil der kostbaren Handschrift wahrscheinlich verloren gegangen, und auch der übriggebliebene Rest befindet sich in einem sehr defekten Zustande, wenngleich die Schriftzüge des vor fast neun Jahrhunderten lebenden Klosterbruders, der sich an einzelnen Stellen Frater Bartholomäus Nars, zu deutsch Bruder Bartholomäus aus Narsene, nennt, noch heute leserlich geblieben sind. Soviel über Hepidamus und das Kloster zu St. Gallen.

Anmerkung aus technischen Gründen im Text wiedergegeben. Re. für Gutenberg

 

Paul hatte schon längst geendet, und noch immer schwiegen die Anwesenden, welche über das soeben Gehörte nachzudenken schienen. Endlich brach der Großvater das Schweigen und sagte:

»Ein Teil dieser Prophezeiungen wird jedenfalls in unserer Zeit in Erfüllung gehen, aber Gott mag wissen, welcher!«

Da meinte Schmied Jansen, Bruder Hepidamus sage zwar viel über die Zukunft, doch enthülle er dieselbe in etwas unverständlicher Weise.

»Man wird aus alledem nicht recht klug«, sagte er. »Übrigens gibt's gar viele solcher Prophezeiungen. Immer handelt es sich dabei um Dinge, die in dieser Welt vor sich gehen sollen und die mehr oder weniger vorauszusehen sind. Aber niemand kommt und erzählt uns mal etwas aus jener anderen Welt, vom jenseitigen Leben, wie es dort aussieht – –! Ich gäbe was drum, wenn ich darüber etwas erfahren könnte!«

»Das möchte ich auch schon«, brummte Steffen, »aber davon wird wohl keiner etwas wissen.«

»Weil noch keiner von drüben wiedergekommen ist,« ergänzte Källkes.

»Dennoch glaube ich einmal gehört zu haben, daß ein Klosterbruder sich auf einige Stunden im Himmel befunden habe und nachher stellte es sich heraus, daß er hundert Jahre fortgewesen war« – sagte Jakob.

»Das ist mir nicht bekannt,« bemerkte Vit, »aber wir haben eine Schrift hier, worin erzählt wird, daß ein gestorbener Bauersmann aus der Nähe von Kreuznach wieder zum Leben zurückgekehrt ist und inzwischen Wanderungen durch Himmel, Hölle und Fegfeuer gemacht hat.«

»Na, das möchten wir doch einmal hören,« riefen verschiedene.

»Das könnt ihr haben,« sagte Vit in ernstem Tone. »Ob's Euch aber gefällt, ist fraglich, denn es wirkt wie eine erschütternde Predigt. Wartet einen Augenblick!«

Vit ging hinaus und kam bald mit einem zweiten Pergament zurück, legte dasselbe auf den Tisch und sagte zu Paul: »So, nun lies uns auch diese Schrift vor, aber langsam und deutlich.«

Paul begann:

Wanderungen durchs Jenseits.

Trithemius Trithemius (1462-1516) gelehrter Abt von St. Jakob in Würzburg. – Eine ähnliche Vorstellung vom Jenseits wie es hier geschildert ist, findet sich in der apokryphen Literatur des Judentums, sowie bei anderen Kulturvölkern des Altertums z. B. den Ägyptern, Babyloniern und Persern. Nach Zarathustra tritt die Seele, wenn sie aus dem Körper geschieden ist, die Reise durch die Lüfte zum Gericht und zum Paradiese an. Dabei hat sie den guten Geist (Sraosha) zum Begleiter, der ähnlich mächtig ist wie im Christentum der Erzengel Michael. Der gefährlichste Moment der Reise beginnt auf der hohen Brücke (Cinvat-Brücke), die ins Jenseits führt und auf welcher die Gerichtsentscheidung fällt. Die ganz Bösen verfallen der Verdammung und stürzen hinab in die Tiefe der Unterwelt. Die ganz Guten gehen hinein ins Paradies, weitergeleitet durch gute Jenseitsgestalten. Die nicht völlig Reinen werden wie im Totenreich der Ägypter gewogen. Diese Wage weicht keinem Menschen zuliebe um Haaresbreite ab. Fürsten und Könige gelten auf ihr dem armseligsten Menschen gleich. So streng ist dieses Gericht, daß, wenn auch die guten Werke überwiegen, doch die bösen zuvor erst restlos abgebüßt werden müssen. (Reinigungslehre)

Auch Virgil, dessen Schatten ja bekanntlich dem großen Dante als Führer und Erklärer durch die drei Reiche seiner göttlichen Komödie diente, trägt in einem Epos seine Jenseitsgedanken folgendermaßen vor: »deshalb läutern zuerst die Strafen, das alte Verderben wird durch Qualen abgebüßt. Im Winde schweben die einen, ausgespannt; im tiefen Strudel müssen die andern Flecken der Sünde tilgen, wieder andere in feurigen Qualen« Nach ihm liegt das Jenseits in der Unterwelt, wo die Guten im Elysium, beherrscht vom Gotte Pluto, ein seliges Leben führen, die Bösen aber im Tartarus von Furien und Rachegöttinnen gepeitscht und gequält werden für Verbrechen, die die irdische Gerechtigkeit nicht erreichen konnte. In einem Vorraume nahe am Eingange der Unterwelt befinden sich die, welche weniger schwer gefehlt haben.
(1489) berichtet uns aus dem Dorfe Mendel bei Kreuznach aus dem Jahre 1212 ein ganz merkwürdiges Ereignis:

Im Jahre 1212 lebte in Mendel ein sehr braver und achtbarer Mann namens Adelbert mit Frau und Kindern, die er mit seiner Hände Arbeit ernährte. Als er 62 Jahre alt war, fiel er in ein heftiges Fieber, welches sich allmählich steigerte, so daß er dem Tode nahe schien. Nachdem er gebeichtet und die heiligen Sakramente empfangen, starb er am Abend des 26. Februars. Während der Nacht hielten seine Freunde und Bekannten, wie es dort Sitte war, bei der Leiche die Totenwache. Als es nun Morgen wurde und die Sonne aufging und alles zur Beerdigung vorbereitet war, erhob sich der Tote plötzlich wieder zum Leben, richtete sich auf, und als alle vor Entsetzen davonliefen, stand er von seiner Lagerstätte auf, und eilte schnellen Laufes zur Kirche, wo er in eifrigem Gebete verharrte bis zur 9. Tagesstunde. Auf alles Befragen gab er keine Antwort. Als er sich aber vom Gebete erhoben hatte und eine ganze Menge von Leuten um sich herumsah, die sich wunderten und ihn fragten, was mit ihm vorgehe, sagte er: »Das weiß Gott sehr wohl. Wehe der Torheit der Menschen! Wehe der Gottlosigkeit! Wie bitter ist das, was nach diesem Leben über sie kommt.«

Da unterdessen der Pastor dieser Kirche, der Archipresbyter Udo, dazu gekommen war, ein sehr gelehrter, frommer und gottesfürchtiger Mann, sagte dieser zu ihm: »Was ist denn, Adelbert? Warst du wirklich gestorben?«

»Ich war gestorben und bin durch die Barmherzigkeit Gottes wieder am Leben, wie vorher,« sagte Adelbert, »aber von jetzt an muß ich anders leben, wie früher!«

Darauf sagte der Pastor: »Hast du etwas vom zukünftigen Leben gesehen?« Worauf er erwiderte: »Ich habe Vieles und Schreckliches gesehen.«

Als man ihn nun bat, dasselbe mitzuteilen, sprach er: »Es ist mir eine Bedingung gesetzt, ohne deren Erfüllung ich nichts sagen und nichts tun kann.«

Nachdem man ihn aber in das Haus des Pfarrers geführt hatte, sagte er zu diesem: »Herr Pastor, ich bin geheißen worden, Euch alles zu sagen und zu offenbaren, was ich gesehen und gehört habe; aber ich kann es nicht tun, vor all den Leuten, damit nicht die Großtaten und Geheimnisse Gottes zum Gespötte derjenigen werden, die nach dem Fleische leben!«

Der Pastor schickte daher einen Boten nach dem Kloster Sponheim und vertraute alles dem Abte Rupert an, indem er ihn bat, unverzüglich nach Mendel zu kommen und die Großtaten Gottes zu vernehmen.

Dieser nahm darauf den Prior Juanus mit und eilte hin.

Der Pastor rief noch einige aus dem Dorfe dazu, die er für geeignet erachtete; und man setzte sich vor den Totgewesenen, um zu hören, was er sagte.

Dieser erzählte nun folgendes: »Als ich auf den Tod krank darniederlag und meine Sinne geschwunden waren, schien mir ein gewaltiges Erdbeben zu entstehen, durch welches Himmel und Erde gewaltig erschüttert wurden. Meine Seele verließ plötzlich den Leib und kam aus der Finsternis zum Lichte. Ich konnte mit einem Male auf unerklärliche Weise mit meinem Blick die ganze Welt umfassen. O, guter Gott, wie verschieden ist doch das zukünftige Leben, von dem, wie die Sterblichen es sich vorstellen! Meine Seele außerhalb des Körpers war so erleuchtet, daß sie die ganze Erde mit allen Provinzen, Städten, Burgen, Dörfern, Reichen, Ländern, Bergen, Tälern, Flüssen, Meeren und das gesamte Weltall so klar überschaute, daß ich noch nie etwas so gut erkannt zu haben glaubte.

Und was überaus wunderbar ist: ich wußte, daß ich keinen Leib und keine Augen hatte und sah dennoch alles in der ganzen Welt. Ich kann nicht genug staunen über meine Unwissenheit. Jetzt erkenne ich nicht mehr, was ich dort verstand, denn die Seele ist ein Geist, alles das ist geistig mit mir geschehen und so kann ich mir das jetzt auch nicht mehr anders vorstellen, als wenn es mir durch die Sinne gezeigt worden wäre!«

Da unterbrach ihn der Abt Rupert und sprach: »Was du da sagst, wissen wir schon, dabei brauchst du dich nicht länger aufzuhalten; das lehrt uns die Vernunft und der Glaube; fahre also weiter fort!«

Jener fuhr fort: »Als ich so in größter Verwunderung war, sah ich plötzlich, wie von rechts und links unzählige Geister mit Ungestüm auf mich zukamen. Die auf der rechten Seite waren gute Geister, die auf der linken waren böse. Die guten Geister nahmen mich und führten mich plötzlich, wie in einem einzigen Augenblick in die Höhe. Die ganze Luft schien mir aber voller Dämonen zu sein, die wie Funken, nach Art eines dichten Schnees einherfliegend, alles erfüllten.

Im Umkreis, wo immer ich hinschaute, war Feuer und eine furchtbare Flamme, die mich derart sengte und brannte, daß keine Strafe der ganzen Welt damit verglichen werden kann. Ferner suchten die bösen Geister mich an sich zu reißen, aber die Engel verteidigten mich. Jene schleuderten schreckliche Flammen gegen mich und warfen mir dabei meine Sünden vor.

Ich wurde jetzt vor das Gericht des allmächtigen Gottes gestellt, an welches ich ohne Schrecken nicht mehr zurückdenken kann. Was ich da gesehen und gehört, kann ich nicht aussprechen und ein Sterblicher, der es nicht gesehen, kann es nicht glauben. Dort wurden allen, den guten und bösen Geistern, die Sünden meines ganzen Lebens, klar und offenbar, alles, was ich in Worten und Werken getan, auch die geringsten Gedanken.

Heftig klagten sie mich an, meine Sünden selbst und zwar so sehr, daß die Anklage der Dämonen mir dagegen lange nicht so schlimm vorkam.

Auch Dinge, die ich nicht für Sünde gehalten hatte, erkannte ich als solche, die schwerer Strafe wert schienen.

Ich will nur ein Beispiel anführen. Vor 20 Jahren ging ich einmal nach Kreuznach. Da begegnete mir ein armer Bettler, der mich nach dem Wege fragte. Ich weiß nicht mehr, wo er hinwollte, aber ich sagte ihm: »Du bist auf dem rechten Wege!« Als aber jener an einen Seitenweg kam, verirrte er sich und ging mehrere Stunden im Walde herum. Wie schwer klagte mich das an und betrübte es mich, daß ich ihn auf diesen Seitenweg nicht aufmerksam gemacht hatte; mit hundert Zungen könnte ich das nicht sagen.

Noch etwas anderes hielten mir gar hart die Teufel vor: Als ich einmal beim Zehnten meiner Feldfrüchte die Ordnung nicht eingehalten und eine Garbe, die der Kirche gehörte, mir aneignete und eine andere an die Stelle legte, die mir etwas geringer schien, hatte ich diese meine Schuld später dem Priester gebeichtet, war absolviert worden und glaubte nun ganz sicher, alles gut gemacht zu haben. Aber ach, wie hatte ich mich getäuscht –! Denn deshalb, weil ich den zugefügten Schaden, der kaum 4 Denare betrug, der Kirche noch nicht restituiert hatte, sollte schon das ewige Verdammungsurteil über mich gefällt werden. Da legte die allerseligste Jungfrau Maria und der heilige Maximus zugleich mit allen heiligen Engeln Fürsprache ein. Dennoch wurde ich durch einen unsäglichen Feuerbrand gepeinigt, indem die Dämonen unter höllischem Gelächter ganze Feuergarben auf mich warfen. Ich glaubte, mehr denn 400 Jahre in jenem Feuer leiden zu müssen und alle Garben der ganzen Welt schienen auf mich zu fallen. Wie ich jedoch nachher merkte, hatte ich kaum eine Stunde in jener Tortur verweilt.

Darauf wurde ich durch Gottes Barmherzigkeit wieder frei und von meinem Engel zu anderen Orten der Strafe geführt, wo ich so schreckliche, so ungeheuerliche Qualen sah, daß kein Verstand der Sterblichen dieselben fassen und keine menschliche Zunge sie aussprechen kann. Ein Vergleich mit den Strafen dieser Welt läßt sich gar nicht anstellen. Es stieg auch eine so große Menge von Seelen durch jenen Raum, wo ich des Körpers entkleidet worden war, in die Unterwelt, daß ich nicht für möglich gehalten hätte, daß in 100 Jahren soviel Leute sterben könnten. Da waren Bischöfe, Äbte, Priester, Mönche und Nonnen mit unzähligen Christen beiderlei Geschlechtes.

Nie hätte ich geglaubt, daß es so viele Menschen auf der Welt geben konnte. Eine unzählige Schar Heiden und Ungläubige fiel wie Schnee zur Hölle.

O, wie groß war der Jammer dieser unglücklichen Seelen, wie kläglich ihre Seufzer und ihr Geschrei! Ihr Heulen ging in einem fort und mit lauter Stimme riefen sie: »Weh, weh, wehe mir! Wozu bin ich geboren? Um in die ewige Verdammnis zu geraten?!«

Ich sah unterdessen die Seele eines Bischofs, wie sie von den Dämonen in die Hölle geschleppt wurde, wobei die Teufel einen wahren Siegestanz aufführten; sie aber weinte und schrie ohne Unterlaß. Die Zahl der Dämonen, welche sich um jene Seele geschart hatte, deuchte mir Legion.

Dort sah und erkannte ich auf's klarste die Sünden einer jeden Seele, auch die kleinsten, wenn sie noch nicht gebeichtet waren. Aber auch meine eigenen Sünden und Fehler, die ich ausgelassen und zu beichten vergessen hatte, kamen mir auf einmal alle ins Gedächtnis, sodaß sie eine große Verwirrung in mir hervorriefen. Alles aber wurde bekannt und kund gemacht, was ich Gutes und Böses getan und nichts blieb verborgen. Zudem erfuhr ich, daß es noch sehr viele schwere Sünden gab, die ich früher im Leben nicht dafür gehalten hatte. Sodann sah ich dort mehrere, die ich früher im Leben gekannt; sie baten und riefen kläglich zu mir um Hilfe, von diesen wurden manche gereinigt, indem sie die sichere Hoffnung auf Befreiung und das zukünftige Leben hatten. Andere dagegen litten mehr, weil sie noch nicht sicher wußten, ob sie erlöst wurden.

Es schien mir aber, als ob mitten in der Erde ein sehr tiefer, großer Brunnen sich befände, voll von Seelen und zischenden Flammen, die bis zu den Wolken in die Höhe schlugen. Dort führte mich auch der Engel hin und sagte, ich sollte hineinschauen. O guter Gott! Was ist da ein Schrecken über mich gekommen! Das kann ich nicht vergessen und wenn ich 1000 Jahre alt würde! Wenn ich so viele Zungen hätte als Tropfen Wassers im Meer, so könnte ich doch nicht die kleinste Strafe beschreiben, die dort verbüßt wurde. Ich sah daselbst unzählige Menschenseelen schrecklich gepeinigt, unzählige Dämonen unter ihnen, die sie auf das grausamste zerfleischten. Dort hörte man nichts als Wehklagen und Jammergeschrei sowie Lästerungen gegen Gott und die ganze Schöpfung, daß ich ohne Entsetzen nicht daran denken kann.

Einen solchen Tumult, ein solches Krachen, einen Sturm und ein Getöse, als ob 1000 Erdkreise zusammenbrächen. Auch fand ich dort etliche von meinen früheren Bekannten wieder. Sie riefen mir zu, daß sie in alle Ewigkeit verdammt wären.

Jener Brunnenschlund war nämlich, wie der Engel mir sagte, die Hölle. Wer da einmal hinabgestiegen sei, verlasse sie nie wieder in alle Ewigkeit. Hierauf führte mich der Engel an jene Orte zurück, wo, wie er sagte, die Seelen gereinigt wurden.

Es war dort eine zahllose Menge, welche an verschiedenen Stellen, je nach der Verschiedenheit ihrer Sünden, gestraft wurden. O, welcher Jammer, welches Leid dieser unglücklichen Seelen! Ich sah sie dort die bittersten Strafen leiden, für Sünden, welche sie im Leben für leicht gehalten und nicht gebeichtet hatten.

Hierauf gelangten wir, so schien es mir, in ein abgründiges Tal, worin sich ein tiefer und übelriechender Fluß befand. Darüber führte eine sehr schmale, schlüpfrige Brücke, von einem sehr hohen Berge von der einen Seite zur andern. Die Schlucht war so tief, daß die 4 Türme von Kreuznach, wenn man sie übereinanderstellte, noch nicht an die Brücke reichen würden. Diese selbst war so schmal, daß kaum zwei Füße darauf Platz hatten und von beiden Seiten ging es nach der Mitte zu etwas in die Höhe, so daß man nur mit größter Schwierigkeit darüber gehen konnte.

Ich sah viele Seelen, welche über diese Brücke zu gehen wünschten; die einen von ihnen fielen gleich zu Anfang, die anderen in der Mitte, wieder andere am Ende, in jenen gräßlichen Fluß, der voller Drachen und Schlangen war, welche ihre Köpfe in die Höhe hoben, um die Niederfallenden zu verschlingen. Ein schreckliches, unbeschreibliches Schauspiel! Die aber in den Fluß fielen, gingen unter, die einen bis zum Kopf, die anderen bis zum Hals, wieder andere bis an die Knie, alle je nach der Größe ihrer Schuld. Durch Schwimmen und Tauchen mühten sie sich in größter Anstrengung ab, nun wieder an's Ufer zu kommen; die einen erreichten es früher, die anderen später. Sobald sie aber ans Ufer angekommen, waren sie viel schöner als früher.

Dort wurden sie von den heiligen Engeln in Empfang genommen und in den Palast des himmlischen Reiches geführt. Ich sah dort einige mit Gold und Silber beladen und mit allerlei Sorgen beschwert. Sie wollten hinüber, fielen aber gleich zu Anfang hinab und kamen nach vieler Mühe kaum mehr ans Ufer, denn je öfter einer von der Brücke hinabfiel, desto länger blieb er im Flusse. Zurück konnte man nicht, nur vorwärts. Einige wälzten sich viele Jahre in dem übelriechenden Sumpf, fast bis zur Erschöpfung aller Kräfte.

Da sah ich auf einmal eine ledige, sehr schöne Seele zur Brücke kommen, und mit solcher Leichtigkeit hinübergehen, daß sie nicht im geringsten zögerte. Ich fragte den Engel, wer diese Seele sei und er sagte zu mir: »Das ist die Seele des Mönches Theodebart, der außer Gott nichts im Leben liebte. Er war ein reicher Domherr zu Mainz, jung und angesehen, verachtete aber alles aus Liebe zu Gott und wurde Mönch zu Blidenstatt im Kloster des heiligen Fernicius, wo er bis zu seinem Tode Gott in aller Reinheit, Einfalt und Ruhe des Herzens diente. Und weil er Gott zu Liebe die Welt verachtete, ging er auch mit Gottes Hülfe sicher über die Brücke.

Mit derselben Sicherheit werden alle hinübergehen, welche im Kloster, ohne alle weltliche Beschäftigung, Gott allein dienen.« Noch Vieles andere habe ich gesehen und gehört, was ich dieses Mal nicht sagen kann.

Dann nahm der Engel mich an der Hand und führte mich zu den Orten der seligen Geister. Die frohlockten in solcher Freude und so großer Glückseligkeit, daß kein Verstand dieselbe fassen und keine Zunge sie aussprechen kann. Was ich dort gehört und gesehen, kann ich nicht sagen und wenn ich auch fortführe zu enden, ihr würdet mich doch nicht verstehen und begreifen können.

Dort bemerkte ich unter anderen Bekannten auch meinen früheren Herrn Pastor Hildebert aus Sponheim, der später daselbst Mönch geworden ist. Er trug jetzt einen goldenen Stern auf der Brust, glänzend wie die Sonne, wegen seiner großen Wissenschaft und Gelehrsamkeit, weil er durch seine Lehren und Ermahnungen viele in diesem Leben auf den Weg der Gerechtigkeit zurückgeführt hatte.

Ach, was habe ich da schöne Gesänge gehört! Was habe ich dort Schönes und Liebliches gesehen; O, was hat Gott denen bereitet, die ihn lieben! Niemand faßt es, wenn er es nicht selbst erlebt und empfunden hat.

Auf unbegreifliche Weise ward ich durch alle Chöre der heiligen Engel hindurchgeführt und ich sah Geheimnisse, die ich nicht sagen darf, aber auch nicht sagen kann.

Als ich dann zu den ersten glänzendsten der seligen Geister gekommen war, luden sie mich ein, bei ihnen zu bleiben, aber der Engel des Herrn sagte: »Er muß in den Körper zurückkehren; wenn er dann seine früheren Sünden abgebüßt, wenn er sich vor den Sünden gehütet und Werke der Gerechtigkeit geübt hat, so kann er nach einigen Jahren glücklicher zu uns zurückkehren.« Als ich das Wort hörte, daß ich zum Körper zurücksollte, erschauerte ich und verging fast vor bitterem Schmerz, so weh tat es mir, jene Gesellschaft der seligen Geister zu verlassen.

Und es sprach der Engel des Herrn zu mir: »Es ist in Gottes Ratschluß bestimmt und läßt sich nicht ändern. Du wirst jetzt zum Körper zurückkehren; alles was du gesehen und gehört hast, deinem Pastor mitteilen und den Gottesfürchtigen nur das offenbaren, was jener dir befiehlt, was er aber verbietet, darüber wirst du ewiges Schweigen beobachten.« Nach diesen Worten wurde ich wieder zum Körper zurückgeführt und geheißen, wieder in denselben einzukehren.

O guter Gott, wie abscheulich und häßlich kam mir mein eigener Körper vor! Wie ungern kehrte ich zu demselben zurück! Ja, es war mir diese Strafe, wieder in den Körper einzugehen, härter, als vorher der Tod mir gewesen. Und siehe, mit einem Male finde ich mich wieder lebend hier und weiß nicht wie!«

Nach diesen Worten schwieg er und weinte.

Da sagte der Pastor zu ihm: »Du redest wunderbare Dinge, allein ich möchte gerne wissen, ob du das was du sagst, in der Wirklichkeit sahst, oder nur in einem Gleichnisse, wie durch ein Gefühl oder im Geiste?«

Da antwortete jener: »Herr Pastor, laßt Euch durch diese Erzählung nicht beirren. Soviel ich weiß und zu sagen mich getraue, ist alles was dort ist, geschieht und gelitten wird, nur geistig und umso höher und allen Sterblichen umso schwerer verständlich, als der Geist höher und freier ist als der Körper. Mir aber, so belehrte mich der Engel, wurde alles in sichtbarer und materieller Art gezeigt, weil ich zum Körper zurückkehren sollte. Ich hätte jene geistigen Dinge im Fleische weder behalten noch Euch offenbaren können, ohne Beihülfe sinnlicher Gleichnisse. Unmöglich kann ein sterblicher Mensch das alles sehen, wie es ist und ich weiß und verstehe im Körper auch nicht mehr alles so gut, wie ich es dort verstanden habe, außerhalb des Körpers. Es kommt mir vor, als sei ich aus dem hellsten Lichte in die dichteste Finsternis geworfen worden.«

Vieles andere furchtbare sagte er noch von den Strafen der Hölle und des Fegfeuers, ebenso wie von den Freuden des Himmels. Es wäre zu weitläufig, dieses alles niederzuschreiben. Einigen Menschen teilte er auch auf Befehl des Engels ihre geheimen Sünden mit, damit sie Buße tun sollten. Endlich sagte er noch einige Zukünftige voraus, was dann nachher auch wirklich eintraf; das aber, was wir mitteilten, hat der Erzpriester Udo, Pastor in Mendel, zur Erkenntnis der Nachwelt aufgeschrieben. Ferner hat Adelbert, der Wiederauferstandene, eine solch harte Buße auf sich genommen, daß man nicht daran zweifeln konnte, daß er noch viel schrecklichere Qualen gesehen, als die, welche er geschildert hatte.

Er begann ein Einsiedlerleben in einem Wäldchen, nicht weit von Dalen (ein verschwundenes Dorf bei Sponheim), wo er sich eine kleine Hütte aus Holz und Lehm erbaute, und bis zu seinem Tode, der nach 7 Jahren erfolgte, in großer Enthaltsamkeit lebte.

Dieses Ereignis in Mendel war die Ursache, daß in der Nähe, wo der Einsiedler Adelbert im Walde gelebt, auf Anregung desselben Pastors Udo von Mendel, ein Nonnenkloster, St. Kathrinen, errichtet und 1219 bereits eingeweiht wurde. –

Die Anwesenden saßen noch eine Weile da, stumm und ergriffen unter dem Eindrucke des soeben Gehörten und dann, da es inzwischen ziemlich spät geworden, brachen sie auf.


 << zurück weiter >>