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Erster Teil.
Gestalten und Erfahrungen


In Memoriam Ferruccio Busoni

Es ist zunächst nicht verständlich, daß dieser einzige Mann nicht mehr lebt; es ist nicht ohne weiteres glaubhaft, auch abgesehen vom Gefühl des Verlustes. Die Existenz eines genialen Menschen hat etwas so Bezwingendes und Wahres, daß ihr Aufhören wie eine unverdiente Feindseligkeit des Schicksals erscheint, oder als ob die Natur sich selbst verleugne und verkürze. Mehr als ihnen je bewußt wird, sind die Individuen in der Totalität ihres Seins abhängig von den höchst entwickelten Exemplaren der Gattung.

Als ich Busoni zum erstenmal begegnete, stand er im Alter von achtunddreißig Jahren; ein Mann von erstaunlicher Schönheit, sehr gepflegt, sehr verwöhnt, emporgehoben durch den Beifall einer Welt, umleuchtet von der Liebe seiner Schüler, Bewunderer und Anhänger, doch durchaus Virtuose noch, wenn auch repräsentativer Virtuose, mit allen Merkmalen errungener Herrschaft; voller Kraft, voller Nerv, voller Intensität, voll geistiger Leidenschaft, doch alles nur wie in der Anlage erst, vor der eigentlichen Selbstbesinnung und Selbstwerdung.

Von dem Tage ab bildete sich eine Freundschaft, die ich zu den außerordentlichen Glücksfällen meines Lebens zähle.

Als ich ihn im Dezember 1922 zum letzten Male sah, war er sechsundfünfzig Jahre alt und ein Greis; das edle Gesicht zerwühlt, der Mund merklich verpreßt, die wunderbar gebaute Stirn von schneeweißem Haar gekrönt, angerührt von der Todeskrankheit bereits, erschütternd durch die spürbare Nähe des körperlichen Zusammenbruches, noch viel mehr aber durch die Großartigkeit einer Lebens- und Geisteshaltung, die auch Unempfindliche und Fernstehende nötigte, sich vor ihm zu beugen.

In den achtzehn Jahren zwischen diesen beiden Begegnungen durfte ich Zeuge eines inneren Wachstums von ganz unvergleichlicher Art sein, einer vollkommenen Wandlung geradezu, deren Ergebnis schließlich eine Persönlichkeit von gültiger und vorbildhafter Prägung war; zusammenfassend; Endphänomen einer Epoche; Anfangsgestalt einer neuen.

Es kann hier nicht erörtert werden, was er auf seinem Märtyrerweg vom ausführenden und wiedergebenden zum schöpferischen Künstler erreicht oder nicht erreicht hat; ob das Vollbrachte im richtigen oder nicht im richtigen Verhältnis stand und steht zum ungeheuren Willen, zur beispiellosen Spannung und Anspannung, zum weit- und hochgesteckten Ziel. Da schwebt noch alles, Frage, Zweifel und Entscheidung. Es fehlt die Kompetenz, mir zuerst, dem Einzelnen überhaupt, dem Zeitgenossen wahrscheinlich. Die Zukunft wird richten, die Nachkommen werden Sicherheit erlangen. Werke sind Organismen; gemäß der in ihnen ruhenden Lebenskraft entfalten sie sich mit unbeirrbarem Willen zum Leben. Gewiß ist nur, in diesem Fall, der feurige Enthusiasmus dessen, der sie schuf, sein priesterlicher Ernst, seine innere Überzeugung, vor allem sein Verzicht und sein Opfer. Darin ist eine Täuschung nicht gut möglich; darin pflegt auch die Natur selten zu lügen. Der Punkt, wo Mensch und Werk identisch werden, ist zugleich der, wo die Erkenntnis ihre Weisung empfängt, und das letzte Wort spricht doch der Liebende.

Busonis Vater war Italiener, seine Mutter kärntnerische Deutsche. Die Blutmischung entschied über sein Schicksal und über seinen Charakter. Sie gab seinem Wesen die Form, seinem Geist die Richtung, seinem Temperament den Flug und die Glut; sie bezeichnete auch den tiefsten Zwiespalt in seiner Seele. Deutschland wurde ihm Wahlheimat, in Konflikten, die der Zeitgeschichte angehören, schmerzlich eroberte, sonderbar ähnlich wie einst bei Adalbert von Chamisso; deutsche Sprache, in deren Rhythmus und Wortschatz er sich so einzuwohnen wußte, daß er mit Leichtigkeit und Reinheit als Schriftsteller seine bedeutenden Gedanken in ihr auszudrücken vermochte, und deutsche Bildung, in dem hohen Sinn eines nun erlöschenden humanistischen Ideals, erzeugten die Atmosphäre, in welcher er allein gedeihen konnte; deutsche Musik, in ihren Gipfeln Bach und Mozart, war sein Bekenntnis und sein Aufblick.

Allem Südlichen wehrte er, auch dem, was er davon in sich selber spürte; und das war viel. Er bekämpfte es; er erstickte es; er fürchtete es beinahe, wie einer, der auf der Flucht ist, den Verfolger fürchtet; er wollte nicht daran erinnert werden, als sei es ihm Last oder Schatten.

Und doch, wieviel Italienisches war in ihm; wieviel romanische Grazie in einem Gruß bloß, in einer Verbeugung. Anstand, ein Wort, das auch allmählich seinen schönen Sinn verliert, war ihm in einem verführerischen Grad eigen. Eines Tages nahm er mich in Zürich zu einer Probe seines schönen Klarinettenkonzerts mit; er saß in der Nähe des Podiums und hörte zu. Ich werde nie vergessen, wie er nach beendeter Aufführung zu dem Dirigenten trat, einem blutjungen Italiener, ihm die Hand schüttelte, mit ihm redete und auch den Orchestermitgliedern seinen Dank abstattete; ganz und gar »Maestro«, sachlich und unfeierlich, mit heiterer Lässigkeit und behutsam gewichtlos; die Musiker umringten ihn dann; er beantwortete verbindlich ihre Fragen, äußerte artig seine Wünsche, völlig wie gegen seinesgleichen, ohne Umstellung, ohne betonte Überlegenheit, ohne die Spur von Herablassung; solche Regungen kannte er gar nicht. Sein Respekt vor jeder künstlerischen Tätigkeit, auch der untergeordneten und bescheidenen, war so groß, daß er dem geringsten wie dem wichtigsten seiner Helfer die nämliche Courtoisie bezeigte.

Künstler, das war ein Rangbegriff für ihn; zum Künstler schlug er sich von vornherein als Kamerad; für ihn bürgte er sozusagen, und jeder, der nach seiner Meinung auf den Titel Anspruch erheben durfte, erschien ihm als Verfechter und Vertreter dessen, was er selber schuf und wollte. Darin war er ganz Lateiner, und lieber ließ er sich zehnmal täuschen, als daß er einmal Gefahr lief, unbillig zu sein oder im Urteil vorgreifend. Ich entsinne mich, daß er sich manchmal mit rührender Schüchternheit nach Eigenschaften und Leistungen irgendeines jungen Schriftstellers bei mir erkundigte; ein Buch, ein Aufsatz, ein Gedicht war ihm unter die Augen gekommen und hatte seine Teilnahme erweckt; doch wagte er noch nicht zuzustimmen und suchte für seine schwankende Meinung eine Stütze.

Dies will aber nicht besagen, daß er auch im vertrauten Kreis, unter Freunden oder gar gegen neugierige Besucher eine so urbane Haltung immer bewahrte. Leidenschaftlicher Debatter, vertrat er seine Ansichten mit äußerster Hartnäckigkeit, ja mit einem gewissen erbitterten Trotz bisweilen, und je mehr er sich ins Paradox verstieg, was besonders dann der Fall war, wenn ihn der Widersprechende mehr reizte als der Widerspruch, je zäher hielt er an seiner Behauptung fest, konnte ausfällig werden bis zur Beleidigung und den Gegner mit ätzendem Hohn überschütten. Er fand kein Ende in Spott und Stichelei und dröhnendem Stoßgelächter, wobei er sich auf die Schenkel schlug, den Körper in absonderlichen Windungen verdrehte und aus den Augen zornige Blitze schoß. Es machte oft den seltsamen Eindruck, als wolle er sich an dem Partner für die Schwächlichkeit von dessen Argumenten rächen, als wolle er sich überhaupt rächen an der Unzulänglichkeit einer Welt und an der Hilflosigkeit und Ratlosigkeit, in die er sie durch seine Existenz und sein Tun versetzt sah oder versetzt glaubte. Derjenige, gegen den er dann so wild in die Schranken trat, war nur das unschuldige und zufällige Opfer seines königlichen Ingrimms. Es konnte aber auch geschehen, daß von irgendeinem Mund ein autoritatives Wort ins Gespräch fiel, dem er sich plötzlich unterwarf, sei es, weil er den Betreffenden achtete, sei es, weil ihn der Einwand stutzig machte und bekehrte. Auf einmal war er sanft, leistete beinahe demütig Abbitte, wurde zärtlich, aufmerkend-gelehrig und versank endlich in stummes Nachdenken.

Aber nicht leicht ergab er sich; seine Welterfahrung und Menschenkenntnis war eine vielfältige, seine Belesenheit ungewöhnlich; damit besaß er Waffen genug. Die Literatur aller Länder stand seinem Gedächtnis zu Gebote, und an das eigene Wissen und Meinen knüpfte er gern das Wort eines geliebten Dichters. Unter seinen Briefen an mich befindet sich eine ganze Reihe, in denen er sich zum Beispiel über die Vorzüge des von ihm aufs höchste bewunderten Romans »Les misérables« von Victor Hugo ausspricht; entgegnete ich ihm mit einer kleinen Einschränkung, so scheute er keine Zeit und Mühe, mich davon abzubringen, ja, er war imstande, in flehentlicher Weise, wie ein kleiner Knabe, dem Unrecht widerfahren ist, an mein gerechtes Urteil zu appellieren, so daß ich, nur um ihn nicht allzusehr zu kränken, in manchen Punkten nachgab.

So nahe ging ihm alle Gestalt, jede große Erscheinung; es war einfach seine innerste persönliche Angelegenheit.

Welcher Schmerz, daß ich nie mehr diese Briefe erhalten soll; schon durch ihre sonderbar stolzen und ausdrucksvollen Schriftzüge hatten sie eine eigene Art von Beredsamkeit. Mit sichtlichem Bedacht war Buchstabe an Buchstabe gefügt, gleichsam gemalt, und in dieser Ordnung, Sorglichkeit und Deutlichkeit lag wiederum eine Respektserweisung. Man sah wohl, daß ihm das Schreiben keine natürliche Beschäftigung war und noch weniger eine gewohnheitsmäßige, und daß er sich darin zur Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit erzogen hatte, vor allem, daß er dem Freund dabei den Beweis schuldig zu sein glaubte, es sei ein Feiertag, es sei eine Freude, wenn er ihm schrieb. Und so war auch der Inhalt. Persönliches trat in den Hintergrund, wenn er fürchten mußte, damit zu belasten oder Sorge zu erwecken. Ich habe in dieser Beziehung niemals einen Mann von größerer Rücksicht kennengelernt. Zweifellos war auch Stolz mit im Spiel; er war sehr stolz. Er liebte nicht, seine Angelegenheiten auszubreiten; er liebte überhaupt nicht das, was man Angelegenheiten nennt, Geschäfte oder Betriebsamkeiten. Er klagte nie, nicht einmal über seinen Körper; nie äußerte er sich über eine Enttäuschung, die er erlitten hatte, eine fehlgeschlagene Hoffnung. Es war ihm lediglich um geistige Beziehung zu tun, um geistige Mitteilung, um Aussprache und Lebensgestaltung. Nur in dem letzten Brief, den ich von ihm habe, klingt Resignation und Melancholie, trotzdem er sich sträubt, die Krankheit auch nur anzuerkennen, die ihn doch schon zerstört.

Er schreibt: »Heute ist der erste Mai. Nel mezzo del cammin della mia vita war dieser Tag alljährlich einer der allerschönsten. Das leidige Reisen war beendet. Ich konnte bleiben, wo ich wollte: am liebsten wieder zu Hause und meine eigene Arbeit wieder aufnehmen. Das Wetter wurde schöner, ich nutzte die Freiheit aus und erging mich ausgiebig durch die Straßen. Ich war stets lebensfreudig und hielt erstaunlich viel aus. Dreißig Jahre lang habe ich keinen Arzt konsultiert. Meine Fähigkeiten nahmen stetig zu. Ich war überall ein wenig heimisch und ein wenig bekannt. Bis 1914 hatte ich mich nie um Politik, um Krieg gekümmert. Nur schlechte Kunst konnte mich aus dem Gleichgewicht bringen, nur eine sterile Periode beunruhigen und betrüben. Und auch während des Krieges bewahrte ich meine sonstige Haltung. Aber das Ende desselben enthüllte mir die Verwüstung, und dieser neuen Situation war ich nicht mehr stark genug, entgegenzutreten, nicht jung genug, sie zu ertragen. Dieser Zustand offenbarte sich scheinbar ohne Übergang und machte einen bösen Strich durch mein Leben, der nicht von meiner Hand gezogen war, wie es ehemals bei mir üblich. Das ist zum großen Teil die Geschichte meiner Krankheit …«

Ich glaube nicht, daß er sich hierin täuschte; im wesentlichen nicht. Es war sicherlich seelische Erschütterung, die ihn zu Fall brachte, obwohl er den Körper zu keiner Zeit des Lebens schonte. Er befragte ihn nicht; er betreute ihn nicht; er betrachtete ihn ungefähr wie einen Diener, der unter allen Umständen schweigend zu gehorchen hat. Und als sich eines Tages dieser Diener auflehnte, stand der Herr verwundert und ziemlich fassungslos vor der Rebellion. Er wollte die Mahnung nicht hören, die Zeichen nicht beachten, doch muß wohl in seinem Gemüt ein geheimer tiefer Schrecken gewesen sein, ein vor sich selbst verhehlter; darauf deutet schon der Umstand hin, daß er sich nicht entschließen konnte, seit vielen Monaten nicht, den Faust zu vollenden; zwei Szenen fehlen, wie ich höre. Vielleicht fürchtete er, fortgehen zu müssen, wenn er dieses Werk vollendet hatte, das er für das wichtigste seines Lebens hielt.

Er liebte nicht die Landschaft, liebte nicht, sich in der Landschaft zu ergehen. Hierin war er ganz Italiener; der Italiener geht nicht spazieren. Bäume, Wiesen, Gärten, das war ihm nichts; Stille der Natur, Schönheit der Natur, ein Wort, das ihn lächeln machte. Was er liebte, war die Stadt; Gewühl der Straßen; Ankunft der Züge auf einem Bahnhof; da konnte er sich verlieren, da konnte er träumen; draußen nicht; das »Draußen« war ihm nicht vorhanden. Was er liebte, war eine entlegene Kneipe, wo er einsam sitzen konnte, oder auch mit Freunden, und dann vor allem das Zimmer mit seinen Büchern. Er war ein passionierter Sammler von Büchern, und seine Bibliothek ist wahrscheinlich eine der kostbarsten, die heute existieren Leider existiert sie schon nicht mehr. J. W.. Bücher waren Gefährten für ihn, lebendige Wesen, die er mit Zärtlichkeit behandelte und von deren Mängeln er sogar, wenn er sie einmal besaß, mit einer Art von väterlicher Nachsicht sprach.

Alles romanisch Lockere und weltlich Leichte seiner Person verschwand, wenn er am Klavier saß. Da kehrte sich das nordische Element hervor, das Gebundene, das Strenge und Gewaltige, das in ihm war; neben dem Adel, den die unbedingte Meisterschaft verleiht, auch der nie in ihm schweigende Schmerz, an ein Ausdrucksmittel verwiesen zu sein, das ihm nicht mehr genügte, dessen Unvollkommenheit und Modeläufigkeit ihn mit Erbitterung, ja mit Ekel erfüllte, auf das sich aber nicht bloß der Ruhm gründete, den er bei der großen Menge der Musikverschlinger der alten und neuen Welt genoß, sondern das ihm auch die materielle Existenz sichern mußte.

Es sei erlaubt, die Worte einer aufmerksamen Beobachterin zu zitieren (meiner Frau), niedergeschrieben nach einem Tage, an welchem wir Busoni spielen gehört hatten, nicht in öffentlichem Konzert, in seinem Hause; es ist unmöglich, den Eindruck richtiger und bezeichnender wiederzugeben, als es hier geschieht: »Der Mann, dessen Bild ich mit diesem Brief in Dir erwecken will, ließ sich eines Abends zu dem herbei, was er, ungern von sich selbst verführt, kopfschüttelnd und ungeduldig das Mißverständnis nennt, das heißt, er setzte sich dem Freund zuliebe an den Flügel. Die Figur, die Haltung, wie allein schon der Ehrfurcht würdig! Spieler und Instrument schlossen sich in eins, und dies eine, das war der Magier, ich fühlte es, während ein Strom von Berückung mich überfloß. Er will aber nicht mehr Magier sein, des Knabenwunsches ist er Herr; nie fühlte ich ihn edler, als während seine dämonischen Hände zauberten, edel über die Magie hinaus, und der tragische Adel flammte über dem bleichen Haupt wie ein Diadem. So offenbart sich, was er mit vorsätzlicher Knappheit als das Mißverständnis abtut. Und wenn er ruft: Mit fünfzig muß ich das gleiche studieren wie mit fünfzehn, ist es nicht eine Schande? Wenn er es ausruft mit seinem blitzenden Zorn, dann ist mehr Überdruß an der eigenen Kraft der Magie darin als Arger über die Ungebühr der Forderung. Dieser Überdruß aber hebt ihn hinauf in die Einzigkeit; um dieses Überdrusses willen ist er als Vorbild gesetzt allen, denen es Ernst ist mit der Reinigung, aber in denen der Wunsch zu zaubern nicht sterben kann. Welche Unerbittlichkeit in ihm, welche Erkenntnis, welche Demut! Und Du siehst hier auch schon die Notwendigkeit, die ihn zu einer Faustgestaltung treibt, die den Brennpunkt seines schöpferischen Lebens bilden muß. Wenn ich Dir nichts davon berichte, dann rechne es zu meiner Scheu, Grenzen zu überschreiten, die mir eine innere Stimme setzt …«

Der Überdruß, von dem hier die Rede ist, steigerte sich in den letzten Jahren bis zum Krankhaften; ein voreiliges Begehren, das ihn ans Instrument locken wollte, erregte schon sein Mißtrauen und seinen Widerwillen. Er schlug Angebote amerikanischer Unternehmer aus, die ihm ein fürstliches Einkommen verschafft und ihn ökonomisch für viele Jahre sichergestellt hätten. Aber er verachtete Geld. Niemals hörte ich ihn von Geld reden; das war ihm gar keines Gedankens würdig. Lieber wollte er in Armut leben, als sich, wie er sich ausdrückte, dem musikalischen Pöbel verkaufen. Doch davon war nicht allein die Furcht vor dem »Mißverständnis« die Ursache; nicht allein die Trauer und Unzufriedenheit, für etwas genommen und gefordert zu werden, was er nicht mehr war, nicht mehr sein konnte: der Virtuose, der Schauspieler, der Vorspieler, der bloße Mittler und Deuter; nicht etwa vom Gefühl abgewiesenen Anspruchs kam dies her; der Ehrgeiz hatte keinen Teil daran; gerade davon war er ja befreit; das eben hatte er in sich bekämpft und überwunden.

Es ging um anderes, um Höheres: um die Einheit, um das Ganze der Kunst und das Ganze des Menschen. So wie er in seinem Schaffen sich nicht dem Kult des Spezifischen ergab, Rhythmus oder Harmonie oder melodischer Linie, sondern dem zustrebte, was er die Sphäre nannte, mochte er sich auch als Mensch in keine Provinz des Geistes oder des privaten Wirkens verpflichten und zerstücken; man war nicht ein Pianist oder ein Komponist oder ein Schriftsteller oder ein Lehrer oder ein Dirigent; man hatte die Aufgabe, sich nach allen diesen Seiten menschlich in der Kunst zu erfüllen.

Daß dies nicht Philosophie und Doktrin war, sondern Erlebnis, täglich erneuertes, und daß es infolgedessen auch für diejenigen zum Erlebnis wurde, die lern- und aufnahmedurstig ihn umstanden, enthält das Geheimnis seines Einflusses, der seelischen Gewalt, die er ausübte, und der vergötternden Liebe, die ihm, besonders von jungen Menschen, entgegengebracht wurde. Er hatte ihre Gemüter willfährig und gehorsam gestimmt; er hatte sich zum Herrn ihrer Herzen gemacht. Sie wußten es ihm Dank, daß ihr Herz einen Herrn besaß; denn die Zeit, wie sie nun einmal ist, hatte ja in den meisten von ihnen alle Götterbilder zertrümmert, und wenn sie glauben und sich vertrauend hingeben durften, waren sie nicht bloß seine Schüler mehr, das wäre viel zu wenig gesagt, sondern seine Jünger und seine Geschöpfe.

Mit ihm Umgang pflegen, das hieß in beständiger Spannung sein, in lustvoller Neugierde und in einer Art von Furcht oft. Bei jeder Begegnung, jedem Zusammensein überraschte er, sei es durch unerwarteten Schwung und Aufschwung, sei es durch unerwartete Verstimmung und bohrenden Welthaß. Innerhalb einer Stunde hatte er viele Gesichter: ein müdes, ein begeistertes; ein verächtliches, ein liebevolles; ein grübelnd-verschlossenes, ein kindlich-geöffnetes. Er war Kind bis an sein Ende; manchmal glich er einem halb zutraulichen, halb schüchternen Knaben; manchmal war er launisch wie eine schöne Frau. Gegenüber Frauen, die er respektierte, trat seine ausgezeichnete Ritterlichkeit zutage, besonders war seine Haltung gegen ältere Damen in hohem Maß bestrickend, ja geradezu ehrfurchtsvoll; doch machte er, wenn es im Gespräch um geistige, um künstlerische Fragen ging, keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern, vielmehr mißtraute er in solchen Fällen der Kapazität und Befähigung bis an die Grenze der Unartigkeit, und wo ihm Anmaßung entgegentrat oder nur in Koketterie gehüllte Prätensionen, wurde er vollends zynisch. Er hatte hierin sehr viel Witterung für Echtheit und wachte etwas pedantisch darüber, daß die von der Natur vermeintlich oder wirklich gezogenen Grenzen nicht überschritten würden; vielleicht war es bisweilen nur sein Vorurteil, das solche Grenzen setzte; vielleicht hatten ihn Erfahrungen, von denen kein bewunderter Liebling verschont bleibt, in eine trotzig verallgemeinernde Abwehr gezwungen. Unter Umständen konnte er auch eine gewisse Nichtigkeit verzeihen oder gar übersehen, wenn Anmut und Schönheit damit verbunden waren; andererseits fand er etwa eine Madame de Staël unausstehlich, eine George Sand abstoßend, eine Elizabeth Browning bei unleugbarem Genie nicht behaglich und eine Marie Baskirtsheff überheblich und larmoyant.

Alles Russische, das heißt nach seiner Auffassung Formlose, Schwatzhafte, Verfinsterte, Indiskrete, war ihm ein Greuel. Asiatische Unzucht war das vernichtende Wort, das er einmal dafür gebrauchte. Kurz vor seinem Tode schrieb ich ihm, daß eine Arbeit, die mich seit langem beschäftigte, mich vor ganz neue Aufgaben stelle. Er antwortete: »Das neue System in Ihrem neuen Werk, wie Sie es andeuten, überzeugt mich ohne weiteres. Los von Dostojewski, so könnte es heißen; der immer alles genau weiß, was sein Mann fühlt und denkt, und nie daran zweifelt, daß er, Dostojewski, es allein richtig und erschöpfend denkt. Welche Anmaßung!« Ich mußte unwillkürlich lachen, als ich es las, so lebhaft konnte ich mir vorstellen, wie er aussah, wenn er so etwas sagte, unmutig, den Kopf zurückgeworfen, die weiße Mähne schüttelnd und mit einer ganz kleinen fragenden Unsicherheit in den Augen.

Er hatte viele hoffmanneske Züge; vieles an ihm gemahnte an den Kapellmeister Kreisler. Das Dunkle, Gebundene, leidenschaftlich Gärende seiner Natur wurzelte in deutscher Romantik. Er war ein dämonischer Mensch; ungern setze ich das mißbrauchte Wort, aber für ihn darf es gelten, und ihn deutet es. Vielleicht ist tiefer Sinn darin zu finden, daß er sich gegen eine Erscheinung und Gestalt wie Beethoven mit solcher Kraft und Inbrunst wehrte, wie er es tat; es war Blut- und Geistverwandtschaft da und deshalb Blut- und Geistesangst, Hier liegt Unerforschliches; etwas, das sich der Berührung wie der Betrachtung entzieht. Das letzte Geheimnis der Seele, vermöchte man es auch zu ergründen, aus der wohltätigen Dunkelheit reißen und zerpflücken, hieße nicht in seinem Sinne handeln; der Abgeschiedene würde noch darüber zürnen.

Wahrscheinlich ist die Musik eine tyrannischere Kunst als jede andere. Damit sie nicht den Menschen zerstöre, in dem und aus dem sie wirkt, seinen Charakter breche, seinen Geist manisch mache, bedarf es der größten physischen, der ungewöhnlichsten sittlichen Widerstände. So will es mich bedünken, wenigstens insofern ich mir gegenwärtig halte, was mich die Erfahrung gelehrt. Viele versinken, viele stocken, wenn sie an einen gewissen Punkt gelangt sind, und die Leistung braucht gar nicht mittelmäßig zu sein, wenn sie in einer höheren Region versagen, kaum ergründlich, warum … Für den Künstler ist es das Element der Gestaltung, das sein Schicksal entscheidet, zuerst und wieder dann zuletzt, auf der Spirale oben. Gestalt ist die Forderung, die im Allwesen liegt und zu der ihn die Natur aufruft; ob er sie vernimmt, ob er ihr gehorcht und bis zu welchem Maß er sie erfüllt, das greift über den eigentlichen Bezirk der Kunst hinaus und tief in Gang und Gewebe der menschlichen Existenz hinab. Es ist, zuletzt, zuhöchst, eine moralische Angelegenheit. Der Musiker steht, so will es mir scheinen, in einem andern Verhältnis zur Gestalt als der Maler und der Dichter. Sie ist ihm ferner gerückt, verschleierter oder vergrabener; er muß sie, kommt mir vor, aus verwickelteren Mißverständnissen schälen als jene, aus täuschenderen Verkleidungen lösen, um ihre reine und einzig gültige Form zu gewinnen. Deshalb muß er gleichsam immer bis an die äußerste Grenze gehen, Grenze der Menschheit und Grenze der seelischen Selbstbehauptung, und es erklärt sich aus diesem auch, weshalb schöpferische Musiker so häufig an der Grenze der sozialen Welt sich befinden, weshalb sie einsamer, rätselhafter, absonderlicher, schrulliger und rebellischer sind als alle sonst, die sich im Schaffen vergeben.

Nun kam bei Ferruccio Busoni hinzu, daß er außerdem noch leiblich und buchstäblich ein Mensch der Grenze war. Zweien Nationen gehörte er an; bei der einen war seine Erde, bei der andern war seine Luft; dort war er gewachsen, hier nur konnte er atmen; missen konnte er keine, jene nicht verleugnen, diese nicht entbehren. Dem Süden dankte er äußere Form, dem Norden innere. Beide hatten ihn vorgeschoben, nirgends stand er in der Mitte, in der natürlichen Heimat nicht, wo er die Kindheit verbracht und deren Sprache er geredet, in der gewählten nicht, die ihn erzogen und ihm den Arbeitskreis und das Wirkungsgefühl gegeben hatte. Er suchte die Synthese der zerstückten Teile; sein lebelang baute er daran. Ein geheimes Bewußtsein beseelte ihn, daß er als Mensch zwischen den Rassen eine Mittler-Sendung zu erfüllen hatte, die in eine ferne Zukunft wies. Da stellte ihn das letzte Jahrzehnt seines Lebens vor die härteste Probe, die einem Mann von solcher Art und Gesinnung auferlegt werden konnte. Kummer und Verzweiflung erfaßten ihn beim Ausbruch des Krieges. Der Blut- und Mordwahn, von dem Europa ergriffen war, erfüllte ihn anfangs mit einem Entsetzen, wie es etwa ein Kind empfinden mag, das man aus einem brennenden Hause trägt. Er blieb in der Schweiz und wartete. Dieses Warten war von der flammendsten Ungeduld durchzittert, die ich je an einem Menschen gesehen habe. Er sammelte seine Schüler um sich, die Freunde besuchten ihn, und viele wurden zu vielen Malen erschrockene Zeugen seines Schmerzes und seiner titanischen Auflehnung gegen ein ihm vollkommen sinnlos erscheinendes Weltgeschehen. Dann, als der Friede geschlossen war, als er die Bewegungsfreiheit wieder erhielt, die er mit so heißem, so ratlosem Zorn entbehrt hatte, daß sein verstörtes Gemüt oft genug beim Wein Trost und Betäubung hatte suchen müssen; als diese Gefangenschaft in einem Lande, das ihm nach allen Seiten zu eng war und das ihn mit seinen Gebirgen wie mit Mauern umschloß, endlich aufhörte, da schlug er sich nicht zu der siegenden Nation, wie er wohl gedurft hätte, wie es die meisten an seiner Statt auch getan hätten, da wählte er die geschlagene, die verarmte, die nahezu geächtete, ohne auch nur einen Augenblick zu schwanken und ohne an Vorteil und Behagen auch nur zu denken. Dies, scheint mir, ist seine größte menschliche Tat, und wenn sie einmal als solche erkannt sein wird, wird es ihr an Ruhm nicht fehlen. Die Armut, in der er gestorben ist, nachdem er dreißig Jahre lang das Leben eines Grandseigneurs geführt, ist wie eine Verklärung dieser Tat.

Ist nun nichts verblieben von einem solchen Mann als der Schatten? Und was ist dies: der Schatten, was bedeutet es, zu sagen: der Schatten? Ein Wort, das wir uns zum Trost oder zur Resignation erfunden haben, wenn die Erinnerung frierend und tastend den Weg zur Gestalt sucht.

Oder muß erst Schatten sein, damit Gestalt entsteht? Ist das kurze Stück Menschenleben und Menschenbewußtsein nur die dunkle Brücke von dem leuchtenden Urnebel vorher zu dem andern nachher, und sind beide aus dem nämlichen Stoff? Ich denke an das ungeheure Gespräch, das Goethe am Todestage Wielands mit Falk führte. »Wollen wir uns einmal auf Vermutungen einlassen,« sagte Goethe, »so sehe ich wirklich nicht ab, was die Monade, welcher wir Wielands Erscheinen auf unserm Planeten verdanken, abhalten sollte, in ihrem neuen Zustande die höchsten Verbindungen dieses Weltalls einzugehen. Durch ihren Fleiß, durch ihren Eifer, durch ihren Geist, womit sie so viele weltgeschichtliche Zustände in sich aufnahm, ist sie zu allem berechtigt. Ich würde mich so wenig wundern, daß ich es sogar meinen Ansichten völlig gemäß finden müßte, wenn ich einst diesen Wieland als einer Weltmonade, als einem Stern erster Größe, nach Jahrtausenden wieder begegnete und sähe, Zeuge davon wäre, wie er mit seinem lieblichen Lichte alles, was ihm irgend nahe käme, erquickte und aufheiterte. Wahrlich, das nebelartige Wesen irgendeines Kometen in Licht und Klarheit zu erfassen, das wäre wohl für die Monas unsers Wielands eine erfreuliche Aufgabe zu nennen; wie denn überhaupt, sobald man die Ewigkeit dieses Weltzustandes denkt, sich für Monaden durchaus keine andere Bestimmung annehmen läßt, als daß sie ewig auch ihrerseits an den Freuden der Götter als selig mitschaffende Kräfte teilnehmen. Das Werden der Schöpfung ist ihnen anvertraut. Gerufen oder ungerufen, sie kommen von selbst auf allen Wegen, von allen Bergen, aus allen Meeren, von allen Sternen; wer mag sie aufhalten? Ich bin gewiß, wie Sie mich hier sehen, schon tausendmal dagewesen und hoffe, wohl noch tausendmal wiederzukommen.«

In demselben Zusammenhang, nachdem er einem auf der Straße bellenden Hund grimmig durchs Fenster zugerufen hatte: »Stelle dich, wie du willst, Larve, mich sollst du doch nicht unterkriegen,« sagte Goethe auch dies: »Das niedrige Weltgesindel pflegt sich über die Maßen breit zu machen; es ist ein wahres Monadenpack, womit wir in diesem Planetenwinkel zusammengeraten sind, und es möchte wenig Ehre von dieser Gesellschaft, wenn sie auf andern Planeten davon hörten, für uns zu erwarten sein.«

So sah auch Shelley die Weltkugeln beseelt durch den Raum rollen, innen glühend und außen leuchtend; er sieht sie, wie Raffael sie in Rom in der Santa Maria del Popolo gemalt, jede von ihrem Engel beherrscht und gelenkt, und weist dem Genius seines Freundes Keats solch einen erledigten Thron, eine herrenlose Sonne zu.

Wie unfaßlich auch beinahe die Kühnheit ist, mit der so, mitten in europäischer Vorstellungswelt, eine Rangordnung und Umwandlung der Seelen, eine Verdienstabstufung der Unsterblichkeit statuiert wird, der Gedanke liegt sicherlich tief im Grunde eines jeden um Bestand ringenden und aufwärts sich bewegenden Geistes. Aber er ist so zart, so heilig und bedarf so sehr des Schutzes vor Verwechselung und selbstsüchtiger Verflachung, daß man ihn eigentlich kaum aussprechen darf, vielleicht nur dann, wenn der Atem eines so teuren Abwesenden uns noch streift.

Ich habe viel verloren, Unersetzliches, einen liebenden und geliebten Freund, einen Versteher und Erahner, wie es wenige gibt. Die Worte sind arm und leer. Sollte es möglich sein, Busoni, daß wir uns einst im unendlichen Raum als Sterne wieder grüßen?


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