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X. Der süße Sänger

Wenn Leutnant Tibbetts eine große erzieherische Idee hatte, legte er diese gewöhnlich schriftlich nieder. Das Stationswohnhaus sah wenig von ihm und hörte gar nichts von ihm, denn Bones war sehr schweigsam und in sich gekehrt, um nicht zu sagen, reizbar. So war er es damals, als er seinen Plan ausarbeitete, die Wiegenlieder seiner Jugend in die Bomongosprache zu übersetzen. Denn Bones war ein rastloser Pädagoge, und wenn er nicht gerade selber Wissen sammelte, war er niemals so glücklich, als wenn er andere der Früchte seines Studiums teilhaftig werden ließ.

Seine Wiegenlieder bedeuteten keinen zu großen Erfolg:

»Mirr-miri hat 'ne kleine Geiß.
Mit Haar so weiß
Ging Miri-miri zum Fluß;
Die Geiß ging auch.
Sie ging zu allen Orten
hinter Miri-miri.«

lautete die buchstäbliche Übersetzung von »Marie hat ein kleines Lamm«, und Bones machte heroische Anstrengungen, diese Legende den Isisi-, den Akasava- und den Ochorikindern beizubringen.

»Gebieter!« klagte einer der Isisi-Unterhäuptlinge, »Tibbetti kam hierher und rief die Kinder zu einem Palaver und brachte auf diese Weise Schande über uns Männer. Denn er ließ sie gewisse Dinge über eine weiße Ziege sagen, und, wie du weißt, Sandi, ist eine weiße Ziege ein schreckliches Tier, das Unglück bringt. Aus diesem Grunde schlachten wir sie sofort, wenn sie geboren sind. Und seitdem unsere Kinder diesen Zauberspruch gelernt haben, haben wir Mißernten, und die Kautschukbäume sind ausgetrocknet. Auch ist eins der kleinen Kinder am Husten gestorben, und ein anderes ist in den Fluß gefallen.«

Ebensowenig war Bones erfolgreich in seinen Bemühungen, die unreifen Gemüter der kleinen Akasavajungen zu einer Würdigung von »Tom, Tom, des Pfeifers Sohn« zu erziehen.

Daraufhin gab es eine Klage, er lehre den Akasavakindern das Schweinestehlen.

»Ich glaube, Sie täten besser, Ihre Erziehung in den Händen der Missionare zu lassen, Bones«, sagte Sanders. »Der Übelstand bei diesen Leuten ist, daß sie die Dinge zu wörtlich auffassen.«

Die Übersetzungen in die Bomongosprache wurden daher in kleine Stücke zerrissen, und Bones suchte nach einer neuen Eingebung.

»Der Mann ist nicht tot zu kriegen!« sagte Hamilton. »Donnerwetter, wenn ich seine Energie hätte, würde ich eine Dampfmaschine treiben. Er hat mir den ganzen Morgen Witze aus dem ›Putzigen Zeug‹ vorgelesen, das, soviel ich weiß, in Amerika erscheint. Und Bones saugt sich Ideen aus diesen elenden amerikanischen Zeitschriften ... gestern morgen nannte er mich ›sauberes Bündel‹ ... Ich lasse mir das noch gefallen, aber wenn er mich wieder ›Zicke‹ nennt, dann werde ich mich nach einem humanen Schlächter umsehen.«

Jene Artikel in den volkstümlichen Zeitschriften, die zu kurz sind, um wahr zu sein, üben eine unheimliche Anziehungskraft auf gewisse Leser aus. Bones behielt sich unabänderlich die Spalte mit der Überschrift: »Dinge, die man gewöhnlich nicht weiß«, bis zuletzt vor. Es war ihm Portwein und Zigarre nach dem Essen. Er hockte am Tisch, auf dem seine Himmels-Licht-Studierlampe manchmal brannte und manchmal rauchte, und las:

Der Betrag der nationalen Schuld in Pennies aneinandergereiht, würde dreimal um die ganze Erde reichen.

Oder: In Yorkshire gibt es mehr Morgen Land als Wörter in der Bibel.

Oder: 500 000 Pfund Sterling werden im Jahr von englischen Dramatikern verdient.

Oder: Die Tinte wurde erfunden von ... usw.

Vielleicht war es eine ihm eigene Eingebung, oder vielleicht hatte der Schriftleiter der Spalte »Dinge, die man gewöhnlich nicht weiß,« ein Übereinkommen mit dem Schriftleiter der »Merkwürdigen Tatsachen, die selten als wirklich angesehen werden,« getroffen; oder vielleicht steckten beide unter einer Decke mit dem Gentleman, der die Spalte in einem anderen Blatte: »Nachrichten in einer Nußschale« redigierte, aber sicher stieß Bones stets auf einen anregenden Artikel über Autorenhonorare.

An einem Sonntagnachmittag, als Sanders und die beiden Soldaten auf der Veranda faulenzten und um das unvermeidliche Gewitter baten, das den ganzen Tag über gedroht hatte, raffte sich Bones in seinem Stuhle auf.

»Ham, oller Schwächling, ich werde ein Stück schreiben.«

Bones pflegte sich gewöhnlich solche Augenblicke auszusuchen, um seine entsetzlichsten Ankündigungen zu machen. Die Hitze und die Windstille des schwülsten Tages setzten sein Denkvermögen niemals bis zum Kohlkopfniveau herab, noch saugten sie an seinem Lebenssaft.

Hamilton wandte sein feuchtes Antlitz und sein flehendes Auge in der Richtung nach Bones.

»Warten Sie, bis es kühler wird, Bones!« bettelte er. »Seien Sie ein netter Kerl und halten Sie's Maul, bis der Regen da ist ... Ich glaube, ich habe es eben donnern hören.«

»Weit ab? Entfernten Donner, lieber, oller Dramatiker?«

Hamilton stöhnte.

»Warum nicht ein Stück über diese Gebiete?« fragte Bones. »Das hier ist die Fabel: Ein junger und gut aussehender, aber vollkommen netter, oller Leutnant – der Held, Ham, wird fürchterlich von seinem unartigen, ollen Hauptmann gehaßt, Ham. Wenn die Dinge verkehrt gehen, ist es immer der nette, olle Leutnant, der die Leute aus dem Schlamassel zieht, und immer der olle, böse Kaptein, der den Ruhm dafür einheimst. Folgen Sie mir, Hamilton?«

Hamilton schloß die Augen und ächzte.

»Dann kommt eine hübsche, olle Dame aus die Station, Ham. Schöne Augen, schönes Haar, schöne Gestalt, und natürlich verliebt sie sich hoffnungslos in den netten, ollen Untergebenen. Hören Sie, Ham?«

Hamiltons Augen blieben geschlossen.

»Ob Sie hören, lieber, oller Herr?«

Hamilton ächzte von neuem.

»Aber dieser nette, olle Untergebene ist riesig ehrenhaft. Er weiß, daß ... Oh, ich unterließ Ihnen zu sagen, Ham ..., daß der Vater dieser schönen, ollen Dame den netten, ollen Offizier nicht liebt, und daß sie in Wirklichkeit gar nicht seine Tochter ist. Was ich meine, ist ein Schuft namens Hauptmann Finster. Nun, wie stellen Sie sich vor, Ham, oller Herr, auf welche Weise dieser nette, junge Untergebene das Mädel rettet?«

»Welches Mädel?« fragte Hamilton schläfrig.

»Na, das Mädel, von dem ich spreche. Ein Geist ( ghost) warnt sie!«

»Und was tut sie der Ziege ( goat)?« murmelte sein Vorgesetzter.

Bones gab einen Laut von sich, der seinen Ärger ausdrückte.

» Geist, G-e-i-st! Er ist physisch ..., der nette, olle Untergebene.«

Hamilton öffnete die Augen.

»Hat Physik?«

»Tut-tut, Ham! Physisch! Er konnte Geister sehen und solche Sachen wie sie beschwören und so, lieber, oller Offizier!« Bones schnappte mit seinen Fingern, um die Sache zu illustrieren. »Geist, Geist, Geist! Und hervor kommen die Geister. – Das Stück wird ein Vermögen machen, Ham. Einen physischen Geist hat es bis dato noch nicht gegeben ...!«

»Psychischen, Sie armer Frosch!« schnappte Hamilton bissig. »Und lassen Sie mich gefälligst schlafen, ja?«

Ein heller Blitz zuckte hinter dem Stationsgehölz auf, ein Rollen, das sich zu einem betäubenden kopfspaltenden Krach steigerte, und Hamilton öffnete seine Augen.

»Da weht er!« sagte er munter. »Oh, riech den lieblichen Wind!«

Der Staub auf dem Exerzierplatz wirbelte in kleinen Spiralen, das Brüllen des entfernten Regens drang zu ihnen herüber, ehe die ersten Tropfen fielen.

Sanders wachte von seinem Nicker auf; langte nach seiner Zigarrentasche und zündete sich eine schwarze Nikotinrübe an; er hatte ein Lächeln in seinen müden Augen.

»Dieser häßliche, olle Vater, Ham, will die Tochter dem andern Kerl geben, und natürlich, der hübsche, olle Leutnant weiß das, und er will natürlich nichts mit ihr zu tun haben ...«

»Kommen Sie herein, Sie geschwätziger Deuwel!« sagte Hamilton und stand lässig auf, als der Regen herunterkam. »Und wenn Sie mich in Ihr Stück bringen, dann werde ich Ihnen Ihren Satansschädel zertrümmern.«

Bei Bones war Denken und Handeln eins. Ehe das Gewitter vorüber war, hatte er seine ungeheuere Idee zu Papier gebracht.

 

1. Szene.

Eine bekannte Station.

Leutnant Harold Darcey tritt ein.

Leutn, H. D. Ah, niemand hier. Niemand hier. der hipsche olle Platz ist verlassen. Ietzt 'n Wisky und Soda (schenkt einen Wisky und Soda ein). Ah! Ich darf keine Zeit verlieren. Mein Stuhdium mein Stuhdijum mein Studijum muß zuerst dran kommen.

Dorman Mackalyster, eine junge und scheene Dame, tritt ein.

D. M. ... Oh, ich wußte nicht, daß Sie da sind, da sind, Lt. Darcey. Oh, wie ich Sie liebe!

Leutn. H. D. Das kann niemals sein, liebe, olle Dorman! Unsere Wege liegen weit aus'nander. Sie sind mit einem anneren annren verlobt. Leben Sie wool! Ich bin Physisch. Ich weiß, es kann niemals sein.

D. M. Oh, verlahse mich nicht, Harold! Da ist etwas, was Sie wiesen mißten, wüssen mißten. Mein Vahter ist nicht mein Fahter, nicht mein Fader, sondern ein Findling, der mich adoptirt hat, als er noch ein Kind war.

Hauptmann Finster tritt ein.

Hauptm. F. He, was tust du hier allein mit diesem Mann, mit diesem Mann ahleihn? Zum Deiwel mit Ihnen, Harold! Ich will Ihr Leben ruhinieren rujinieren.

 

Um Mitternacht herum, als Hamilton zu Bett ging, brachte Bones den ersten Akt.

»Lesen sie's, oller Ham!« sagte Bones etwas nervös. »Sagen Sie mir nur, was Sie darüber denken! Lassen Sie mich offen Ihre Meinung hören, Ham! Was mich anbelangt, halte ich es für das beste Stück, das ich jemals geschrieben habe.«

»Wie viele haben Sie denn geschrieben?« fragte sein erstaunter Vorgesetzter.

»Es ist das erste, lieber, oller Kritikaster«, antwortete Bones schamlos.

Hamilton drehte das mit Tintenklecksen bedeckte Manuskript um.

»Ich werde es im Bett lesen«, sagte der lügenhafte Mann.

Am Morgen hatte er Zeit, den ersten Akt zu lesen.

»Es ist ein ganz faules Stück«, lautete seine Kritik beim Frühstück. »An einigen Stellen ist die Orthographie ganz normal, aber sonst hat es keine befriedigenden Züge.«

Bones lächelte höhnisch.

»Aha! Sie haben sich wiedererkannt, lieber, oller Hauptmann Finster! Natürlich, oller Lazarus, liebten Sie das nicht. Aber wenn Sie den zweiten Akt sehen ...«

»Es wird keinen zweiten Akt geben«, sagte Hamilton bestimmt.

»Sie kennen den ollen Bones nicht«, sagte Bones, der den ollen Bones kannte.

Das Veto kam von einer ganz unerwarteten Richtung. Sanders widersprach mild und sanft der weiteren Entwicklung der Fabel.

»Wenn Sie darüber schreiben, wie einer Gesellschaft amerikanischer Gelehrter die Zulassung zum Schutzgebiet verweigert wurde, werde ich an die Luft befördert werden. Das mag hochdramatisch sein, aber es ist eine schlechte Geschichte.«

Bones begann den zweiten Akt umzuarbeiten, und ein junger Dramatiker, der damit beginnt, zweite Akte neu zu schreiben, schreibt gewöhnlich überhaupt nicht mehr. And was die Angelegenheit mit der amerikanischen Expedition anbelangt ...

Alle britischen Beamten sind geneigt, ein wenig hochnäsig gegen den Ausländer und ungefällig gegen ihre eigenen Landsleute zu sein.

Herr Bezirksamtmann Sanders war bei Outsidern nicht beliebt, weil er Einmischung jeder Art haßte und allen Fremden gegenüber ein strenges Gesicht zeigte. Quer über die Gebiete hätte in einer Meile langen Buchstaben geschrieben stehen müssen: »Kein Zutritt, außer in Geschäften!« Er hatte mehr Forschungsgesellschaften, mehr Prospektoren und mehr Händler zurückgeschickt als zehn andere Bezirksamtleute in Afrika zusammen. In Missionarskreisen wurden Predigten gegen ihn gehalten und in beleidigendster Weise für ihn gebetet. Man hatte ihn angezeigt, hatte in den Zeitungen über ihn geschrieben, und zwar sehr unangenehme Leitartikel. Aber seine Politik der Richteinmischung fand die geheime Billigung seiner Vorgesetzten, obwohl er sich gelegentlich selbst im Streit mit diesen Mächten befand.

Das zeigte sich im Falle der Creß-Rainer-Expedition, die von den Bereinigten Staaten mit dem Segen des britischen Botschafters aufbrach. Es waren Artenjäger (Sammler); und zweifellos war das Gebiet reich an Säugetieren und unbestimmten Wanzenarten. Aber Sanders hatte die Tür zugeschlagen und mit Recht. Es war zur Zeit des großen Krieges, der die großen Völker vernichtete und sogar nach dem Süden, bis an die Tür des Stationshauses, kroch. Es gab einen großen Lärm darüber, aber schließlich siegte Sanders, und die Expedition ging nach Angola hinunter.

Dennoch hatte Sanders die Amerikaner gern, und trotz all seiner sogenannten Abneigung gegen »das heilige Werk« liebte er eine Missionarin, die nicht nur Amerikanerin war, sondern von deutscher Herkunft obendrein. Er hätte sein halbes Gehalt gegeben, wenn er diese schlichte Frau in schon mittleren Jahren hätte unter seinen Augen behalten können. Aber das sollte nicht sein.

Als Mrs. Kleine aus Cincinnati das Isisivolk verließ, gab es laute Klagen, denn sie war als Gottes-Mammi so beliebt, daß ein ganzer Stamm sie die ersten dreißig Meilen auf ihrer Reise begleitete. Sie war eine praktische hartköpfige Christin mit allen besseren Eigenschaften ihrer Vorfahren. Sie verließ die Isisis, weil ihr dort die Arbeit zu leicht war, und sie ging in das fürchterliche Ojubiland hinauf und zog es vor, an einem Orte zu leben und zu sterben, wohin weiße Männer nur selten kamen. And dort erlangte sie eine fast noch größere Verehrung ihrer Herde als im Isisilande. Sie war eine große Hymnensängerin, hatte einen wunderbaren Kontraalt und war bei den drei großen Stämmen berühmt. Als ihre Gesundheit zusammenbrach und sie sich entschloß, nach den Vereinigten Staaten zurückzukehren, hielt das Ojubivolk einen Rat; und eines Morgens, als sie schlief, ging ihr Lieblings-Laien-Prediger mit von Tränen überströmtem Gesicht in ihre Hütte und speerte sie – so schnell und geschickt, daß nur ihre Augenlider ein wenig zuckten.

Sanders war achtzig Meilen entfernt, als er die Nachricht durch den Lokoli erfuhr; er machte einen Gewaltmarsch durch Urwald und Sumpf und kam beim ersten Morgenrot, als die wundervollen kleinen Blumen, die die Mammi vor ihrer Hütte gepflanzt hatte, in einer einzigen Pracht erglühten, in dem Ojubidorfe an.

Er setzte sich, ein müder, staubig aussehender Mann, und hielt das Palaver.

»Gebieter!« sagte der Mörder, »die Mammi galt uns allen als sehr schön, und darum töteten wir sie, damit ihr heiliger Leichnam immer bei uns bleiben solle.«

Das war nicht nur die Ansicht des Mörders, sondern die Ansicht des ganzen Volkes, bis zum Häuptling hinauf, der im Dorf und im angrenzenden Bezirk herrschte.

Sanders war nicht erschüttert; er war nicht zornig; er war ein wenig traurig bei dem Gedanken, daß das Leben einer so Guten so plötzlich enden mußte. Er hing den Mörder kurzerhand, und der Mann ging, mit einer Trauerhymne auf den Lippen und gelobt von seinen schwarzen Mitmenschen, seinem Schicksal entgegen.

Sanders schickte den Dorfhäuptling nach der Strafniederlassung und ernannte dessen Nachfolger. Andere Palaver mußten abgehalten, das Eigentum Frau Kleines gepackt und in ihre Heimatstadt gesandt werden; und am letzten Tage seines dortigen Aufenthaltes rief Sanders den Häuptling beiseite und gab ihm einige Ratschläge.

»Was deine Leute begangen haben, Häuptling, ist geradezu fürchterlich. Und es ist um so schrecklicher, weil sie keine Sünde darin sehen. Und obwohl alle Welt weiß, daß die Ojubis ein dummes Volk sind, sind sie noch törichter, als die Menschen glauben.«

»Gebieter, darin, daß man Mammi zu den Geistern sandte, lag doch keine Torheit«, sagte der neue Häuptling erstaunlicherweise. »Und das wissen wir wohl, denn in der letzten Nacht haben viele unserer jungen Männer sie ihre wunderbaren Lieder im Urwald singen hören. Und sie sagte uns, daß die Menschen nicht sterben; und wenn die Menschen nicht sterben, wie können sie dann getötet werden?«

Der Bezirksamtmann hatte weder Zeit noch Lust, abstrakte Fragen der Theologie zu erörtern. Die Geschichte von der singenden Stimme legte er als unvermeidliche Erfindung beiseite und ging zu den Isisis, um diesem Volke die Neuigkeit mitzuteilen und jeden Plan von Maßregelungen bei ihnen im Keime zu ersticken. Und das war sehr gut, denn die Neuigkeit hatte die Isisis schon erreicht, und eine kleine, aber erlesene Strafexpedition bildete sich, um mit den Ojubis abzurechnen, obwohl dreihundert Meilen Flußlauf und Urwald zwischen den beiden Stämmen lagen.

Auch einige unangenehme Sachen gab es mit dem abgesetzten Ojubihäuptling zu erledigen; eine davon war, ihn zur Schlangeninsel mitzunehmen, aus der die wahnsinnigen Weiber hausten.

Wo der Große Fluß mit den wirbelnden Wassern des Kasava zusammenfließt, befindet sich das kleine, birnenförmige Eiland, das »der Schlangenplatz« genannt wird. Und mit gutem Recht, denn dort leben gewisse große Schlangen ein beschauliches Dasein; es gibt dort viele Bäume, in denen die fliegenden Hunde, die großen Vampir-Fledermäuse, tagsüber in großen Trauben hängen und schlafen – und Fledermäuse sind ein guter Bissen für die langen glitzernden Wesen, die so langsam die Bäume hinaufgleiten, daß es aussieht, als bewegten sie sich nicht.

Viele Jahre lang zählte die Insel einen einzigen Bewohner. Ein Weib lebte dort, das Schlangen und Fledermäuse und die merkwürdigen Wesen liebte, die nur sie verstand. Sie hieß Lobili und war eine Fremde und in dem Jahre ins Land gekommen, als Sanders sich auf Urlaub befand.

Sie war reich; nicht an Vieh und Salz oder Messingstangen, an denen das Volk dieses Landes den Reichtum bemißt, sondern nach allem, was man darüber hörte, an Geld. Es lag kein Grund vor für Sanders, sie zu besuchen, aber viele Gründe, warum er sie nicht besuchte. Die Insel lag in einer Gegend, wo starke Strömungen und Wirbel ein Ankern unmöglich machten. Er wußte, daß sie sich dort befand, nahm an, sie sei ein Weib von der Küste und aus irgendeinem Grunde in das Land ihrer Vorfahren zurückgekommen; er begnügte sich mit den Berichten, die er von ihr benachbarten Häuptlingen und von seinen Kundschaftern, die beinahe alles wußten, über sie erhielt.

Unter anderem hatte er erfahren, daß sie rauchte, und daß ihr Haus eine hübsche Hütte sei, die ihr Isisiarbeiter errichteten, die sie bestochen hatte, sich an diesen schrecklichen Platz zu wagen. Ferner, daß sie ihre Steuern an den Häuptling bezahlte, und daß gewisse Schlangen starben, sobald sie ihre Hand erhob. Er machte den gewöhnlichen Abzug von diesem Wunder, das man allen zuschrieb, die man für Meister der Zauberkraft hielt.

An dem Tage, als er sie sah, traf er mit ihr zusammen. Als die »Zaire« im Strom herumschwenkte, erblickte er von ihrem Deck aus eine grauhaarige Gestalt am Rande des Wassers, die angelte. Sie hatte eine pfeife im Munde und erhob die Hand zum Gruß, als die »Zaire« an ihr vorüberfuhr.

Sanders war auf seiner Fahrt zur Isisistadt, die der Insel gegenüber liegt, um dort nach einigen Unregelmäßigkeiten zu sehen; denn Obisi, der Sohn eines Unterhäuptlings, war mit einer großen Beule auf seiner Stirn halbtot aus dem Wasser gezogen worden. Der Mann war ein berüchtigter Tunichtgut, der nur jagte, wenn das Wild so nahe heran kam, daß er seine Pfeile vom Bett aus abschießen konnte, auf dem er zu liegen liebte, und nur fischte, wenn er in seinem Kanu hocken und seinem Hauptweib befehlen konnte, wie sie die Fische sperren sollte. Energie bewies er nur bei einem Geschäft: Er war ein gewissenloser Dieb und hatte bereits ein Jahr in der Strafniederlassung zugebracht. Obisi befand sich in einer schlimmen Lage, denn auf seiner Stirn zeigte sich eine große Schwellung und eine winzige Wunde, die wie von einer Nadel gestochen, aussah.

»Gebieter, ich ging zu der Insel, auf der das verrückte Frauenzimmer wohnt,« jammerte er, »und sie kam zu mir und sprach böse Worte, und als ich antwortete, streckte sie ihre Hand aus, und ich fühlte einen fürchterlichen Schmerz in meinem Kopf.«

»Um welche Stunde etwa gingst du auf die Insel?« fragte Sanders. Der Mann zögerte.

»Gebieter, es war im Dunkel der Nacht, denn ich schämte mich, daß einer meiner Freunde mich sehen sollte, wenn ich mit dem wahnsinnigen Weibe spräche.«

Sanders hatte es mit primitiven Völkern zu tun, war derb und ging stets unmittelbar auf sein Ziel los.

»Du bist hingegangen, um zu stehlen!« beschuldigte er den Mann, und Obisi verneinte die Anklage gewohnheitsgemäß.

Sanders untersuchte die Wunde und war überrascht. Natürlich ließ er Zaubergeschichten nicht gelten, aber das hier war ganz gewiß ein geheimnisvolles Vorkommnis, das Aufklärung erforderte. Er landete mit einiger Schwierigkeit auf der Insel, ging vorsichtig den ausgetretenen Pfad entlang, immer seinen Browning in der Hand – denn er haßte Schlangen –, und kam zuletzt zu der Hütte, wo das alte Weib saß – ein großes, breitschultriges Weib, das weder Isisi noch Akasava war.

Sie wartete geduldig, die Hände auf dem Schoß gefaltet.

»Lobili, ich sehe dich!« begrüßte er sie. »Man erzählt mir sonderbare Dinge von dir ...«

Er wiederholte Obisis Geschichte, sie hörte schweigend zu. Als er beendet hatte, sagte sie:

»Gebieter, dieser Mann ist schlimmer als ein Dieb. In der vergangenen Nacht kam er auf die Insel, und ich glaube, eine von den Schlangen, die von den Bäumen herunterhängen, hat ihn verletzt.«

Das war eine glaubwürdige Erklärung.

»Warum lebst du hier so ganz für dich allein, Lobili? Du bist doch ein Weib, und hier auf der Insel gibt es fürchterliche Geschöpfe.«

»Für mich sind sie nicht fürchterlich, Gebieter!« sagte sie und gab einen kleinen pfeifenden Laut von sich. Und dann sah Sanders zu seinem Schrecken einen flachen spatenförmigen Kopf schief um die Türecke, hörte ein wütendes Zischen und schnellte herum, den Browning vorgestreckt.

»Gebieter, sie kann dir nichts tun, ich habe das Gift aus ihren Zähnen entfernt«, sagte sie mit dem Schatten eines Lächelns in ihren braunen Augen.

Sie machte ein schnalzendes Geräusch mit ihren Lippen, und die Schlange verschwand.

»Ich fürchte mich vor keinem dieser Geschöpfe«, sagte sie. »Es gibt schlimmere hier ...« Sie zeigte auf das Isisiufer. »Denn an gewissen Plätzen im Walde gibt es große Schlangen, die einen Menschen zu Tode drücken und ihn mit einem Schlag ihrer großen Köpfe töten. Und dort wohnen auch Menschen, die das Böse aus Liebe zum Bösen tun.«

Sanders sah sie scharf an, denn dieses Gerücht war auch ihm zu Ohren gekommen. Er fragte sie nicht weiter danach, denn sie deutete auf etwas hin, worüber kein Eingeborener spricht.

Er ging zur »Zaire« und zum Dorf zurück und warf einige Fragen hin über gewisse Fremde in der Tiefe des Waldes.

Das Isisivolk beobachtete die »Zaire« in den nächsten Tagen besorgt. Sie lief ziellos den Fluß herauf und herunter, besuchte kleine Fischerdörfer und lief unbewohnte Inseln im Strom an und einsame Niederlassungen. Und überall hörte er dieselbe Geschichte. Menschen waren auf geheimnisvolle Weise verschwunden – Fischer waren in ihren Fahrzeugen ausgefahren und niemals zurückgekehrt; in einem Falle war ein Weib in den Wald gegangen, und das war das letzte, was man von ihr gehört hatte.

Sanders war sich dessen bewußt, daß ihn nicht nur die sichtbaren Dörfer beobachteten, sondern daß auch unsichtbare Augen aus dem Walddunkel der »Zaire« von Ort zu Ort folgten.

Als schließlich sein Schiff außer Sicht stromabwärts paddelte, gab es manche Herzen im Isisilande, die erlöst aufschlugen.

Sanders legte die »Zaire« an den kleinen Kai und gab Befehl, daß Dampf auf und das Fahrzeug fertig gehalten würde, um jede Minute aufbrechen zu können; und als er Hamilton sprach, erzählte er weder von dem verwundeten Obisi noch von dem Schlangenweib.

»Oben im Isisilande gibt's wieder Menschenfresserei, und ich habe doch erst vor sechs Monaten den D'firo-fusu gehängt«, sagte er in einem verzweifelten Tone.

Hamilton stieß einen Pfiff aus. »Die Schweine!« sagte er sanft.

Die Isisis, die N'Gombis und ein Teil der Akasavas sind Kannibalenvölker. Sie behandelten die Sache ganz offen. Mensch war Fleisch, und das war alles. Die Krieger fochten auch besser, wenn ein solches Mahl auf den Sieg folgte.

Langsam, aber sicher hatte das neue Gesetz diesen Unfug ausgerottet. Viele Männer waren an hohen Bäumen gehängt worden; viele arbeiteten in Ketten für das Gouvernement. Die Peitsche und der Strick hatten die Gewohnheiten des Volkes geändert, aber ab und zu erschien doch wieder eine Bande solcher, die dem alten Brauch ergeben waren, und hinter ihnen kam ein starkes geschäftsmäßiges Ende.

»Bones muß mit der ›Zaire‹ scheinbar zu einem Heiratspalaver fahren – in Ochoristadt wartet eines auf Erledigung. Er darf nur so wenig Leute wie möglich mit sich nehmen, um diese Galgenvögel nicht zu erschrecken. Wir werden mit dem ›Wiggle‹ und allen Leuten, dir wir entbehren können, folgen. Und – was ich noch sagen wollte – die Maschinengewehre werden Sie brauchen können. Ich denke, ich weiß, wo ich die Kerls zu finden habe.«

Bones zog los und nahm sein unbeendetes Theaterstück mit, und an stillen Plätzen, an denen sie anlegten, um Holz zu laden, wurden die Abenteuer des »physischen« Harold und des bösen Hauptmann Finster so geisterhaft entwickelt, daß es Zeiten gab, zu denen Bones bei dem Knacken eines brechenden Zweiges aufsprang.

Schiffahrt war eine Kunst, die sich Leutnant Tibbetts niemals vollständig angeeignet hatte. Der Fluß war heimtückisch und niemals das, was er an der Oberfläche schien. Sandbänke hatten die Gewohnheit, zu kommen und zu verschwinden, so daß dort, wo in der Nacht eine Durchfahrt, am Morgen eine Falle für das Fahrzeug war.

Die Hinfahrt war eine ziemlich einfache Ausgabe, denn der Fluß hatte eine Geschwindigkeit von fünf Seemeilen, und die »Zaire« machte deren zehn; das hieß, daß sie glänzend lief, wenn sie fünf Knoten gegen die schwarzen Wasser machte.

Aber diese Fahrt Bones' nahm ein schlimmeres Aussehen an, das ungewöhnlich war. Jede zwanzig Meilen längs des Flusses befand sich ein Holzstapelplatz, wo große Haufen Spaltholz und geschlagene Stämme auf die Verfügung Sanders' wartete. Die Männer, die diese schlugen, boten ihre Dienste an und wurden dafür von jeder anderen Steuerleistung befreit. Oberflächlich gerechnet, erstreckte sich ihre Arbeit auf eine Woche im ganzen Jahre, denn die Holzplätze wurden abgewechselt, und manchmal wurde das Brennholz nicht früher als ein Jahr, nachdem die Stangen abgeholzt waren, an Bord der »Zaire« gebracht.

Und am ersten Holzplatz, an dem Bones Halt machte und die Nacht zubringen wollte, gab es kein Holz. Das nächste Holzlager war zwanzig Meilen entfernt. Nacht war im Anrücken und die Schiffahrt hierherum im Finsteren kein leichtes Unterfangen. Bones sandte einen Haußa durch den dämmernden Forst und berief den Häuptling des kleinen Dorfes zu sich, der diese Arbeit liefern mußte. Dieser Mann war sehr zungenfertig.

»Gebieter, Sandi selbst nahm vor zwei Monden und noch einem unser Holz; und weil meine jungen Männer krank und schwach gewesen sind, haben wir keine Bäume schlagen können ...«

Bones schnitt seine Erklärung ab. Auf der »Zaire« befand sich ein kleines Buch, in dem eine sehr genaue Kontrolle über die besuchten Holzplätze geführt wurde, und dieser Holzplatz war als Nr. 57 angeführt, und die »Zaire« hatte hier nachweislich seit achtzehn Monaten nicht an den steilen Ufern des Waldes festgemacht.

»Du bist ein ungezogener, oller Geschichtenerzähler,« sagte Bones ärgerlich und dann auf Bomongo: »du wirst die doppelte Menge Holz, die ich nötig habe, vor meiner Rückkehr schlagen und aufspeichern, Kibili! Außerdem werde ich die Steuer von dir eintreiben ... so viele Schnuren Fisch und so viel Salz. Ablieferungstermin, wenn ich zurückkehre!«

Der Häuptling war ein wenig erschrocken, kreuzte seine Arme über seiner mageren Brust und klatschte an seine Seiten; eine Geste äußerster Hilflosigkeit.

»Gebieter, den Fisch sollst du haben und auch das Salz, aber Holz kann ich dir nicht verschaffen, weil meine jungen Männer krank sind, und, Gebieter, wir fürchten uns sehr wegen der mächtigen Geister, die hier herum wohnen, wie Deine Herrlichkeit weiß.«

»O Narr!« antwortete der junge Mann in übler Stimmung. »Was für Geister gibt es denn in der Welt?«

In diesem Augenblick schoß ihm die Erinnerung an seinen eigenen »physischen« Helden und einen auf dem Papier halb heraufbeschworenen Geist in seiner Kabine durch den Kopf.

»Es gibt viele Geister hier, Tibbetti«, sagte der Häuptling mit gedämpfter Stimme. »Und deswegen haben meine jungen Männer Angst, in diesen Teil des Waldes zu kommen. Denn hier hört man die Stimme der singenden Mammi.«

»Der singenden ...?«

Bones hatte die singende Mammi gekannt, und ein kalter Schauer kroch sein Rückgrat hinunter. Der kleine Häuptling sah die Wirkung und benutzte sie.

»Wir haben ihre schönen Gesänge oft gehört, wenn sie durch den finsteren Wald wandelt. Und manchmal fürchten wir um sie wegen der Schlächter ...«

Er hatte sich verraten; der junge Offizier sah, wie er sich in einem Übermaß von Furcht wand.

Nun war der Bones in seinen Mußestunden und Privatangelegenheiten gänzlich verschieden von dem Bones im Dienst. Seine blauen Augen verengerten sich, bis sie fast ganz geschlossen schienen. Er hatte den Wendepunkt erreicht, an dem er alles hinter sich ließ, was nicht tödlicher Ernst war.

»Sprich, Mann«, befahl er leise, »und erzähle mir von den Schlächtern, die im Walde leben und Menschen fressen!«

Nun wußte er, warum es hier kein Holz gab, um ihn bis zum nächsten Posten zu bringen: Furcht vor den Menschenschlächtern, die alle einsamen Arbeiter aushoben und auf die kleinen Gruppen der Holzschläger lauerten.

»O, ko! Ich habe zuviel gesagt«, stammelte der Häuptling mit graugeflecktem Gesicht. »Laß mich mit meinen Leuten sprechen!«

Bones nickte. Er ging zur »Zaire« zurück und schickte eine Taube an Sanders, dann rief er Ali Mahmet, den Korporal seiner sechs Soldaten.

»Zwei Mann bleiben auf dem Puk-a-Puk und stehen fertig bei den Vertäutrossen. Hoka, der Maschinist und sein Mann, halten Dampf auf. Du und deine vier Leute kommen, mit fünfzig Patronen jeder, an Land und gehen, wohin ich gehe!«

Dann ging Bones an Land, und der Häuptling erwartete ihn, um mit ihm zu sprechen.

»Das ist die Wahrheit, Tibbetti. Die Schlächter befinden sich einen halben Nachtmarsch im Busch. Es sind ihrer zwei Hände voll« – der Häuptling hielt seine beiden Hände hoch und spreizte die Finger. – »Nun meine ich, mit deinen feinen Soldaten wirst du sie schon fangen, denn es ist wahr, wir sind dazu zu furchtsam. Und früher einmal, als mein Vater noch lebte, nahmen sie meinen leibhaftigen Bruder mit sich ...«

Bones hörte mit großer Geduld der tragischen Erzählung zu.

»Du wirst mir vorangehen, Häuptling. Und wenn du selbst einer dieser Schlächter bist und mich und meine Soldaten in Gefahr führst, sollst du noch diese Nacht in der Hölle lustwandeln.«

Es gab einen ganz bestimmten Pfad durch den Wald, wie es schien. Bones entsann sich, daß er einmal auf der ersten Hälfte davon gewandelt war, als er einen gewissen weißen Schwächling verfolgte, der die Gesetze übertreten hatte. Er verbrachte den übrigen Teil des Tages, um seine Leute anzustellen, und erwartete sehnsüchtig Nachrichten von Sanders. Wenn er diese Gelegenheit verlor, war es möglich, daß ihm sein Wild ganz aus dem Garn ging.

Er wartete, bis die Nacht kam, eine kühle Sternennacht, und setzte seinen kleinen Zug in Bewegung. Der Häuptling voran, hinter ihm Bones. Eine Stunde lang marschierten sie schweigend dahin, und dann befahl der Mann Halt. Bones zog seinen Kompaß aus der Tasche und sah nach der erleuchteten Kompaßrose. Es ist beinahe unmöglich, während des Marsches eine genaue Kompaßpeilung zu erhalten, aber Bones sah genug, um festzustellen, daß sie von dem nördlichen Pfade abgewichen waren und in einem Halbkreis nach Osten gingen. Anstatt daß sie den Wald betreten hätten, marschierten sie auf einem fast parallelen Kurse zum Fluß. Als sie haltmachten, bestätigte sich das. Sie bewegten sich auf Isisistadt zu. Er steckte den Kompaß wieder in die Tasche, nahm seinen Browning heraus und hielt seinen Daumen an der Sicherung.

Eine Minute lang überlegte er sich, ob es nicht geratener sei, zu der »Zaire« zurückzukehren. Aber wenn der von ihnen gefaßte Plan in der Ausführung begriffen war, würde Sanders, der nur zehn Stunden hinter ihm war, um diese Zeit nahe an seinem eigenen Halteplatz sein. Wenn Sanders an einem weiter unterhalb liegenden Stapelplatz haltgemacht hätte, würde er gewiß einen Läufer durch den Wald schicken, um Nachrichten Zu erhalten.

Im Gehölz war es totenstill, und Bones dachte in einem kurzen, menschlich durchaus verständlichen Augenblick an Geister und schauerte.

»Vorwärts!« sagte er mit gedämpfter Stimme, und der kleine Zug setzte sich in Bewegung.

Wieder hielten sie nach Verlauf einer Stunde. Sie bewegten sich jetzt mehr nach dem Innern zu; dennoch waren sie noch im nahen Bereich des Flusses. Die »Zaire« hätte mit ihnen Schritt halten können, wenn er nur die Richtung der Verfolgung gewußt hätte. Einen Augenblick lang war der Argwohn gegen den Führer mehr rein gewohnheitsgemäß als begründet. Der Mann mochte vielleicht den sicheren Pfad zu dem Lager der Roten Männer einschlagen.

Weitere zwei Stunden brachten sie an eine Bodenerhebung.

»Gebieter, auf der anderen Seite von diesem befindet sich der Platz der Roten Männer«, flüsterte der Führer; dieser dampfte förmlich von Schweiß, der teilweise der Furcht zuzuschreiben war.

Bones rief Ali Mahmet zu sich.

»Laß die Leute die Bajonette aufpflanzen!« befahl er mit leiser Stimme. »Es darf nicht eher geschossen werden, als bis ich es befehle.«

Die Bajonette waren vorher, ehe sie von Bord gingen, in dem Rauche eines Öllampendochtes geschwärzt worden. Bones hörte das Klick-Klick, als sie die Bajonette in ihrem Sitz befestigten ... Als er sich darauf wieder zum Führer wenden wollte, war dieser verschwunden. Lautlos, wie der Wald um sie herum, war er aus dem Gesichtskreis geglitten.

Bones drückte die Sicherung seiner Waffe nieder und grinste lustlos in die Nacht hinein.

»Schulter an Schulter im Kreise, Ahmet Ali!« befahl er und fühlte seinen Weg zu dem nächsten Mann.

In diesem Augenblick vernahm er einen gurgelnden arabischen Fluch und den weichen Laut eines Bajonetts, das sein Ziel traf; und gleichzeitig packte ihn jemand an den Knöcheln, und er stürzte mit einem Krach zur Erde, daß ihm der Atem wegblieb. Zweimal hatte er auf den Körper gefeuert, der auf ihn fiel, und er fühlte das krampfhafte Zucken, das darauf folgte. Und dann traf ihn etwas an die Schläfen, daß er bewußtlos wurde.

Als er wieder zu Sinnen kam, konnte er das warme Naß des Blutes fühlen, das langsam von seinen Wangen rann. Jemand hielt ihn fest; seine Waffe war fort, und er hörte einen Mann zu seinen Füßen vor Schmerz schluchzen.

»Laßt uns sie zum Schlachtort bringen!« sagte eine Stimme, und dann rief ein anderer Kilibi beim Namen, nur gebrauchten sie das R'Gombiwort »N'gosobo« dafür.

»Er ist tot!« sagte eine dritte Stimme. »Tibbetti fällte ihn mit dem kleinen Gewehr, das ›Ha-Ha‹ macht.«

Der erste Sprecher grunzte etwas, und die Gesellschaft bewegte sich vorwärts. Bones hörte auf die Fußtritte und unterschied jeden einzelnen.

Seine Leute befanden sich noch am Leben; er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und grinste wiederum, dankbar für die kleine Erleichterung, die ihm dieses Bewußtsein gab. Seine Hände waren nach Eingeborenenart gefesselt; das hieß, sie waren so zusammengeschnürt, daß seine Hände zu schwellen anfingen. Wenn er die Kerls nur hätte bewegen können, seine Hände frei zu lassen; er hatte noch einen kleinen Browning in der Innentasche seines Hemdes.

»Oh, Mann!« rief er aus. »Warum fesselt ihr mich? Ihr habt doch mein kleines Gewehr, das ›Ha-Ha‹ sagt, und ihr seid euer viele.«

»Ein gefesselter Mann schneidet sich nicht in die Hände«, war die unheilvolle Antwort – das alte Kannibalensprichwort.

Er versuchte seine Hemdentasche zu erreichen, aber das zähe Tau, das ihn knebelte, war zwischen seinen Schenkeln durchgezogen und von hinten an seinen Ellenbogen befestigt.

Als sie über eine Erhöhung mußten, gewann Bones einen vorübergehenden Ausblick auf den Fluß und sah, weit in der Ferne, das Aufblitzen eines Feuers.

»Tibbetti, in dieser Nacht stirbst du!« sagte eine Stimme. »Es gab einen kleinen Hund, der einem Leoparden in den Wald folgte, aber die ganze Zeit über folgte der Leopard ihm«.

Schweigen trat darauf ein, und alsdann befahl der unbekannte Anführer unerwartet Halt.

»Ich höre ...«, sagte er, und sie standen und horchten ... Eine scharfe Stahlspitze berührte Bones' Kehle.

»Es ist nichts ...«

Fast im gleichen Augenblick, als er sprach, drang eine Stimme aus dem Walde – eine Weiberstimme, die sang:

»Während die Hirten zur Nachtzeit ihre Herden hüteten
Und alle auf der Erde saßen,
Kam der Engel des Herrn herunter
Und Glorienschein war weit und breit.«

Rein wie Glockenklang, dennoch weich und unaussprechlich süß schallte diese Stimme. Jetzt klang es nahe.

Bones überlief es kalt. Er hatte niemals Mama Kleines Stimme gehört, aber diese hier sprach ein amerikanisches Englisch.

»Oh, Ko! Was ist das?« fragte eine heisere Stimme.

»Es ist der Geist von Mammi-Jesu!« kam eine Antwort.

Man wartete, aber da war kein anderer Laut zu hören als der Schlag der Herzen, die wild gegen die Rippen schlugen.

»Wir sind da!« bemerkte jemand. »Laßt uns ein Feuer anzünden!«

Bones hörte den Laut, als ob nasse Blätter beiseite gesetzt würden, und ein düster glühender Kreis erschien aus dem Erdboden. Ein Arm voll trockenen Strauchwerkes wurde auf das verborgen gewesene Feuer geworfen, rauchte dort aromatisch einen Augenblick lang und brach dann in lodernde Flammen aus.

Und nun sah Bones nicht zehn, nein, vierzig der »Roten Männer«, hauptsächlich N'Gombis. Einer, der eine gewisse Autorität zu haben schien, hatte eine große Beule an der Stirn, und die anderen nannten ihn Obisi.

Bones sah sich nach den Überlebenden seiner Leute um und fand sie mehr oder weniger unversehrt; er wunderte sich, warum man sie am Leben gelassen hatte. Obisi gab ihm die Antwort, als ob er seinen fragenden Blick erraten hätte.

»Die lebendige Ziege läuft, aber die tote Ziege muß getragen werden«, sagte er.

»Sie verkaufen uns auf den Hufen!« sagte Bones auf Englisch und lachte nervös über seinen schauerlichen Witz.

»Dich, Tibbetti, werden wir töten, weil du weiß bist und dich niemand kaufen mag«, bemerkte Obisi.

Er nahm aus der Hand eines seiner Leute eine sichelartig geformte Waffe, breit im Blatt und mit rohen Gravierungen versehen.

»Das ...«, sagte er und fiel dann zu Boden.

Bones hörte das »Ping« und den Klatsch des Dinges, das den anderen traf, aber er war auf das Zusammenbrechen des Scharfrichters nicht vorbereitet. Ein Mann schrie vor Furcht gellend auf, lief zu dem der Länge lang hingestreckten Obisi und drehte ihn auf den Rücken.

»Das ist Zauber!« gellte er, und seine Hand suchte nach dem Sichelmesser, da:

»Ping!«

Der Mann fiel auf die Knie, griff mit seiner Hand an die Seite und verzerrte sein Gesicht zur Grimasse.

Von irgendwoher längs des Waldweges ertönte der Knall von Schüssen, und in diesem Augenblick kamen drei nackte Gestalten in den Schein des Feuers gestürzt und schrieen etwas über ihre Schulter zurück. Bones hörte die Worte und sank fast in Ohnmacht.

»Sprich gut für mich, Tibbetti!« stammelte atemlos ein Mann und hackte das Tau, das Tibbetti fesselte, entzwei – und er hatte Glück, denn die Kugel, die an ihm vorbeipfiff, fehlte ihn, als er sich bückte, um die letzten Fasern der Fesseln zu durchschneiden.

»All right, Herr!« gellte Bones, als Sanders' Browning erhoben war.

»Dem gütigen Gott sei Dank ..!«, begann Sanders.

Dann kam eine Unterbrechung, die sie erschauern ließ. Aus der Nacht des Waldes klang die Stimme des süßen Sängers:

»Nun danket alle Gott ...«

Sanders starrte in die nächtlichen Schatten.

»Um des gütigen Himmels willen!« sagte er atemlos, und dann kam das überwältigendste Ereignis dieser Nacht.

Ganz langsam, gemessenen Schrittes erschien das grauhaarige Schlangenweib.

»Oh, Lobili ...«, begann Sanders. Sie lachte, ein leises glucksendes Lachen der Freude.

»Ich heiße nicht Lobili«, sagte sie, und Sanders hätte sich am liebsten hingelegt, denn diese hübsche, alte Negerin sprach Englisch. »Ich bin Dr. Selina Grant von der Gregorystadt-Universität, Kurator und Lektor der Biologie. Wir waren gezwungen, jemand in dieses Land hineinzuschmuggeln, Mr. Sanders. Meine Farbe half mir viel dabei, schätze ich, aber es erforderte ein gutes Teil Selbstüberwindung, ehe sich eine Frau meines Alters entschloß, die spärliche Kleidung einer Eingeborenen anzunehmen.«

»Du meine Güte, Sie sind eine Farbige?« sagte Sanders mit hohler Stimme und zwickte sich in das Ohrläppchen, um sich zu überzeugen, daß er nicht träume.

Sie nickte lachend.

»Sicher. So, wie mich der Herrgott geschaffen hat. Mein Vater war ein Doktor in Charlestown und meine Mutter eine reine Bantunegerin. Bomongo lernte ich von einer Missionarin, die zu Hause auf Urlaub war. Ich meine, das geschah alles ganz natürlich. Ein bißchen einsam war es ja – ich bin seit drei Jahren hier –, und wenn ich nicht auf meinen Wanderungen gesungen hätte, hätte ich vergessen, wie die amerikanische Sprache klingt. Und Mr. Sanders, ich habe die feinste Sammlung wissenschaftlich noch nicht bestimmter Schlangen, die man sich wünschen kann – Sie müssen auf meine Insel kommen und meinen Schlangenkäfig ansehen.«

Sanders nahm seinen Tropenhelm ab und streckte ihr seine Hand hin.

»Lassen Sie mich Ihre Hand drücken, Doktor!« bat er, und Dr. Selina Grant steckte die Luftpistole in ihren Gürtel und umfaßte Sanders' Hand mit ihrer eigenen großen.

»Entschuldigen Sie, liebe, olle Madame!« – Bones fand die Sprache wieder, – »waren Sie das, die da sang?«

»Gewiß!« antwortete Selina.

»Und Ihre nette, olle Luftpistole ...?«

»Luftpistole war meine einzige Waffe, aber sie war mächtig nützlich.«

»Entschuldigen Sie, Madame!« sagte Bones aufgeregt.

»Ich wette, keiner von euch Jungens hat das Zeug bei sich, um Zigaretten zu drehen?« fragte sie. »Dieses Pfeiferauchen ist zu primitiv für Selina.«

Bones fand eine Zigarette und reichte sie ihr. Als er ihr Feuer gab, bemerkte er: »Sie sind die erste eingeborene Dame, für die ich so was tue.«

Es war wirklich das ungewöhnlichste Erlebnis seines Lebens.

 

Ende.

 

*

Im Frühjahr 1927 erscheint ein neues Werk von
Edgar Wallace

Bones vom Strom

Umfang, Ausstattung und Preis wie dieses Buch

Wie der Titel schon verrät, steht in diesem Werk Leutnant Bones im Vordergrund. Selbstverständlich werden Sie auch wieder Herrn Bezirksamtmann Sanders und Hauptmann Hamilton begrüßen können. Eine weitere Empfehlung brauchen wir diesem Buch wohl nicht vorauszuschicken.


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