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22

Niemals hat man erfahren, wie die Szene, die die Nachricht von der zweiten Verheiratung Josua Derricks zwischen Vater und Sohn ausgelöst hatte, verlaufen war. Der Zank war sehr heftig, die Kluft unüberbrückbar gewesen. Geld spielte die Hauptrolle, denn Walter Derrick war ein Verschwender gewesen. Nach dem Streit mit dem alten Grundstücksspekulanten verließ er das väterliche Haus, um es zu Lebzeiten des Vaters niemals wieder zu betreten. Er war nach Südafrika gegangen und hatte es ein Jahr lang kreuz und quer bis zum Tanganjika durchwandert. Achtzehn Monate lang hatte er sich als Goldsucher betätigt, Winter und Sommer nur dünnes Zelttuch über seinem Haupt. Kaum daß er so viel verdiente, um die »Boys«, die schwarzen Arbeiter, zu bezahlen und Pferde anzukaufen, die, sobald sie ins Land kamen, wie die Fliegen wegstarben. Eines Tages hatte er den Mann kennengelernt, der unter dem Namen »Joe Cleave« ein ähnliches Leben wie er führte. Anfangs war Cleave schweigsam und wollte nicht aus sich herausgehen. Der junge Derrick konnte das Gefühl nicht loswerden, daß sein Arbeitsgenosse ein Flüchtling der Justiz sei. Das war aber hier in der Wildnis kein Grund, auf die Gesellschaft Cleaves zu verzichten, denn derartige Leute waren in Nord-Rhodesien nicht allzu selten.

Endlich gab Cleave zu, daß er von Kapstadt aus gesucht werde. Es mochte sich um den Silberdiebstahl handeln, wegen dessen man erst Minns beschuldigt hatte. Dies schien überhaupt das System Cleaves zu sein: Ein Verbrechen so auszuführen, daß der Verdacht unbedingt auf einen Unschuldigen fallen mußte, Mörder, Dieb, Straßenräuber, der er war, setzte er seinen Stolz in die Behauptung, daß er der treffsicherste Pistolenschütze ganz Südafrikas sei.

Er verstand etwas von der Goldgräberei, unterhielt sich wie ein Erfahrener von den Goldminen Johannesburgs, ja, erwähnte sogar einmal gesprächsweise die Platingruben Kaukasiens. Er sprach, wie Derrick bald herausfand, verschiedene Sprachen. Daß er Cleave im Verdacht hatte, ein ganz großer Tunichtgut zu sein, ließ sich Walter im täglichen Verkehr mit dem Mann nicht anmerken.

Eines Tages stießen die beiden auf ein Goldbett, das ihnen große Reichtümer versprach. Drei Monate später mußten sie ihre Hoffnungen auf ein Mindestmaß zurückschrauben. Das erst in Mengen auftretende Waschgold verringerte sich mehr und mehr, und sie hatten sich bereits mit dem Gedanken vertraut gemacht, das Lager aufzugeben, als Walter von einem alten Löwen angefallen wurde. Er war zwar in der Abwehr erfolgreich geblieben, hatte aber doch allerlei Verletzungen, besonders am Bein, davongetragen, die merkwürdigerweise ein gleiches Hinken bei ihm zur Folge hatten, wie es auch beim Vater in England der Fall war. Lordy Brown hatte den Verletzten gefunden und ins Lager geschafft, nicht ohne nach drei Tagen mit zwei Säckchen Gold, dem Eigentum der beiden Goldsucher, zu verschwinden.

Walter Derrick lag lange krank; er phantasierte und hatte dabei wahrscheinlich dem höchlichst interessierten Cleave seine ganze Lebensgeschichte verraten. Während er im Fieber lag, mußten Briefe von zu Hause gekommen sein. Der Alte mochte den Tod herannahen gefühlt und Versöhnung mit dem Verstoßenen gesucht haben. Daß Cleave diesen Brief gelesen und darauf seinen Plan gebaut habe, gab der angebliche »Walter Derrick« auf Befragen ohne weiteres zu.

Eines Nachts – Cleave glaubte, daß sein verwundeter Freund den Morgen nicht mehr erleben werde – verließ er heimlich das gemeinschaftliche Lager und nahm alles mit, was er nur schleppen konnte. Um seine Pläne auszuführen, brauchte er Geld und nochmals Geld. Der Zufall kam ihm zu Hilfe. Eines Abends erreichte er ein Goldgräberlager und fand einen schlafenden Prospektor, der, vom Alkohol übermannt, es sich auf einer Wiese bequem gemacht hatte. Niemand war in Sicht, und Cleave benutzte die Gelegenheit, dem andern die Taschen zu durchsuchen. Er wurde für seine Tätigkeit gut belohnt, denn der Betrunkene hatte am gleichen Tag sein »Claim« an die Tanganjika A.-G. gegen bar verkauft und trug beinahe die ganze Kaufsumme bei sich. Er mochte wohl etwas in seiner Trunkenheit gemerkt haben, denn als Cleave mit der Beute das Weite suchte, sandte ihm der wieder Erwachte eine Kugel nach, die haarscharf an dem Dieb vorüberpfiff. Er erwiderte das Feuer, und der Beraubte sank tödlich verwundet zu Boden. Cleave hatte jedoch nicht damit gerechnet, daß man die Schüsse im Goldgräberlager hören würde, und er konnte kaum mehr den Wald erreichen, so heiß wurde die Verfolgung. Um der immer enger werdenden Umzingelung und dem Feuer der wütenden Goldgräber zu entgehen, floh Cleave in der einzigen ihm Rettung verheißenden Richtung – zu seinem schnöde verlassenen Genossen zurück. Der nächste Verfolger war kaum hundert Meter hinter ihm, als er endlich das Zelt erreichte. Erstaunt sah er Walter Derrick völlig angezogen auf dem Feldbett sitzen. Dann verließ diesen das Bewußtsein.

Als er wieder erwachte, befand er sich unter Raubmordanklage in einem Gefängnislazarett. Man hatte – die Verfolger waren gleich darauf ins Zelt gekommen – ihn mit einer Pistole in der Hand gefunden, die Beute war in seiner Tasche, und den Mörder hatte ja niemand zu Gesicht bekommen ...

Noch halb besinnungslos wurde Walter Derrick vor das Schwurgericht gestellt und hörte über sich das Todesurteil fällen. Man hatte ihn unter dem Namen Cleave angeklagt, und er selbst zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß er die ihm zur Last gelegte Tat im Delirium wirklich begangen hatte.

Zwei Jahre nach seiner Begnadigung zu lebenslänglichem Zuchthaus begann er endlich die Tatsachen, soweit sie ihm bewußt waren, aneinanderzureihen. Warum nannte man ihn Cleave? Er erfuhr es schnell genug. Bei seiner Verhaftung hatte er selbst diesen Namen im Fieber genannt. Wahrscheinlich hatte er nach seinem Genossen gerufen. Die örtliche Polizeibehörde wußte jedoch nichts davon, daß er überhaupt mit einem andern zusammen gewesen war. Inzwischen hatte der wirkliche Cleave unbelästigt die Küste erreicht, hinter sich eine Reihe von erbrochenen Geschäften zurücklassend. In Kapstadt verschwand er spurlos.

Seinem unschuldigen Stellvertreter hatte man nach und nach wegen guter Führung im Zuchthaus die Erlaubnis gegeben, Zeitungen zu lesen, und er fand eines Tages in einer von ihnen die Nachricht vom Tode seines Vaters. Die Zeitung erwähnte gleichzeitig, daß der Sohn und Erbe Mr. Josua Derricks, Mr. Walter Derrick, in England eingetroffen sei, um das Erbe zu übernehmen. Auch ein Bild von ihm war dem Artikel beigefügt. Nun erst wurde sich »Cleave« der ganzen Intrige bewußt. Was aber sollte er tun? Er befand sich im Zuchthaus; auf herkömmliche gesetzliche Weise würde es ihm nie gelingen, seine Unschuld zu beweisen. Er wandte sich an den Arzt und den Geistlichen. Der erstere lachte ihn glattweg aus, der andere sprach mit ihm wie mit einem Verrückten, dem man seine Manie ruhig belassen müsse. Der Verdacht, daß »Cleave« verrückt sei, war es ja auch, der ihn vom Galgen gerettet hatte.

Drei Monate plante und intrigierte der Gefangene, um endlich in einer stürmischen und gewitterschweren Nacht die Flucht zu wagen. Sie gelang. Es dauerte fünf Monate, ehe er Kapstadt erreichte. Völlig erschöpft, nach entsetzlicher Flucht durch Busch und Wüste fand er sich eines Nachts in einem herrlichen Garten und sank besinnungslos auf der Freitreppe der Villa des einzigen Mannes nieder, der überhaupt imstande war, ihm zu seinem Recht zu verhelfen.

Mary Dane hatte ihn gefunden; sie war Pflegerin in einem Krankenhaus der Hauptstadt gewesen und hatte ihren Beruf nur auf Wunsch des Vaters aufgegeben, um ihm in seinem Geschäft zu helfen.

De Villiers hatte sich als Privatdetektiv selbständig gemacht und war nach und nach wegen seiner Erfolge berühmt geworden. Er war früher in Kimberley Inspektor der Kriminalpolizei gewesen, hatte aber den Staatsdienst schon verlassen, als seine Töchter noch klein waren.

Man schaffte den bewußtlosen Findling ins Bett. De Villiers wollte einen Krankenwagen kommen lassen, um ihn ins Lazarett zu bringen, aber Mary bat ihn, davon abzusehen.

Vier Tage vergingen, ehe der Kranke seinen Rettern die Geschichte seiner Leiden erzählen konnte. Henry stand den Schilderungen seines Gastes anfangs skeptisch gegenüber, bekehrte sich aber zu Marys Ansicht, die mit echt weiblichem Instinkt sofort die Wahrheit des Erzählten erkannt hatte. Ein einziges Mittel gab es, dem seines Namens Beraubten sein Recht werden zu lassen: Das Buch zu finden, wo sich der Fingerabdruck des jungen Walter Derrick befand. Der Sohn wußte, daß es der Vater irgendwo an einem verborgenen Ort, wo er seine Familienpapiere aufzubewahren pflegte, versteckt hatte. Hatte der falsche Walter Derrick das Versteck gefunden, dann mußte jede Aussicht auf eine Wiedereinsetzung des wirklichen Erben fallengelassen werden. De Villiers ließ sich die Sache durch den Kopf gehen und begann unter der Hand in London Erkundigungen einzuziehen. Er selbst begab sich auf den Schauplatz des Raubmordes, für den Walter Derrick verurteilt worden war, und entdeckte, daß ein Cleave wirklich existiert hatte. Er folgte den Spuren des Mörders bis Kapstadt.

Eines Abends ließ er sich am Bett des Kranken nieder.

»Ich will einen Versuch machen«, teilte er dem Aufhorchenden mit. »Der Arzt hat mir sowieso einen Erholungsurlaub vorgeschrieben, und ich glaube, der Fall, den Sie mir darstellten, wird für mich die beste Erholung sein. Die Sache wird mich fünftausend Pfund kosten und uns wohl alle ins Gefängnis bringen. Aber – falls ich Erfolg habe, wird mein Honorar fünfzigtausend Pfund sein. Wenn nicht, kostet es Sie nicht einen Penny.«

Auf diese Weise wurde der denkwürdige Vertrag abgeschlossen. Sie reisten alle zusammen nach England und wählten auf Anregung Marys die Maskerade mit dem Krankenstuhl. Dadurch wurde erreicht, daß Walter Derrick nur selten vom Publikum gesehen wurde und auch gleichzeitig sämtliche Mitspieler beisammen bleiben konnten. Jane, ein Jahr jünger als Mary, sollte als Nachtschwester fungieren und als Marys Doppelgängerin auftreten.

»Sie war mein ewiges ›Alibi‹«, erklärte Mary. »Wenn immer ich in London zu tun hatte, traf ich Vorsorge, daß sie fünfzig Meilen davon bestimmt gesehen wurde. Sie war es, die auf dem Maskenball in Brighton tanzte, und ich traf erst kurz vor Dick dort ein. Arme Jane! Sie haßte das Doppelspiel. Von Natur aus schon Hasenfuß genug, komplizierte sie die Sache noch dadurch, daß sie sich in Tommy verliebte. Ja, ihr Ring war es, den du an meiner Hand sahst, Dick. Nun kennt auch der arme Lord den Grund, warum seine Braut tagsüber so kalt und abends so lieb zu ihm war. Ich habe Tommy ganz gern, kann es aber durchaus nicht leiden, wenn er mich streichelt. Armer Junge, er war tief gekränkt.«

Sie lachte und schmiegte sich in Dicks Arm. Nach kurzer Pause fuhr sie fort: »Den genauen Zeitpunkt, an dem Lavinsky endlich Verdacht gegen uns schöpfte, weiß ich nicht zu bestimmen. Ich glaube, jemand hat ihm etwas über das Familienbuch ...«

»Der alte Endred war es, der ihm das mitteilte«, erklärte Dick.

»Vielleicht hatte er auch ›Walter Derrick‹ im Krankenstuhl erkannt«, meinte das Mädchen. »Er hat vielleicht nach Kapstadt gekabelt, um über uns Erkundigungen einzuziehen. Möglich auch, daß ihm Lordy Brown Bescheid gesagt hat.«

»Du hattest Lordy Brown gefunden?«

»Ja, er lag sterbend in Derricks Haus. Ich hörte ihn stöhnen und erschrak. Wir versuchten alles, um ihn zu retten. Er erkannte mich natürlich und bat mich, das Geld, das ich in seiner Tasche finden würde, seiner Frau zu kabeln. Er weigerte sich jedoch, mir den Namen des Mannes zu nennen, der ihn angeschossen hatte. Er hatte immer noch so viel Ehrgefühl, um einen anderen nicht zu verraten. Vater hat ihn zweimal gebeten, eine Erklärung abzugeben; er weigerte sich. Soweit ich aus seinen Worten entnehmen konnte, hatte vor der Tat ein Zank zwischen Lordy und dem Mörder stattgefunden. Wahrscheinlich war Brown ins Haus gedrungen, um sich mit Lavinsky zu treffen, bei dem er wohl eine Erpressung versucht haben wird. Er hatte ja den wirklichen Walter Derrick gekannt. Wann merktest du zum ersten Male, Dick, was gespielt wurde?«

»Eine Ahnung bekam ich schon, als Lavinsky erstaunt war, weil ich ihm mitteilte, daß sein angeblicher Vater – der alte Derrick gehinkt hatte. Auch über die heimliche Wiederverheiratung wußte er nichts zu sagen. Er erfand den Namen der Frau seines Vaters: Miss Constable, in der Eingebung des Augenblicks.«

»Was wird denn nun mit ihm geschehen?« fragte Mary nach kurzem Schweigen.

Dick schüttelte verzweifelt den Kopf.

»Das kann ich dir nicht einmal sagen«, erklärte er. »Es wird schwer sein, ihm etwas nachzuweisen. Der Oberstaatsanwalt lehnt es ab, die Anklage auf Mord auszudehnen; er glaubt nicht an eine Verurteilung. Wir würden ihn dann natürlich freilassen müssen, und das will er vermeiden. Wahrscheinlich wird er ›lebenslänglich‹ bekommen.«

Das Mädchen erschauerte.

»Mein ganzes Leben lang habe ich in dieser Atmosphäre von Verbrechern zugebracht«, klagte sie. »Sie wird wohl auch weiter mein Los bleiben. Ach so, daß ich nicht vergesse: Du hattest dir so schön ausgemalt, daß du und ich und Jane und Tommy an einem Tage heiraten sollten, nicht wahr? Nun, Tommy sträubt sich mit Händen und Füßen gegen deinen Plan. Er hat eine Mordsangst, daß er uns noch vor dem Traualtar verwechseln würde.«

 

Ende


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