Richard Voß
Zwei Menschen
Richard Voß

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Viertes Kapitel

Judith steht mit einem anderen am wilden Eisack und zieht aus, ihr hohes Königreich zu suchen

Der Winter war für diese gesegneten Gegenden ungewöhnlich lang und hart. Seit »Menschengedenken« hatte es nicht so viel Schnee gegeben. Aber dem Sohne des Landes, der von seinem Aventinischen Heiligtum aus durch Jahre und Jahre nur den Schnee auf dem fernen Sabinergebirge gesehen, erschien die grimmige Kälte und der gefrorene Glanz über Berg und Tal wie eine glückselige Jugenderinnerung. Auch jetzt noch konnte er die Schneeschuhe anschnallen, wenn sein Priesteramt ihn zu den höchsten Hütten emporführte; konnte auch jetzt pfeilschnell über die beschneiten Flächen hingleiten, die steilen Hänge nieder. Nur galt es jetzt keinem fröhlichen Weidwerk; Berghasen und Schneehühner waren sicher vor der ragenden Gestalt, die in ihrer schwarzen Gewandung gleich einem unheilvollen Schatten über den leuchtenden Gefilden schwebte. Dann sah er unter sich in der Tiefe, wie in einem glanzvollen Abgrund versunken, die Türme von Schloß Enna; und er sah die zinnengekrönten Mauern des Platterhofs ... Die Prüfung, die seine Kirche über ihn verhängt hatte, war schwer. Doch er bestand sie. Im Frühling kam Wassergefahr. Talauf, talab schallte um Mitternacht das Geläut der Notglocken. Auch Kloster Neustift ward alarmiert. Mit den Vätern und Brüdern und der Schar der Klosterschüler eilte auch der greise Prälat zum Eisack. Ganz nahe von dem Hause St. Augustins wälzte der empörte Fluß seine wilden Wogen weit über die Ufer. Er hatte unweit des Klosters ein Haus eingerissen und dessen Trümmer mit der Habe seiner Bewohner in den Wirbeln fortgerissen.

Die Klosterleute mußten nach den Dämmen sehen, um ihr Gebiet vor den flutenden Gewalten zu schützen. Gluten loderten auf. Bei den roten sturmgepeitschten Flammen der gelbe tosende Strom und das Gewimmel der geistlichen Gestalten im weißen Haushabit...

Das Gesinde vom Platterhof, die Herrin vom Platterhof!

Judith stand den weiter und weiter ins Land hineinwogenden Wassern so nahe, als wollte sie sich von ihnen mit fortreißen lassen. Pater Paulus sah sie regungslos dastehen und abwesenden Geistes in die Wirbel starren. Sie, Judith Platter, bei einer Gefahr abwesenden Geistes! Erkannte sie nicht die Gefahr für sich selbst?

Er wußte kaum, was er tat; er wußte kaum, daß er zu ihr hineilte. Plötzlich stand er bei ihr. Seine Arme streckte er nach ihr aus, um sie zu fassen und von den machtvoll andringenden Fluten zurückzureißen. Und er wußte nicht, daß er ihren Namen rief, dreimal ihren Namen, wie in seinem Gebet auf seiner Mutter Grab:

»Judith! Judith! Judith!«

Die Angerufene schien aus einem Traum zu erwachen. Sie blickte auf. Es war, als wollte sie vor dem nach ihr sich ausstreckenden Arm des Augustinermönchs in den Strom entweichen.

Mit einem Laut wie ersticktes Stöhnen wich Pater Paulus zurück.

Wer rief? Befand sich ein Mensch in Todesgefahr ... Nur ein Hund. Samt seiner Hütte trieb er in dem Fluß – noch angekettet. Das Geheul des Tieres in Todesangst klang schaurig durch das Tosen von Sturm und Flut. Um den Hund zu retten, warf sich einer der Klosterschüler in die Wirbel. Es war grade der jüngste und zarteste.

Im nächsten Augenblick war der Platz neben Judith leer ... Nach kurzem, grimmigem Ringen mit der empörten Naturgewalt waren beide gerettet. Zuerst der todesmutige Knabe, danach das arme Tier.

Regungslos, starren Blickes, hatte Judith dem Kampf zwischen Mensch und Element zugesehen, bereit, dem priesterlichen Retter sich nachzustürzen, wenn von den beiden in Todesgefahr Schwebenden keiner gerettet worden wäre.

Am Morgen nach der Nacht dieser Ereignisse befand sich Judith in dem neben dem großen Saalflur befindlichen kleinen Gemach. Es war die ehemalige »Schreibstube«, darin Judiths Vater und Großvater und deren Großväter gesessen und über das Gedeihen ihres Geschlechts Buch geführt hatten, Haus und Habe sorglich verwaltend und glücklich vermehrend, vermehrend durch redliche Arbeit von Vater, Sohn und Sohneskind.

Der ganze Raum bestand in einem einzigen kunstreichen Schnitzwerk aus rötlichem Zirbenholz, Wand, Decke und Tür. Jedes Gerät war altertümlich und ansehnlich: der mächtige Schreibtisch voller Fächer, Aufsätze und Geheimnisse, der hochlehnige Stuhl mit vergilbtem Lederpolster, die mit Urkunden und Briefen gefüllten Truhen, und sonst jeder Gegenstand. Die bunten Majolikakacheln des mächtigen Ofens zeigten in kindlicher Darstellung biblische Gestalten und Ereignisse, eine behagliche Bank lief rings um den winterlichen Wärmespender. Das Wandgetäfel ließ sich öffnen und erwies sich als Schränke, darin die Trachten von Generationen aufbewahrt wurden. Sie waren höchst seltsam: Moden, von denen das neue Geschlecht nicht begriff, daß sie einst »modern« gefunden wurden; viele kostbar und reich: Samt, Seide, Spitzen, Stickereien. Und zu jedem Gewande Kopfputz, Haube und Hut, Degen und Stock, Schlüsseltasche und Gürtel.

In dem Saalflur nebenan hingen die Porträts vieler Männer und Frauen des Geschlechts, die diese Kleider einstmals durch ein langes oder kurzes Leben getragen hatten, immer in Ehren und Züchten, das Alte hochhaltend und selbst ein bereits morsches Herkommen feierlich vererbend von Sohn auf Sohn. In ihren Staatsgewändern, die Frauen behangen mit ihrem reichsten Schmuck, hatten sie von bescheidenen Künstlern sich abbilden lassen, auf daß ihr Gedächtnis auch in ihren Zügen den kommenden Generationen bewahrt bleibe.

Judith Platter, die Letzte dieses tüchtigen Geschlechts, besaß keine Empfindung für Ahnenbilder und Ahnenkult, für Urväterhausrat und Urvätersitte. Das Vergangene ehrend, lebte sie in der Gegenwart für Zukünftiges, für das, was sie gestaltete, was unter ihrer Fürsorge, unter ihrer Arbeit reifte und Frucht trug, was ward. In das verstaubte Familienarchiv tat sie keinen Einblick, und den von Motten zernagten Inhalt der Wandschränke hätte sie längst fortgeschafft, würde sie in dem weitläufigen Hause der Räume bedurft haben. Von dem meisten, was seit Jahrhunderten hier aufgehäuft und pietätvoll bewahrt wurde, wußte sie nur, daß es da war.

Nicht einmal das altehrwürdige Familienlinnen flößte ihr sonderlichen Respekt ein. Auf ihren Feldern wollte sie eigenen Flachs bauen und in ihrem Hause spinnen lassen, sie wollte während des Winters am Webstuhl sitzen und Neues wirken ...

An diesem Frühlingsmorgen war sie anders als sonst; zum Erschrecken anders, wie sie selbst fühlte. An allen Lebensgeistern ermattet, saß sie in dem hochlehnigen Sessel, die Hände müßig im Schoß; und es waren Hände, die Tags keinen Augenblick ruhten.

Das Fenster stand weit offen, um Sonne und Luft einströmen zu lassen. Den Vogelsang übertönte von fernher das immer noch wütende Brausen des Eisacks. Was war diese Nacht geschehen? ... Was in vielen Frühlingsnächten geschah: Wassersnot, Überschwemmungsgefahr. Sie hatte am Rande der Flut gestanden. Ein anderer trat zu ihr, streckte nach ihr seinen Arm aus, um sie von den todbringenden Wirbeln zurückzureißen, und sie hatte sich von ihm nicht anrühren lassen; dann aber –

Ein winselnder Hund trieb auf den Wogen hin; ein zarter Knabe sprang in die Flut, um einem Tier das Leben zu retten. Tier und Mensch wären umgekommen, hätte der andere sein Leben für sie nicht gewagt. Wie konnte es geschehen, daß sie in jenem Augenblick dachte: »Wenn er umkommt, so stürzest du dich ihm nach!«

Immer noch sah sie ihn in der Hochflut untertauchen, sie sah ihn vor ihren Augen versinken und wieder sich emporheben. Nicht wie ein Mönch, sondern wie ein Held kämpfte er mit den Wogen. Als er den Knaben am Ufer geborgen hatte, warf er sich sogleich nochmals hinab, um ein zweites Mal heldenhaft mit den Wassern zu ringen, eines armseligen Hundes willen!

Und sie stand untätig daneben –

Blickte er nicht zu ihr herüber, nachdem er seine zweite Rettungstat verübt hatte? ... Aber sie hatte sich bereits abgewendet, war mit ihrem Gesinde bereits fortgegangen, den nächsten von der Überschwemmung gefährdeten Stellen zu. Und jetzt saß sie todesmatt, von der Morgensonne überflutet, in dem Gemach ihrer Ahnen und sann darüber nach: »Wie hat es nur geschehen können? Wie ist es nur möglich gewesen?«

Jemand mit einem Anliegen wurde ihr gemeldet: der alte Florian von Schloß Enna!

Schon wieder dieser Name. Immer wieder! Die Leute von Schloß Enna nagten an ihrem Leben. Und sie hatte doch mit ihnen nichts mehr gemein; hatte in Wahrheit nie etwas mit ihnen gemein gehabt: die Bürgerin mit den Grafenleuten.

»Soll der Florian warten?«

»Laß ihn eintreten.«

Noch einmal wollte sie einen von diesen Leuten anhören, ein letztes Mal. »Was ist's, Florian?«

»Der Falbe ist nun auch nicht mehr. So geht alles dahin, was einmal war.«

»Kommst du des Falben wegen auf den Platterhof?«

Der Alte wich einer Antwort aus. Er berichtete: »Solange es anging, pflegte ich ihn, unseres lieben Junkers willen. Dann litt er aber doch zu sehr. Heute in aller Frühe erschoß ich ihn. Nun ist auch der Falbe dahin. Unser Junker hat seinen alten Falben nicht wiedergesehen. Er wollte nicht.«

»Der Pater wollte nicht... Was weiter?«

»Nichts weiter, als daß es mit allem dahingeht.«

»Wie meinst du das? Mit allem?«

»Alles geht an die Welschen. Oder geht's an die Juden? Beides ist eins.«

»Enna soll verkauft werden? Schloß und – alles?«

»Soviel davon noch übrig ist.« »Steht's so mit dem Grafen von Enna?«

»Der gestorbene Graf ... Nicht der Junker, sondern der andre. Aus Wien kam das Unheil. Mehr und mehr Schulden. Schulden wegen Weiber und Spiel; Schulden bei Juden und Christen. Da alle Schulden bis auf den letzten Kreuzer bezahlt werden müssen, so muß eben alles dahin gehen. Ihr versteht.«

»Ich verstehe nicht, was ich dabei tun soll.«

Judiths Stimme klang rauh, ihr Blick sah hart auf den treuen Diener seines Herrn, daß der Alte sie anschaute, als hätte soeben eine Wildfremde zu ihm gesprochen. Er bemerkte nicht, daß die müßig im Schoß ruhenden Hände sich hoben und die Lehne des Sessels umfaßten, als müßten sie daran Halt suchen.

Leise und scheu meinte der Erschreckte:

»Was Ihr dabei tun sollt? Judith Platter! ... Ich dachte: ›Wenn du zu ihr gingst; wenn du sie bätest. Sie ist doch – Judith Platter ist sie! Vielleicht, daß sie dennoch die Schloßfrau von Enna wird.‹ So dacht' ich und ging zu ihr. Verzeiht, daß ich kam.«

»Ich soll Schloß Enna kaufen?«

»Sonst kauft es ein Welscher, oder ein Jude, was dasselbe ist. Denkt doch: Schloß Enna ein Jude oder ein Welscher! An unsern Junker denkt!«

»Ich denke daran. Und weil ich daran denke –«

Sie sprach nicht aus, schloß die Augen, blieb eine lange Weile stumm, stand auf. Sie ging zum Bittsteller und sah ihm in die Augen, wie man einen Freund ansieht, dann sagte sie leise und weich:

»Ich kann nicht ›dennoch‹ Schloßfrau von Enna werden. Ich kann nicht, alter lieber Florian. Du weißt, weshalb ich nicht kann. Aber ich danke dir, daß du kamst, um mich zu bitten, es zu werden.«

Der treue Mann wußte, weshalb Judith Platter ihn mit seiner Bitte abweisen mußte. Er hatte es nur versuchen wollen – als letzte Hilfe für seinen lieben alten Herrn.

Sie ließ ihn nicht sogleich fort. Speise und Trank ließ sie für ihn auftragen und hieß ihn Platz nehmen. Es wäre das erste Mal gewesen, daß jemand von Schloß Enna auf dem Plauerhof einkehrte, ohne mit des Hofes Bestem bewirtet zu werden. So sollte es auch bei diesem Letzten sein, der von Schloß Enna kam.

Judith setzte sich zu ihrem Gast, und er mußte ihr erzählen. Damit er nicht von seinem Junker sprach, fragte sie nach diesem und jenem, was mit den Schloßleuten nichts zu tun hatte:

»Daß du Südtiroler bist, weiß ich. Aber ich weiß noch immer nicht, aus welchem Tal oder von welchem Berg?«

»Ist das möglich?«

»Also sage mir's.«

»Das ist leicht gesagt. Aus den Dolomiten bin ich. Von dort, wo sie am einsamsten und wildesten, am höchsten und herrlichsten sind. Und für die Menschen am mühseligsten und armseligsten. Nichts als Felsen und Wald; und wiederum Fels. Unersteigliche Gipfel, steil wie der Kirchturm von Vahrn. Himmelhoch! So recht zum Himmel aufweisend. Aber der kümmert sich nicht groß um das Völklein dort unten, obgleich dieses zu ihm betet und aufseufzt, ihm sein Leiden klagt und um Hilfe bittet, daß die Dolomiten selbst Erbarmen fühlen könnten. Der Himmel hat keines. Der Himmel läßt seine armen Menschenkinder ihr mühseliges Leben weiterführen; läßt sie beten und lobsingen, jammern und klagen. Deshalb glauben die Dolomitenleute doch an den Himmel. Woran sollten sie sonst glauben?«

»Ja, ja ... Wild und einsam, sagst du, ist's in deiner Heimat?«

»Eine Wildnis. Adler und Gemsen haben es dort besser als Menschen. Auch Bären gibt's dort noch. Vielen graut's vor der Öde. Euch würde sie gefallen; denn so seid Ihr.«

»Wie bin ich?«

»Anders als alle andern. Ich kenne keine wie Euch. Nicht eine einzige! Ihr seid eine Kraft wie der Eisack, wie der Sturm und alles, was stark ist. Eine Kraft geht aus von Euch. Ihr selbst wißt's nicht; aber wir andern wissen es. Wir fühlen es, wenn wir bei Euch sind. Jeder, der zu Euch kommt, nimmt, wenn er von Euch wieder fortgeht, von Eurer Kraft mit sich fort ... Weshalb seht Ihr mich so an?«

»Weil ich grade heute meine Schwachheit empfand.«

»Grad heut'?«

»Es geht vorüber.«

»Gewiß. Bei Euch geht dergleichen schnell vorüber. Aber – auch Ihr seid doch nur ein Mensch!«

»Auch ich bin nur ein Weib, ein sehr schwaches.«

»Hört, Judith! Wenn Euch die Welt unten einmal zu eng werden sollte, so steigt in meine Heimat hinauf. Hinter dem Schiern liegt sie. Dort oben wird's Euch wohl sein. Tief aufatmen werdet Ihr. Die Luft dort oben ist von derselben Kraft, wie Ihr sie in der Seele habt. Ihr gehört dort hinauf. Ich wollte, ich könnte Euch führen!«

»Weshalb kannst du nicht?«

»Weil ich bei meinem Herrn bleiben muß. So lange ich lebe, bei meinem Herrn!... Ach, Judith! Judith!«

Plötzlich brach aus dem Greis aller Jammer um Schloß Enna, um seinen lieben Herrn, um seinen liebsten Junker hervor. Blaß und stumm stand Judith daneben; blaß und stumm hörte sie zu. Aber –

Sie konnte dem Manne nicht helfen.

Als es ihr wiederum einmal in der Tiefe ›zu eng‹ um die Seele ward, unternahm sie eine Wanderung zur Höhe empor. Sie war für ihre Seele eine Wallfahrt.

Zum erstenmal geschah's, daß sie ihr Heimattal verließ; und es erhob sich darüber unter dem Gesinde ein Wundern und Staunen, als ob die Herrin auszögt, um sich in der Fremde einen Gatten, dem Platterhofe einen Herrn zu suchen.

Einen Herrn für den Platterhof... Seit Jahren suchten die Leute für Judith Platter einen Mann, für den Hof einen Herrn. Sie fanden diesen und jenen; wählten und wählten; wunderten sich, weil Judith Platter nicht diesen und jenen zum Manne nahm. Überhaupt keinen Mann. Plötzlich bildeten sie sich ein, Judith Platter suche und wähle selbst, und sogleich bemächtigte sich ihrer eine starke Erregung; denn –

»Wozu braucht der Platterhof einen Herrn? Judith Platter ist Herr!«

Bis Bozen blieb Judith im Tal. Sie fuhr in ihrem eigenen Bergwagen, neben sich den Knecht. Im »Greifen« wurde eingestellt, Wagen und Roß dem dienenden Geist des biedersten und behaglichsten aller Drachenungetüme anvertraut, und die Reise zu Fuß fortgesetzt. Der Knecht trug das Reisegepäck. Es war nicht schwer.

Den dunklen Lodenrock hochgeschürzt, einen kräftigen Stecken mit spitzer Eisenzinke als Stütze begann der Aufstieg empor zu der wilden und einsamen, der königlichen Welt der Dolomiten...

Am Vormittag des zweiten Wandertages erreichte sie ihr Ziel auf Alpenwegen, die häufig Hirtenpfaden glichen. Es war ein Hochtal mit einem altertümlichen Gebäude auf steilem Fels, von den elenden Behausungen eines kleinen Dorfes weltfremder Waldbauern umlagert. Die Leute, die einen verwahrlosten, gradezu verkümmerten Eindruck machten, starrten die Fremde an, als hätten sie noch niemals Menschen aus einer andern Gegend gesehen; noch niemals eine Frau aus einem Kulturland. Judith grüßte und erhielt mürrischen, nahezu feindseligen Gegengruß. Als sie nach einem Gasthofe fragte, wurde ihr erwidert, es gebe keinen. Sie sollte nur wieder gehen. Das wollte sie jedoch nicht. Also erkundigte sie sich:

»Was für ein finsteres Gebäude liegt dort oben über dem Dorf?«

»Wißt Ihr's nicht?«

»Ich bin hier fremd.«

»Weshalb seid Ihr gekommen, wenn Ihr's nicht wißt? Wollt Ihr nicht einen von dort oben besuchen?«

»Einen von dort oben?«

»Die dort oben können Euch bei sich aufnehmen.«

»Wer sind sie?«

»Solche, die Unrecht verübten. Und wir müssen sie bei uns dulden. Nicht einmal die Messe dürfen sie für uns lesen; nicht einmal die Beichte uns abnehmen und unsern Sterbenden das letzte Sakrament nicht geben. Wenn wir die Messe hören und unsre Sünden bekennen wollen, so müssen wir weit über die Berge gehen. Von weit über die Berge her müssen wir für unsre Sterbenden und Toten einen Priester rufen.«

Judith rief: »Mönche, Priester wohnen in dem großen grauen Hause?«

»Geistliche Übeltäter.«

»Also kein Kloster, sondern eine Strafanstalt?«

»Und wir müssen sie bei uns haben! Als ob wir nicht schon elend genug wären. Auch noch ihre Sünden müssen wir tragen. Und es sind Geweihte des Herrn ... Geht nur zu ihnen.«

Inzwischen hatte Judiths Knecht nach Unterkunft gesucht und solche in einem zu der geistlichen Anstalt gehörigen Hause gefunden, darin bisweilen Fremde aufgenommen wurden, Verwandte und Freunde von – jenen! Er führte die Herrin hinauf und berichtete unterwegs:

»Das sind üble Gesellen. Sie gehorsamen keinem Oberen, leben, wie sie mögen; beten, wann sie mögen ... Ja, und denkt Euch: es sind Augustiner.«

»Augustiner?«

»Die nämlichen sind's wie im Kloster Neustift.«

Judith wollte umkehren. Etwas Seltsames geschah ihr plötzlich: ein Schauer überkam sie gleich einem Grauen. Wie eine Ahnung, wie eine Warnung war's ... Im nächsten Augenblick schämte sie sich der Anwandlung und folgte dem Führer, auf den die Büßermönche starken Eindruck gemacht hatten:

»Was haben sie nur getan? Es sind doch Geweihte! Wie können sie Übeltäter sein? ... Oder – was meint Ihr, Frau – sind es vielleicht nur arme Unglückliche?«

Aber der Knecht erhielt zur Antwort:

»Ich weiß von solchen nichts; will von solchen nichts wissen.«

Sie hatte einen harten Ton in ihrer Stimme und ihre Augen bekamen einen in sich schauenden, starren Blick.

Drei Tage gewährte das Haus der Büßer der fremden Frau Herberge. Es war ein trauriger Aufenthalt. Die geistlichen Bewohner nahmen es mit einer Befolgung der Ordensregel nicht allzu genau; hielten es für Buße und Strafe genug, in der Wildnis zu hausen. Sie jagten und fischten. Im übrigen lebten sie gleich den Dolomitenleuten von Buchweizen und schlechtem Mais. Keiner der Waldbauern besaß eine Kuh; nur Ziegen und Schafe. Aus der dunkelgefärbten Schafswolle verfertigten sie ihre Kleider, Männer sowohl wie Frauen. Zu Weihnachten wurde ein Hammel, zu Ostern ein Lamm geschlachtet. Es waren des Jahres größte Feiertage – des Fleischgerichts wegen.

Drei Tage hielt Judith Umschau. Von früh morgens bis spät abends stieg sie umher. Sie sah nicht nur die Herrlichkeit dieses entlegenen Alpenlandes, sondern auch seine Fruchtbarkeit. Es war jungfräuliche Erde.

Allerdings mußten Wälder ausgerodet, es mußten die gerodeten Strecken in Weideland verwandelt werden. Dann aber würde es in diesem Hochtal eine Almenwirtschaft geben, wie nirgends wo anders im Lande.

Arbeit würde es kosten. Durch Jahre und Jahre unermüdliche Arbeit. Ein starres Ausharren würde das Kulturwerk erfordern; einen unbeugsamen Willen, unbeugsame Kraft...

Am dritten Tage gelangte Judith auf ihren einsamen Wanderungen hinauf zu den sogenannten Königswänden. Hier empfing sie die ganze Majestät der Dolomitenwelt. Es war, als trüge hier die Welt eine Krone.

Am dritten Tage wies man sie fort.

Die Mönche, die Sünder waren, fragten sie:

»Wer seid Ihr eigentlich? Ihr scheint eine schlechte Christin zu sein! Nicht ein einziges Mal kamt Ihr in die Kirche. Seid Ihr überhaupt eine Christin?«

Der Knecht, der dabeistand, als seiner Herrin so schmählich begegnet ward, wollte auffahren. Ein Blick Judiths gebot Ruhe. Sie erwiderte:

»Ich habe meinen Glauben, wie ihr den euren habt.«

»Was wollt Ihr bei uns?«

»Ich will bei euch bleiben.«

»Ihr bei uns bleiben? In dieser Wildnis? ... Was fällt Euch ein!«

»Nicht hier unten will ich bleiben. Ich steige hinauf.«

»Hinauf?«

»So hoch ich kann. Bis zu den Königswänden hinauf.«

»Das ist unmöglich!«

»Das wird möglich sein ... Wem gehören dort oben die Wälder und Fluren? Sind sie Klostergut?«

»Staatsgut.«

»Um so besser.«

»Geht! Geht! Wir wollen Euch nicht länger hier haben.«

»Ich komme wieder.«

Und sie kam wieder. Unter den Königswänden gründete Judith Platter ihr neues Reich, wurde sie die »Königsfrau«.


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