Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfzehntes Kapitel

Die schöne Saint-Yves widersteht Liebesanträgen

Die schöne Saint-Yves, noch zärtlicher als ihr Geliebter, ging also mit der Freundin, bei der sie wohnte, beide in Schleiern versteckt, zu Herrn von Pouange. Das erste, was ihr an der Tür entgegenkam, war der Abt von Saint-Yves, ihr Bruder, der herauskam. Sie wurde ängstlich, aber die fromme Freundin beruhigte sie. »Gerade weil man gegen Sie gesprochen hat, müssen Sie auch sprechen. Seien Sie sicher, in diesem Lande bekommen die Ankläger immer Recht, wenn man sich nicht eilt, sie zu widerlegen. Übrigens wird, wenn ich mich nicht täusche, Ihre Gegenwart mehr Wirkung tun als die Ihres Bruders.«

Es bedarf nicht viel, um eine leidenschaftlich Liebende zu ermutigen; sie wird sofort kühn. Die Saint-Yves begibt sich zur Audienz. Ihre Jugend, ihre Reize, ihre zärtlichen, von Tränen feuchten Augen zogen alle Blicke an. Die Schranzen des Unterministers vergaßen für einen Augenblick das Idol der Macht, um das der Schönheit betrachten zu können. Saint-Pouange ließ sie in ein kleines Zimmer treten. Sie sprach mit Rührung und Anmut. Saint-Pouange schien ergriffen. Sie zitterte; er beruhigte sie. »Kommen Sie heute abend wieder,« sagte er; »Ihre Angelegenheiten verdienen, daß man darüber nachdenkt und darüber in Muße spricht; hier sind zu viel Leute; man erledigt die Audienzen zu schnell: es ist nötig, daß ich mich gründlich mit Ihnen über alles, was Sie betrifft, unterhalte.« Nachdem er noch ihre Schönheit und ihre Empfindungen gelobt hatte, bestellte er sie auf den Abend um sieben Uhr.

Sie kam. Die fromme Freundin begleitete sie wieder, aber sie blieb im Salon und las den »Christlichen Erzieher«, während Saint-Pouange und die schöne Saint-Yves sich in das Hinterzimmer begaben. »Werden Sie glauben, mein Fräulein,« begann er, »daß Ihr Bruder zu mir gekommen ist, um einen Haftbefehl gegen Sie zu erwirken? In der Tat, ich würde lieber einen Befehl erlassen, um ihn selber in die Bretagne zurückzubefördern.« – »Ach! mein Herr, man scheint sehr freigebig mit Haftbefehlen in Ihren Bureaus, da man aus dem Innern des Königreichs herbeieilt, um sie zu erbitten, ganz wie Ruhegehälter. Ich denke nicht daran, eine solche Maßnahme gegen meinen Bruder zu verlangen. Ich habe mich sehr über meinen Bruder zu beklagen, aber ich achte die Freiheit der Menschen. Deshalb fordere ich auch die Freiheit des Mannes, dem ich mich vermählen will. Er ist ein Mann, dem der König die Erhaltung einer Provinz verdankt, und der ihm nützlich werden kann, und der Sohn eines Offiziers, der in seinem Dienste getötet wurde. Wessen ist er angeklagt? Wie konnte man ihn so grausam behandeln, ohne ihn zu hören?«

Der Unterminister zeigte ihr nun den Brief des Jesuitenspions und jenen des heimtückischen Amtmanns. »Wie! solche Ungeheuer gibt es auf der Erde! Und man will mich auf diese Art zwingen, den lächerlichen Sohn eines lächerlichen und schlechten Mannes zu heiraten! Auf solche Meinungen hin entscheidet man hier das Schicksal der Bürger?« Sie kniete nieder, sie bat unter Schluchzen um die Freiheit des tapferen Mannes, der sie liebte. Ihre Reize wirkten in dieser Lage überaus vorteilhaft. Sie war so schön, daß Saint-Pouange, der jede Scham verlor, ihr nahelegte, sie würde allen Erfolg haben, wenn sie ihm die erste Blüte der für ihren Geliebten bewahrten Reize weihe. Die entsetzte und verwirrte Saint-Yves stellte sich lange, als ob sie ihn nicht verstünde; es war also nötig, sich klarer auszudrücken. Ein erst mit Zurückhaltung hingeworfenes Wort brachte ein stärkeres hervor, das von einem noch deutlicheren gefolgt war. Er bot ihr nicht nur die Aufhebung des Haftbefehls an, sondern Belohnungen, Geld, Titel und Würden. Je mehr er versprach, desto stärker wurde der Wunsch, nicht zurückgewiesen zu werden.

Die Saint-Yves weinte; erstickt unter Tränen lag sie halb auf einem Sofa; sie konnte kaum glauben, was sie sah und hörte. Saint-Pouange warf sich nun seinerseits auf die Knie. Er war nicht unangenehm und hätte wohl ein nicht schon vergebenes Herz anzuziehen vermocht. Aber die Saint-Yves liebte ihren Verlobten und hielt es für ein entsetzliches Verbrechen, ihn zu betrügen, selbst wenn sie ihm dadurch diente. Saint-Pouange verdoppelte seine Bitten und Versprechungen: schließlich verlor er den Kopf so vollständig, daß er erklärte, dies sei das einzige Mittel, den Mann, an dem sie ein so heftiges und zärtliches Interesse nehme, aus dem Gefängnis zu befreien. Die seltsame Unterhaltung zog sich in die Länge. Die Fromme im Vorzimmer, die ihren »Christlichen Erzieher« las, meinte: »Mein Gott! was treiben sie dort seit bald zwei Stunden? Noch nie hat der Herr von Saint-Pouange solch lange Audienz erteilt; vielleicht hat er diesem armen Mädchen alles verweigert, weil sie ihn immer noch bittet.«

Endlich kam ihre Gefährtin aus dem Hinterzimmer: bestürzt, sprachlos und in tiefem Nachdenken über den Charakter der Großen und Halbgroßen, die so leichtfertig die Freiheit der Männer und die Ehre der Frauen opfern.

Auf dem ganzen Weg sagte sie kein Wort. Zu Hause jedoch kam es zum Ausbruch, und sie erzählte der Freundin alles. Die Fromme bekreuzigte sich. »Meine liebe Freundin, Sie müssen morgen sofort zum Pater Tout-à-tous, unserem Beichtvater; er ist sehr gut angeschrieben bei Herrn von Saint-Pouange; mehrere Dienerinnen seines Hauses beichten bei ihm; es ist ein frommer und entgegenkommender Mann, der auch Damen von Stande Rat erteilt. Überlassen Sie sich ihm, wie ich es immer tue. Ich habe mich immer gut dabei befunden. Wir armen Frauen brauchen einen Mann, der uns leitet.« – »So werde ich denn, liebe Freundin, morgen zum Pater Tout-à-tous gehen.«


 << zurück weiter >>