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Siebzehntes Kapitel

Ein albionischer Lord erzählt Amazan die Geschichte seines Landes. Die Frau des Mylord gibt Amazan ein Stelldichein; Amazan empfindet nur Wertschätzung. Der Mylord spottet darüber. Amazan kehrt nach Batavien zurück

»Wir sind lange nackt umhergewandert, obgleich das Klima nicht heiß ist. Wir wurden lange von Leuten, die aus dem antiken Lande des Saturn gekommen, das die Wasser des Tiber bespülen Die Römer., als Sklaven behandelt. Aber viel Schlimmeres, als wir von unseren ersten Überwindern erlitten, haben wir uns selber angetan. Einer unserer Könige Johann ohne Land. ging in seiner Selbsterniedrigung so weit, daß er sich als Untertan eines Priesters erklärte, der auch an den Ufern des Tiber wohnte, und den man den ›Alten von den sieben Hügeln‹ nannte: so sehr war es das Los dieser sieben Hügel, über einen großen Teil Europas, das damals von Tieren bewohnt war, zu herrschen.

Nach diesen Zeiten der Erniedrigung kamen Jahrhunderte der Grausamkeit und Anarchie. Unser Land, das häufiger Stürme hat als die Meere, die es umgeben, wurde durch blutige Streitigkeiten verheert und verwüstet. Viele gekrönte Häupter sind hingerichtet worden; mehr als hundert Prinzen von Geblüt haben ihre Tage auf dem Schafott beschlossen: ihren Anhängern hat man das Herz aus dem Leibe gerissen und um die Wangen geschlagen. Dem Henker käme es eigentlich zu, die Geschichte unserer Insel zu schreiben, da er es war, der den Punkt unter alle großen Ereignisse setzte.

Es ist noch nicht lange her, daß zu allem Unglück noch einige Personen in schwarzem Mantel Die Puritaner. und andere in weißem Hemd über der Jacke Die anglikanischen Priester. von tollen Hunden gebissen wurden und die ganze Nation mit ihrer Tollwut ansteckten. Alle Bürger waren entweder Mörder oder Gemordete, Henker oder Hingerichtete, Räuber oder Sklaven, im Namen des Himmels und auf der Suche nach dem Herrn.

Wer würde glauben, daß aus diesem furchtbaren Abgrund, diesem Chaos von Zwist, Grausamkeit, Unwissenheit und Fanatismus schließlich die vielleicht vollkommenste Regierung, die es heute in der Welt gibt, hervorgegangen ist? Ein angesehener, reicher König, mit der Macht ausgestattet, Gutes, aber ohne die Gewalt, Böses zu tun, steht an der Spitze eines freien, kriegerischen, handelstüchtigen und aufgeklärten Volkes. Auf der einen Seite teilen sich die Großen, auf der anderen die Vertreter der Städte mit dem Monarchen in die Gesetzgebung.

Durch ein merkwürdiges Verhängnis hatte man gesehen, wie Unordnung, Bürgerkriege, Anarchie und Armut das Land verwüsten, wenn Könige sich Willkürherrschaft anmaßen. Ruhe, Reichtum, öffentliche Wohlfahrt haben bei uns nur dann geherrscht, wenn die Könige einsahen, daß ihre Macht nicht unbegrenzt sein könne. Alles war in Aufruhr, wenn man über unfaßbare Dinge stritt, alles war in Ordnung, wenn man sie verachtete. Unsere siegreiche Flotte trägt unseren Ruhm über alle Meere; die Gesetze sichern unseren Reichtum: nie kann ein Richter sie willkürlich auslegen, nie einen Haftbefehl erlassen, der nicht begründet ist. Richter, die einen Bürger ohne Schuldbeweis und ohne das Gesetz kundzutun, nach dem er gerichtet wurde, verurteilen wollten, würden wir wie Mörder bestrafen.

Es ist wahr, daß es bei uns immer noch zwei Parteien gibt, die sich mit der Feder und mit Intrigen bekämpfen. Sobald es sich aber um die Verteidigung des Vaterlandes und der Freiheit handelt, sind sie vollständig einig. Diese beiden Parteien bewachen sich und hindern sich gegenseitig, das heilige Gut der Gesetze zu verletzen Sie hassen sich, aber sie lieben den Staat: sie sind wie eifersüchtige Liebende, die derselben Herrin um die Wette dienen.

Aus der gleichen Geistesverfassung, die uns die Rechte der menschlichen Natur erkennen und bewahren ließ, haben wir es in den Wissenschaften zu einem so hohen Grad der Vollendung gebracht, wie er Menschen überhaupt erreichbar ist. Eure Ägypter, die als große Techniker galten; Eure Inder, die man für bedeutende Philosophen hält; Eure Babylonier, die sich rühmen, vierhundertdreißigtausend Jahre lang die Sterne beobachtet zu haben; die Griechen, die so viel Phrasen und so wenig Wirkliches schrieben – sie alle wissen nichts im Vergleich zu unseren geringsten Schülern, welche die Entdeckungen unserer großen Meister studieren. Wir haben der Natur im Zeitraum von hundert Jahren mehr Geheimnisse entrissen, als das menschliche Geschlecht in allen Jahrhunderten zusammen entdeckt hatte.

Dies ist der Wahrheit gemäß der Zustand unseres Landes. Ich habe Ihnen weder das Gute noch das Schlechte, weder unsere Schande noch unseren Ruhm verhehlt; ich habe nichts übertrieben.«

Amazan fühlte sich bei dieser Rede von dem Wunsche durchdrungen, in den erhabenen Wissenschaften, von denen man ihm erzählte, Unterricht. zu nehmen. Hätten seine Leidenschaft für die Prinzessin von Babylon, die kindliche Ehrfurcht vor seiner Mutter, die er alleingelassen, und seine Vaterlandsliebe in seinem zerrissenen Herzen nicht so laut gesprochen, so würde er gewünscht haben, sein Leben auf der Insel Albion zuzubringen. Aber jener unglückliche Kuß, den seine Prinzessin dem König von Ägypten gegeben hatte, ließ ihm nicht genug geistige Ruhe, um die hohen Wissenschaften zu studieren.

»Ich gestehe,« sagte er, »da ich mir das Gesetz auferlegt habe, die Welt zu durchwandern und mir selbst zu entfliehen, wäre ich auch neugierig, jenes antike Land des Saturn zu sehen und das Volk am Tiber und den sieben Hügeln, dem Ihre Nation früher unterjocht gewesen ist. Es muß, zweifellos, das erste Volk der Erde sein.«

»Ich rate Ihnen, diese Reise zu machen,« antwortete der Albionier, »sofern Sie Musik und Malerei nur im geringsten lieben. Wir selber tragen unsere Langeweile sehr oft in die Stadt der sieben Hügel. Aber Sie werden erstaunt sein, wenn Sie die Nachkommen unserer Besieger sehen.«

Diese Unterhaltung dauerte lange. Obgleich das Hirn des schönen Amazan etwas überanstrengt war, sprach er mit so viel Anmut, seine Stimme ging so zu Herzen, seine Haltung war so edel und sanft, daß die Herrin des Hauses sich nicht versagen konnte, mit ihm auch noch unter vier Augen ein Gespräch zu führen. Sie drückte ihm beim Sprechen zärtlich die Hand und sah ihn mit feuchten, glänzenden Augen an, die in jedem Sitz des Lebens das Begehren hervorrufen mußten. Sie bat ihn, ihr Gast nicht nur zu Tisch, auch für die Nacht, zu sein. Jede Bewegung, jedes Wort, jeder Blick entflammten ihre Leidenschaft. Sobald die anderen sich zurückgezogen hatten, schrieb sie ihm ein Billett; sie zweifelte nicht, daß er käme, um ihr in ihrem Bett den Hof zu machen, während Mylord »Was liegt daran« in dem seinen schlief. Amazan hatte auch hier den Mut, zu widerstehen: solch wunderbare Wirkungen bringt eine Spur Tollheit in einem starken, tiefgekränkten Herzen hervor.

Nach seiner Gewohnheit erteilte Amazan der Dame eine ehrerbietige Antwort, in der er ihr die Heiligkeit seines Schwurs und seine strenge Verpflichtung darlegte, die Prinzessin von Babylon zu lehren, wie man Leidenschaften bezähme. Worauf er seine Einhörner anspannen ließ, um nach Batavien zu fahren: hinter sich die ganze Gesellschaft in Verwunderung über ihn, die Dame des Hauses aber in größter Verzweiflung. In ihrem ungeheuren Schmerz verlor sie den Brief Amazans. Als Mylord »Was liegt daran« ihn am folgenden Morgen las, meinte er achselzuckend: »Das sind geschmacklose Albernheiten«; dann ging er mit einigen Trunkenbolden der Nachbarschaft auf die Fuchsjagd.

Amazan schwamm schon auf offenem Meere. Er war in das Studium einer Landkarte versenkt, die ihm der gelehrte Albionier geschenkt, der sich bei Mylord »Was liegt daran« mit ihm unterhalten hatte. Voll Staunen sah er einen großen Teil der Erde auf diesem Blatt Papier.

Seine Augen und seine Phantasie irrten auf der kleinen Fläche umher; er erblickte den Rhein, die Donau, die Tiroler Alpen, die damals einen anderen Namen hatten, und alle Länder, durch die er kommen mußte, bevor er in der Stadt der sieben Hügel ankam. Vor allem aber betrachtete er die Gegend des Gangaridenlandes, Babylon, wo er seine teure Prinzessin kennengelernt, und das verhängnisvolle Land von Bassora, in dem sie dem König von Ägypten einen Kuß gegeben hatte. Er seufzte, vergoß Tränen, gab aber zu, daß der Albionier, der ihm das Weltall im Auszug geschenkt hatte, nicht unrecht gehabt habe mit seiner Ansicht, man sei am Ufer der Themse tausendmal unterrichteter als an den Ufern des Nils, des Euphrat und des Ganges.

Als er nach Batavien zurückkam, flog Formosante mit ihren beiden Schiffen, die mit vollen Segeln dahinglitten, gerade auf Albion zu. Das Schiff Amazans kreuzte und berührte sich fast mit dem ihren; die beiden Liebenden waren sich ganz nahe und ahnten es nicht. Ach! wenn sie es gewußt hätten! Aber das gebieterische Schicksal erlaubte es nicht.


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