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I

In dem Dramolett »Das Gnadenbrot«, von Turgeniew, sollte der Charakterspieler Ullrich den alten Demütigen Kusofkin darstellen. Endlich! Er hatte sich jahrelang, wie die Kollegen sagten, um diese Rolle gerissen; war doch der Kusofkin eine der ruhmgekrönten Gestalten des großen Novelli gewesen, den der Charakterspieler Ullrich eben auch nur als einen Fachrivalen einzuschätzen vermochte.

Das Stück war, mit Respekt gesagt, ein alter Schinken, und das ganze Theater lächelte über den hartnäckigen Appetit Ullrichs, welcher, schon mehr ein Heißhunger, anfallsweise wiederkehrte und dem Dramaturgen das Leben erschwerte. Aber eines Tages gab der Direktor plötzlich nach und entschloß sich zum »Gnadenbrot«.

Man wird nie ganz begreifen lernen, auf welche Weise eigentlich so folgenschwere Entschlüsse in der Seele eines Selbstherrschers entstehen. Vergeblich wurde noch einmal hingewiesen auf die leidige Tatsache, daß »das Gnadenbrot« nur aus zwei Akten bestand, also das Publikum gewissermaßen mitten im Schmaus und mit halbgefülltem Magen nach Haus geschickt werden mußte; wenn ihm nicht noch ein dazu passender Einakter in den Rachen geworfen wurde.

Der Direktor gab ohne weiteres die Schwierigkeiten zu, ein solches Nachgericht herbeizuschaffen. Aber er hatte in einer schlaflosen Nacht, bei der zwanzigsten Umwälzung seiner Persönlichkeit, den höheren Wink empfangen, seinen Kostgängern »Das Gnadenbrot«, echt russisch herausgebacken, mit beliebiger Nachspeise vorzusetzen.

Und schon am nächsten Morgen wurde dem Charakterspieler Ullrich die ersehnte Rolle ins Haus geschickt. Der stellvertretende Dramaturg nahm sich sogar auf Kosten des Theaters ein Auto, um sie schnellstens dahin zu befördern. –

Charakterspieler Ullrich empfing die Rolle, diese Geisel der Unterwerfung, welche der Feind – kein ärgerer als der Direktor – ihm gebunden auslieferte, in großer Haltung, um nicht zu sagen mit Gleichgültigkeit. Es war seinem kühlen Blick, der sich mit dem feigen Lächeln des Unter- oder Hinter-Dramaturgen kreuzte, kein Aufblitzen des Triumphes anzumerken. Ganz im Gegenteil seufzte Herr Ullrich – was bekunden sollte, daß sein Siegesweg über Rollen-Leichen ein mühevoller und schmerzensreicher war –; seine Hand wog das nur zweiaktige Stück, befand es zu leicht und warf es dann mit leutseligem Schwung auf ein Regal zu den übrigen.

Der beliebte Spieler charaktervoller Figuren schien sogar etwas verdrießlich, und er war es auch. Hatte da eine anerkannte Größe wie er nicht, nach allzu langwierigem Bestreben, etwas verhältnismäßig Kleines erreicht? Hatte es ihn nicht zuviel Atem schon bis hierher gekostet? Und sein Atem war gewiß nicht jedermanns Atem, der dahinfährt, niemand weiß, von wannen er weht und wohin er geht; sondern sein Atem war ein genau eingeteilter, ein mit Gold und Ehre aufgewogener, Glück spendender Hauch; und Herr Ullrich hatte sich allmählich in die Gewißheit verstrickt, daß die übrige Welt diesen seinen Atem eigentlich dringender brauchte als er selbst. Es wäre eine der gemeinnützigen Aufgaben einer pflichtbewußten, wahrhaft modernen Wissenschaft gewesen, für einen Mann wie Ullrich Privatkiemen zu erfinden, um seine Lungen für das Wohl aller zu schonen.


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