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Zwanzigstes Kapitel.
Die letzte Nacht

Der Besuch Yaquitas, die in Begleitung ihrer Tochter kam, war der gleiche wie alle Tage und auf die wenigen Stunden beschränkt, die die Gatten miteinander verbringen konnten. In Gegenwart dieser beiden so innig geliebten Wesen war Joam Dacostas Herz nahe am Ueberfließen. Aber der Gatte, der Vater tat sich Gewalt an. Er sprach den beiden armen Frauen Mut zu, er machte ihnen ein wenig Hoffnung, obwohl er selber fast keine mehr hegte. Alle beide kamen in der Absicht, dem Gefangenen gut zuzureden. Aber sie selber bedurften der Zusprache. Wenn sie ihn jedoch fest und hocherhobenen Hauptes bei all seinen Leiden sahen, dann fahlen auch sie wieder ein wenig Hoffnung.

Auch an diesem Tage hatte Joam Dacosta ermutigende Worte zu ihnen gesprochen. Diese unerschütterliche Energie schöpfte er nicht allein aus dem Bewußtsein seiner Unschuld, sondern auch aus dem Glauben an den Gott, der einen Teil seiner Gerechtigkeit in das Herz der Menschen gelegt hat.

Von dem Dokument sprach er fast nie. Ob es unecht war oder nicht, ob es von Torres selber oder von dem wahren Urheber des Raubmordes geschrieben war, ob es die so eifrig gesuchte Rechtfertigung enthielt oder nicht – nicht auf diese zweifelhafte Hypothese stützte sich Joam Dacosta. Nein! Er sah sich selber für den besten Beweis in seiner Sache an, und sein ganzes Leben der Arbeit und der Ehrenhaftigkeit sollte für ihn sprechen!

Gestärkt durch die männlichen Worte, die ihnen tief zu Herzen gingen, waren an diesem Wend Yaquita und Tochter zurückgekehrt, zuversichtlicher, als sie seit der Verhaftung je gewesen waren.

Ein letztes Mal hatte der Gefangene sie mit doppelter Zärtlichkeit ans Herz gedrückt. Er schien zu ahnen, daß das Ende nahe bevorstände.

Als Joam Dacosta allein war, sah er lange unbeweglich.

Die Arme hatte er auf einen kleinen Tisch gestemmt und sein Haupt darauf gestützt.

Was ging in ihm vor? War er zu der Ueberzeugung gelangt, daß die menschliche Gerechtigkeit nach dem ersten falschen Urteil endlich seine Unschuld verkünden werde?

Ja! Er hoffte noch. Mit dem Bericht des Richters Jarriquez über seine Identität mußte, wie er wußte, auch die Rechtfertigungsschrift, die er mit so fester Ueberzeugung geschrieben hatte, in die Hände des obersten Gerichts gelangt sein.

Diese Denkschrift war die Geschichte seines Lebens von seinem Eintritt in das Bureau des Diamantendistrikts an bis zu dem Augenblicke, wo die Jangada Manaos aufsuchte.

Im Geiste ging jetzt Joam Dacosta sein ganzes Leben durch. Er erlebte seine Vergangenheit noch einmal von dem Zeitpunkt an, wo er als Waise nach Tijuco gekommen war. Durch seinen Eifer hatte er dort Anstellung im Bureau des Generalgouverneurs gefunden. Er war damals noch ziemlich jung. Eine gute Zukunft winkte ihm. Er mußte zu einer hohen Stellung emporsteigen.

Und dann mit einem Schlage diese Katastrophe! Die Plünderung des Diamantenkonvois, das Blutbad der militärischen Eskorte, der Verdacht gegen ihn als den einzigen Beamten, der die geheimgehaltene Absendung hatte verraten können, seine Verhaftung, sein Prozeß vorm Schwurgericht, seine Verurteilung trotz aller Bemühungen seines Advokaten, die letzten Stunden in der Zelle der zum Tode Verurteilten im Gefängnis von Villa-Rica, seine Flucht unter Umständen, die einen übermenschlichen Mut erheischten, seine Irrfahrt durch die nördlichen Provinzen, seine Ankunft an der peruanischen Grenze, und schließlich die Aufnahme, die der aller Mittel entblößte, Hungers sterbende Flüchtling bei dem gastfreundlichen Fazendero Magalhaes gefunden hatte.

Der Gefangene durchlebte all diese Ereignisse noch einmal, die so brutal sein Leben vernichtet hatten. In seine Gedanken vertieft, versunken in seine Erinnerungen, vernahm er weder das eigentümliche Geräusch, das an der äußern Mauer des alten Klosters vernehmlich wurde, noch hörte er die Schläge eines Taues, das an die Stäbe seines Fensters gebunden wurde, noch das Knirschen der Feile, die das Eisen zerrieb. Jeder weniger mit sich selbst beschäftigte Mensch hätte dies bemerken müssen.

Joam Dacosta lebte sich weiter in die Jahre seiner Jugend hinein, die hinter seine Ankunft in der peruanischen Provinz fielen. Er war wieder Verwalter auf der Fazenda, dann Mitbesitzer und förderte durch fleißige Arbeit das Gedeihen der Ansiedlung von Iquitos.

Ach, warum hatte er seinem Wohltäter nicht gleich alles gesagt! Der hätte nicht an ihm gezweifelt! Das war der einzige Vorwurf, den er sich zu machen hatte! Warum hatte er nicht bekannt, woher er käme, noch wer er sei – vor allem in dem Augenblick, wo Magalhaes die Hand seiner Tochter in die seine legte, die doch in ihm nie den Urheber dieses furchtbaren Verbrechens erblickt hätte!

In diesem Augenblick wurde das Geräusch draußen so stark, daß selbst der Gefangene aufmerksam wurde.

Joam Dacosta hob einen Augenblick den Kopf. Seine Augen richteten sich auf das Fenster, aber mit dem leeren Blick eines Geistesabwesenden – und im nächsten Moment sank ihm die Stirn wieder in die Hände.

Seine Gedanken kehrten abermals nach Iquitos zurück.

Dort lag der alte Fazendero im Sterben. Bevor er starb, wollte er die Zukunft seiner Tochter sicher stellen; vor seinem Tode noch sollte sein Teilhaber alleiniger Besitzer dieses Anwesens werden, daß erst unter seiner Leitung so herrlich emporgeblüht war. Hätte Joam Dacosta da sprechen sollen? Vielleicht!

Aber er hatte es nicht gewagt. Er durchlebte noch einmal die glückselige Vergangenheit mit Yaquita, die Geburt seiner Kinder, das ganze Glück dieses Lebens, das nur durch die Erinnerung an Tijuco und durch die Selbstanklage, das furchtbare Geheimnis nicht bekannt zu haben, getrübt worden war.

Die Verkettung dieser Geschehnisse vollzog sich also an Joam Dacostas Geiste mit überraschender Klarheit und Lebhaftigkeit.

In diesem Augenblick ging das Fenster, von außen heftig zurückgestoßen, plötzlich auf.

Joam Dacosta erhob sich, die Erinnerungen an seine Vergangenheit verflogen wie ein Schatten.

Benito war in die Zelle gesprungen und stand vor seinem Vater. Einen Augenblick später trat Manuel neben ihn.

Joam Dacosta wollte einen Schrei der Ueberraschung ausstoßen. Benito lieb ihm nicht die Zeit dazu.

»Mein Vater,« sagte er, »das Gitter dieses Fensters ist aufgebrochen. Ein Tau hängt bis auf den Boden herab! Hundert Schritt von hier wartet eine Piroge im Kanal. Dort ist Araujo, der das Boot weit weg von Manaos bringen soll nach dem andern Ufer des Amazonas, wo deine Spuren nicht entdeckt werden können! Mein Vater, Du mußt auf der Stelle fliehen! – Der Richter selber hat uns den Rat gegeben.«

»Sie müssen!« setzte Manuel hinzu.

»Fliehen! – Ich! – Ein zweitesmal fliehen! – Abermals fliehen!«

Mit gekreuzten Armen und hocherhobenem Haupt trat Joam Dacosta bis in den Hintergrund der Zelle zurück.

»Niemals!« sagte er in so entschiedenem Tone, daß Benito und Manuel für den Moment nichts zu erwidern wußten.

Die jungen Männer waren auf einen solchen Widerstand nicht gefaßt. Nie hätten sie glauben mögen, daß bei dieser Flucht ihnen Hindernisse vom Gefangenen selber bereitet würden.

Benito trat auf seinen Vater zu, er sah ihm ins Gesicht und ergriff seine beiden Hände, nicht um ihn fortzuziehen, sondern um sich Gehör zu verschaffen und ihn zu überzeugen.

»Niemals! sagtest du, Vater?«

»Niemals!«

»Mein Vater,« sagte jetzt Manuel – »denn auch ich habe das Recht, Sie so zu nennen – mein Vater, hören Sie uns an! Wenn wir Ihnen sagen, daß Sie fliehen müssen, ohne einen Augenblick Zeit zu verlieren, so geschieht es deshalb, weil, wenn Sie bleiben, Sie gegen die übrige Welt, ja gegen sich selber als schuldig gelten müßten!«

»Wenn du bleibst,« fuhr Benito fort, »so hast du nur den Tod zu erwarten, mein Vater! Der Vollstreckungsbefehl kann jeden Augenblick eintreffen. Wenn du glaubst, daß die Gerechtigkeit der Menschen ein ungerechtes Urteil umstoßen wird, wenn du denkst, daß sie die Ehre dessen wiederherstellen wird, den sie vor zwanzig Jahren verurteilt hat, so irrst du dich! Es ist keine Hoffnung mehr. Es gilt nur zu fliehen – also fliehe!«

Unwillkürlich hatte Benito seinen Vater angefaßt und zog ihn nach dem Fenster.

Joam Dacosta machte sich frei und trat nochmals zurück.

»Fliehen!« wiederholte er im Tone eines Mannes, dessen Entschluß unerschütterlich ist, »das hieße mich und Euch mit mir entehren. Dies wäre einem Schuldbekenntnis gleich! da ich freiwillig gekommen bin, mich dem Gericht meiner Heimat zur Verfügung zu stellen, so muß ich seine Entscheidung abwarten, wie sie auch ausfallen möge, und ich werde warten.«

»Aber die Angaben, auf die Sie sich stützen, können nicht ausreichen,« antwortete Manuel, »und der faktische Beweis Ihrer Unschuld fehlt uns bisher noch. Wenn wir Ihnen nochmals sagen, daß Sie fliehen müssen, so geschieht es, weil der Richter Jarriquez uns das selber gesagt hat! Sie haben nur diese Möglichkeit, dem Tode zu entrinnen!«

»Dann werde ich sterben!« antwortete Joam Dacosta in ruhigem Tone. »Ich werde sterben mit dem Widerspruch gegen meine Verurteilung auf den Lippen. Schon einmal bin ich wenige Stunden vor der Hinrichtung geflüchtet. Ja! Damals war ich jung, ich hatte ein ganzes Leben vor mir, um gegen die Ungerechtigkeit der Menschen anzukämpfen! Aber mich jetzt retten, wieder beginnen dieses elende Dasein eines Schuldigen, der sich unter falschem Namen verbirgt, dessen ganzes Mühen darauf gerichtet sein muß, die Nachforschungen der Polizei irre zu leiten, fortsetzen dieses Leben der Angst, das ich 23 Jahre lang geführt habe, und Euch nötigen, es mit mir zu teilen, jeden Tag einer Denunziation gewärtig sein, die früher oder später doch wieder erfolgt, und schließlich in fremdem Lande noch ausgeliefert werden! Hieße das denn überhaupt leben? Nein, niemals!«

»Mein Vater,« entgegnete Benito, dem angesichts dieses Widerstandes der Verstand verloren zu gehen drohte, »du wirst fliehen – ich will es!«

Er hatte Joam Dacosta ergriffen und suchte ihn mit Gewalt zum Fenster zu ziehen.

»Nein! – nein!«

»Du willst mich also wahnsinnig machen!«

»Mein Sohn,« rief Joam Dacosta, »last mich! Schon einmal bin ich aus dem Gefängnis von Villa-Rica entflohen, und die Welt hat glauben müssen, daß ich einer gerecht verdienten Verurteilung mich entzog! Wohl! für die Ehre des Namens, den Ihr tragt, geschieht dies nicht noch einmal!«

Benito war vor seinem Vater auf die Kniee gefallen. Er streckte die Hände nach ihm aus. Er flehte ihn an.

»Aber dieser Befehl, mein Vater,« sagte er, »dieser Befehl kann heute eintreffen ... in jedem Augenblick ... und er wird dein Todesurteil enthalten.«

»Und wäre er bereits da, so würde das an meinem Entschluß nichts ändern! Nein, mein Sohn! Joam Dacosta, der schuldige, könnte wohl fliehen! Joam Dacosta, der unschuldige, flieht nicht!«

Der Auftritt, der diesen Worten folgte, war herzzerreißend. Benito drang in seinen Vater, er rang mit ihm. Manuel, gleichfalls ganz außer sich, stand am Fenster, bereit, den Gefangenen emporzuheben – da öffnete sich die Tür der Zelle.

Auf der Schwelle erschien der Polizeichef in Begleitung des Anstaltsdirektors und einiger Soldaten.

Der Polizeichef begriff sogleich, daß ein Fluchtversuch gemacht worden sei, aber er sah auch an der Haltung des Gefangenen, daß dieser selber nicht hatte flüchten wollen und sich dem Ansuchen widersetzt hatte. Er sagte daher nichts!

Das tiefste Mitleid sprach sich in seinen Zügen aus. Ohne Zweifel hätte auch er wie der Richter Jarriquez es am liebsten gesehen, wenn Joam Dacosta aus diesem Kerker entkommen wäre.

Es war zu spät.

Der Polizeichef, der ein Papier in der Hand hielt, trat auf den Gefangenen zu.

»Vor allem,« redete Joam Dacosta ihn an, »lassen Sie mich Ihnen versichern, mein Herr, daß es in meiner Hand gelegen hätte, zu entfliehen, daß ich aber nicht habe fliehen wollen!«

Der Polizeichef senkte auf einen Augenblick den Kopf; mit einer Stimme, der er vergebens Festigkeit zu verleihen bemüht war, sagte er:

»Joam Dacosta, soeben ist vom obersten Gerichtshof von Rio de Janeiro der Befehl eingetroffen.«

»Ah, mein Vater!« schrieen Manuel und Benito.

»Dieser Befehl,« fragte Joam Dacosta, der die Arme über der Brust gekreuzt hatte, »lautet auf Vollstreckung des Urteils?«

»Ja.«

»Wann soll es stattfinden?«

»Morgen!«

Benito hatte sich auf seinen Vater geworfen. Er wollte ihn noch einmal aus der Zelle ziehen. Die Soldaten mußten den Gefangenen seinen Armen entreißen.

Auf ein Zeichen des Polizeichefs wurden Benito und Manuel hinausgeführt. Die jammervolle Szene, die schon zu lange gedauert hatte, mußte ein Ende nehmen.

»Mein Herr,« sagte jetzt der Verurteilte, »kann ich morgen früh vor der Hinrichtung ein paar Augenblicke mit dem Padre Passanha verbringen, den ich zu benachrichtigen bitte?«

»Er wird benachrichtigt.«

»Wird mir erlaubt, meine Familie zu sehen, ein letztesmal Frau und Kinder in die Arme zu schließen?«

»Es wird erlaubt.«

»Ich danke Ihnen, Herr,« antwortete Joam Dacosta. »Und nun lassen Sie dieses Fenster bewachen, daß ich nicht wider Willen entführt werde!«

Nach diesen Worten ging der Polizeichef, sich verneigend, mit dem Anstaltsdirektor und den Soldaten aus der Zelle.

Der Verurteilte, dem jetzt nur noch wenige Stunden zu leben verblieben, war allein.


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