Else Ury
Kommerzienrats Olly
Else Ury

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12. Kapitel.

Ein mutiges Mädchen

Ja – es wurde anders!

Olly wurde eine andere, seitdem die junge deutsche Lehrerin ihr auf der Rebenbank den richtigen Weg gewiesen. Sie wollte mit allen Kräften versuchen, wenigstens innerlich das häßliche junge Entlein zu einem Schwan zu verwandeln.

Bei einer Vornahme blieb Olly nie stehen. Sie ging gleich mit festem Willen heran. Noch an demselben Tage sandte sie ein Glückwunschtelegramm an den Vater ab, da sie es vorher trotzig zurückgewiesen hatte, an Sentas Gratulationsbrief einige Worte anzufügen. Papa sollte an dem heutigen Tage nicht zornig oder gar traurig an seine älteste Tochter denken.

Der Abend dieses eine Veränderung herbeiführenden Ostertages brachte auch in das Haus »Mon repos« manche Veränderung.

Am Nachmittag sah man die Pensionsschwestern geheimnisvoll flüstern und kichern. Bei den gemeinsamen Spielen hatte keine so rechte Aufmerksamkeit. Olly am wenigsten. Wenn sie sich auch nicht an dem Getuschel, das von Senta ausging, beteiligte. Ihr war das Herz heute so voll von dem, was Fräulein Richter gesagt.

Das »Gute Nacht« war verklungen, die Zöglinge suchten ihr Lager auf. Olly und Madeleine stumm wie stets.

Miß Pinshes, der Senta den despektierlichen Namen »Pinscher« zugelegt hatte, machte heute als Nachtwächter die allabendliche Runde, überall waren die elektrischen Flammen vorschriftsmäßig ausgeknipst, die Mädchen in ihren Betten. Nur der Mond ruhte nicht, durch die unverhangenen Fenster strickte er sein silbermaschiges Lichtnetz über die jungen Gesichter.

Ein Bett knarrte leise, noch eins – jetzt hier – nun dort. Schlanke, weiße Gestalten erhoben sich lautlos allenthalben, glitten unhörbar auf bloßen Füßen über die Holzgalerie und verschwanden alle in demselben Zimmer.

Der Mond machte ein bestürztes Gesicht. Nanu – was hatte denn das zu bedeuten, die Geisterstunde war doch noch nicht da?

In Sentas Zimmer gab es einen heimlichen Hochzeitsschmaus. Madeleines rothaariges Köpfchen hatte den abenteuerlichen Plan ausgeheckt, und Senta ihn jubelnd aufgenommen. Alle Pensionsschwestern waren zur Vertilgung der großen, von Papa gesandten Hochzeitskiste geladen, nur – die eigene Schwester nicht.

»Olly hat keinen Sinn für Heimlichkeiten, die verpetzt uns am Ende«, hatte sie, ein wenig verlegen, geäußert, als die Gefährtinnen sich darüber gewundert hatten.

Madeleine pflichtete ihr bei. »Ja, sie ist zu sehr enfant gatée bei den Lehrerinnen!«

Olly fuhr aus erstem Halbschlummer empor. Hatte da nicht die Verandatür geknarrt?

Madeleine mit malerisch gelöstem Rothaar stand mitten in der Mondscheinflut, wie eine schöne Nixe anzuschauen. Sie war gerade im Begriff, zu entwischen.

»Ist Ihnen nicht wohl?« Olly ermunterte sich mit Anstrengung. Trotzdem sie Madeleine nicht mochte, war ihr Mitleid erregt.

»Nein, mir ist gar nicht gut, ich muß etwas frische Luft schöpfen – aber lassen Sie sich ja nicht stören, schlafen Sie nur ruhig weiter!« Madeleine machte, daß sie davonkam. Sie wand sich – nicht vor Schmerzen – sondern vor Lachen. Die hatte sie fein düpiert!

Der Mond guckte neugierig in das Zimmer 16 hinein. Mit hochgezogenen Beinen hockten sie alle, die Zöglinge der Pierreschen Pension, in langen Nachtgewändern auf den Stühlen, den Betten, ja, selbst auf dem Tisch hatten vier Platz genommen. Mit vollen Backen verschmausten sie die große Hochzeitstorte, und dazwischen die feinen Pralinés und herrlichen Petits fours, welche die neue Mutter für das Naschmäulchen eingelegt.

Madeleine stand in der Mitte und gab eine selbsterfundene, pantomimische Hochzeitsaufführung zum besten.

Die anderen jauchzten Beifall.

»Pst, Kinder – nicht so laut – der Pinscher hört uns!«

»Ach wo, wenn die mal schnarcht, können die Mauern einstürzen . . .«

»Mais la petite«, gab eine andere zu bedenken.

Aber die warnenden Mahnungen drangen nicht durch, man war viel zu sehr in Stimmung.

Die Hochzeitstafel war beendigt, jetzt kam der Hochzeitstanz heran. Lisi, die fesche Wienerin, bildete die Kapelle. Sie pfiff kunstgerecht die neuesten Wiener Operettenwalzer, nach denen sich die Schar weißer Hemdenmätze übermütig drehte. Alles barfuß.

Der Mond machte ein ganz verdutztes Gesicht bei diesem merkwürdigen Anblick. Aber noch ein Gesicht spähte durch die Scheiben, nicht weniger verdutzt als der Mond droben. Das Ollys.

Sie hatte nicht wieder einschlafen können, die Sorge um die erkrankte Madeleine hatte sie munter gehalten. Da die junge Pariserin nicht zurückkehrte, fürchtete Olly, daß sie sich in der Nachtluft erst recht erkälten könnte. Gutherzig, wie sie war, erhob sie sich trotz ihrer Müdigkeit vom Lager, um selbst nach der Kranken zu sehen.

Aber die Holzgalerie, auf die Olly trat, war leer. Nur silberfüßige Mondstrahlen huschten darüber hin.

Wo war Madeleine hingekommen?

Aus einem Zimmer klang Flüstern und Lachen. Olly folgte dem Klang. Und nun stand sie, wie ein Dieb in der Nacht, am Fenster der Schwester und schaute hinein. Da schwenkte Madeleine, die Patientin, gerade ein großes Stück Schokoladentorte in der Hand herum und rief in französischer Sprache: »Das Brautpaar soll leben!«

Kalt durchrieselte es Olly in der linden Frühlingsnacht. Man feierte dort drin Papas Hochzeitsfest mit den Gaben der Heimat! Und sie, sie hatte Senta davon ausgeschlossen! Wenn sie auch bestimmt nicht an der Heimlichkeit teilgenommen, wenn sie auch der Schwester sicher abgeredet hätte, es tat doch weh! Alle Bitterkeit, die Fräulein Richters liebe Worte heute in ihr gelöst, quoll wieder jäh empor. Aber während die da drinnen übermütig im Mondenschein den Reigen schlangen, kämpfte Olly ernsthaft gegen dieses Gefühl. Sie wollte ja besser werden, Böses mit Gutem vergelten!

Das konnte sie nicht mehr betätigen, als wenn sie Senta und den Gefährtinnen den Rat gab, den heimlichen Unfug zu beendigen, ehe eine der Lehrerin etwa davon Wind bekam.

Die Verandatür öffnete sich plötzlich. Ha – stob die tanzlustige Schar da auseinander. Im Mondschein stand, wie ein Geist, Olly Hildebrandt – Gott sei Dank, keine Lehrerin!

Senta, die sich als Urheberin am meisten erschreckt und gleichzeitig Olly gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte, fuhr sie aufgebracht an: »Na, spionierst du heimlich herum, willst uns wohl morgen bei deinem Fräulein Richter verklatschen und dich dadurch lieb Kind machen?«

Wieder mußte Olly alle Willenskraft aufbieten, um Sentas Schmähungen vor den Gefährtinnen nicht mit Gleichem zu vergelten. Aber sie brachte es fertig, in nicht unfreundlichem, wenn auch ernstem Ton zu antworten: »Ich möchte dir raten, Senta, mit eurem Beisammensein hier Schluß zu machen. Wenn es herauskommt . . .«

»Habt ihr's gehört, sie will uns verpetzen!« unterbrach die Schwester sie höhnisch. Und wie um Olly ihre Gleichgültigkeit gegen den gegebenen Rat zu beweisen, faßte sie Madeleine rundum und begann mit ihr aufs neue, eine Melodie trällernd, im Zimmer herumzuwalzen. Die anderen folgten ihrem Beispiel.

»Qu'est-ce que c'est que ça?« Wie eine Bombe platzte plötzlich eine weiche Frauenstimme in diesen fröhlichen Tumult. In dem Rahmen der zum Treppenflur führenden Tür tauchte im losen Hausgewande »la petite« auf. Aber in diesem Augenblick erschien sie keiner der entsetzten Pensionärinnen klein, sondern groß und drohend.

»Ja, schämt ihr euch denn gar nicht, uns derartig zu täuschen?« begann Fräulein Richter ernst, und überflog die sich wie ängstliche Küchlein zusammenscharenden Mädchen. Da wurde ihr strafender Blick plötzlich traurig – sie hatte Olly unter den weißen Gestalten entdeckt.

»Auch Sie, Olly Hildebrandt – das habe ich allerdings nicht von Ihnen vermutet, besonders nicht nach dem heutigen Tage! Sie haben mich sehr enttäuscht!«

Olly zitterte wie Espenlaub. Das Schlimmste, was sie treffen konnte, war, nun auch von Fräulein Richter verkannt zu werden! Und dennoch schwieg sie! Nicht aus Scheu oder aus Trotz. Nein, sie, die stets ausgeschlossen gewesen, jetzt, wo es galt, die Strafe gemeinsam mit den Gefährtinnen zu tragen, jetzt dachte sie zu vornehm, um sich allein auszuschließen.

Die Mädchen sahen auf Senta – sprach die denn nicht, klärte die denn nicht den wahren Sachverhalt auf?

Nein, Senta schwieg. Olly hatte ja allein einen Mund, was brauchte sie denn die Schwester weißzuwaschen! Da wandte sich Fräulein Richter ihr selbst zu.

»Ich irre mich wohl nicht in der Annahme, Senta, daß Sie in Gemeinschaft mit Ihrer Freundin Madeleine diese heimliche Zusammenkunft ins Werk gesetzt haben. Wir sprechen uns morgen. Jetzt schleunigst eine jede in ihr Zimmer, und daß ich keinen Laut mehr vernehme!« Niemand hatte »la petite« jemals so streng sprechen hören. Ohne noch einen Blick auf die flehentlich an ihren Zügen hängende Olly zu werfen, wandte sie sich zum Gehen.

Da aber eilte Lisi, die lustige Wienerin, hinter ihr her.

»Fräulein Richter, a Schand wär's, wenn wir das mit anschauen täten, daß das arme Hascherl, die Olly Hildebrandt, die gar nicht mitgetan hat, die von all dem Leckeren kein Bisserl mitgefuttert, die uns lediglich gewarnt hat, jetzt mitbestraft wird!« So rief sie in ihrem Heimatsdialekt, ohne es in ihrer Aufregung zu merken.

»Das ist brav, Lisi, daß wenigstens Sie der Wahrheit die Ehre geben!« Fräulein Richter blickte wieder so freundlich wie sonst. Sie trat zu der befreit aufatmenden Olly und drückte ihr die Hand.

»Ich habe mich doch nicht in dir getäuscht!« sagte sie leise in warmem Ton auf Deutsch. Zum erstenmal gab sie ihr das erbetene »du«. Das war die schönste Rechtfertigung für Olly.

Bald lag das Schweizerhäuschen wieder so still und verschlafen da, als ob nicht vor kurzem noch lustiger Mädchenspuk darin sein Wesen getrieben. Und der Mond machte ein so dummes Gesicht, als hätte er das alles nur geträumt. Ach – auch die Mädchen wünschten am anderen Morgen, daß es nur ein böser Traum gewesen wäre. Wenn erst Madame Pierre von der Geschichte erfuhr, setzte es was ab.

Aber die erwartete Strafpredigt beim gemeinsamen Frühstück blieb aus. Nun, so kam sie mittags – wenigstens eine Galgenfrist! Die Mädel wagten heute in ihrem Schuldbewußtsein kaum aufzublicken, ihre Arbeiten vollführten sie mit grenzenlosem Eifer.

So oft die Vorsteherin bei der Mittagstafel das Wort ergriff, duckten sich elf Mädchenköpfe. »Jetzt kommt's – jetzt geht's los!« fürchtete eine jede.

Doch Madame Pierre war freundlich wie stets, nichts erfolgte. Sollte »la petite« so anständig gewesen sein und Schweigen über die Angelegenheit bewahrt haben?

Nach Tisch ließ Fräulein Richter die Sünderinnen auf ihr Zimmer rufen.

»Olly Hildebrandt hat heute morgen für euch gebeten, daß ich der Vorsteherin keine Mitteilung über die gestrige Ungehörigkeit mache. Bei ihr mögt ihr euch bedanken, wenn ihr diesmal so davonkommt. Ich habe lediglich Madame Pierre ersucht, einen Wechsel in der Zimmerverteilung vornehmen zu dürfen.« Lange Gesichter.

»Madeleine wird künftig das Zimmer mit Miß Pinshes teilen, Senta zieht zu mir. Olly mag mit Lisi von nun an zusammenhausen«, fuhr Fräulein Richter fort. »Ich denke, daß auf diese Weise derartige heimliche Übergriffe vermieden werden, und daß sich jede bemühen wird, mich diesen wenig erfreulichen Vorfall vergessen zu machen.«

Die Zöglinge bedankten sich erleichtert, auch Senta und Madeleine. Wenngleich diese fürchterliche Grimassen schnitten, daß sie jetzt unter Aufsicht einer Lehrerin gestellt wurden. Das war eine große Veränderung im Pensionsleben. Aber es folgte noch eine zweite.

Die Mädchen, die bisher zu Senta gehalten und sich um Olly wenig gekümmert hatten, wußten seit gestern den wahren Wert der beiden Schwestern richtig einzuschätzen. Man verurteilte allgemein Sentas Benehmen und fand, daß Olly unglaublich anständig gehandelt. Voll Dankbarkeit wandte man sich allgemein ihr zu.

Olly empfand das freundliche Entgegenkommen der Pensionsschwestern mit innerer Glückseligkeit. Wie ein verkümmertes Pflänzchen, das man aus kaltem Schatten plötzlich in den warmen Sonnenschein verpflanzt, blühte sie auf. Innerlich und äußerlich. Fräulein Richter brauchte nicht mehr darüber den Kopf zu schütteln, daß sie Olly niemals lachen gehört. Ihre Stimme und ihr Lachen klang jetzt so jugendfroh wie das der Altersgenossinnen. Das Zusammenwohnen mit der heiteren Wienerin zeigte sich besonders vorteilhaft für das frühernste Mädchen. Von Lisi lernte Olly es, jung zu sein.

Jetzt ging es nicht mehr stumm auf Zimmer 12 zu. Da wurde geschwatzt und gelacht, Olly lernte nun erst den Reiz des Pensionslebens kennen.

Und noch manches andere lernte Olly von der feschen Wienerin, die trotzdem nicht eitler war, als wie es ein niedliches, siebzehnjähriges Mädchen sein darf. Sie lernte eine Schleife zierlich binden, Wert auf einen geschmackvollen Anzug legen, unterscheiden, was kleidsam und was unvorteilhaft für sie war, und vor allem ihr schönes, schwarzes Haar netter frisieren. Jetzt trug Olly Hildebrandt nicht mehr ihr Haar straff aus der Stirn gestriegelt, jetzt konnte Senta nicht mehr vor ihr behaupten, sie sähe wie ein abgeknabberter Knochen aus. Schlicht gescheitelt umschmiegte das reiche, tiefschwarze Haar in weichen Wellen das schmalgeschnittene Gesicht, im Nacken zu vollen Zöpfen aufgenestelt.

Freilich, dem Spiegel hatte sie nach wie vor Feindschaft geschworen. Sie war von Hause aus so daran gewöhnt, stets mit abgewandtem Gesicht an ihm vorüberzugehen, daß sie dies auch hier beibehielt.

An einem heißen Sommertage aber, als die Mädel mit ihren Ruderbooten mal wieder draußen auf dem Genfer See lagen, beugte sich Olly von ungefähr über den Rand des kleinen Nachens. Da stutzte sie.

Ja, war denn sie das wirklich und wahrhaftig, das Bild des anmutigen, weißgekleideten jungen Mädchens, das da aus dem kristallklaren Wasserspiegel mit großen, erstaunten Augen sie anstarrte?

Gleich dem häßlichen jungen Entlein, das im Spiegel des Sees plötzlich sein Bild als schönen Schwan erblickt, ward es da auch unserem häßlichen jungen Entlein zumute. Es starrte und starrte.

»Ei, Olly, ist dir die Seejungfrau erschienen, oder schaust du da unten das blaue Kristallreich des Wasserkönigs?« neckte Lisi.

»Ja, ich habe eben in dem Wasser ein Märchen geschaut«, sagte Olly leise, wie traumbefangen.

Zu Hause aber schlich sich das häßliche junge Entlein verstohlen zum Spiegel. Sie schämte sich ein wenig ihrer Eitelkeit, aber sie mußte sehen, ob der Wasserspiegel nicht gelogen habe.

Nein – das war nicht mehr die Olly, die mit mißmutigem Gesicht in der Rokokovilla einhergegangen. Die schwarzen Augen, die mit banger Frage an dem Glas hingen, schauten nicht, wie einst, aus einem gelblich mageren Gesicht. Rosig gerundet hatten sich die Wangen hier in der schönen Luft und der glücklichen Atmosphäre. Der wenig gute Teint war durch das körperliche Besserbefinden klar und rein geworden, Mund und Nase schienen durchaus nicht mehr zu groß für das jetzt vollere Gesicht. Die Augen, die sonst meist trübe in die Welt geblickt, schauten zwar noch ernst, aber man sah es ihnen an, daß sie auch Frohsinn kennen gelernt. Auch die dürren Backfischarme, der magere Körper, waren voller geworden, kein Kleid paßte Olly mehr.

Sie war noch immer keine Schönheit – bewahre – aber doch auch nicht mehr so abschreckend garstig, daß sie sich selbst nicht anschauen mochte. Und noch eins – die Ähnlichkeit mit ihrer verstorbenen Mama kam jetzt geradezu erschreckend zum Ausdruck.

Selbst dem innerlichst veranlagten Menschen gibt das Bewußtsein, äußerlich nicht abstoßend, sondern eher angenehm zu wirken, eine liebenswürdigere Art, ein freieres Auftreten. Bei Olly, deren ganze Verschlossenheit ihren Ursprung in dem niederdrückenden Gefühl ihrer Häßlichkeit hatte, war das mehr als bei jedem anderen der Fall. Selbst Fräulein Richter war oft erstaunt über die Wandlung, die mit Olly vor sich gegangen. Wenn sie an das scheue, bleichsüchtige Mädchen dachte, das da in Hut und Mantel damals am Abendbrottisch erschienen, und es jetzt mit dem frischen, fröhlichen jungen Menschenkind verglich, dem man die Freude an der Arbeit ansah, dann erschien ihr diese Umwandlung fast wie ein Wunder. Mit Recht konnte sie sich den größten Teil an dieser Veränderung zuschreiben. Sie war glücklich darüber, denn sie hatte Olly in ihr Herz geschlossen.

Auch die Pensionsschwestern waren oft ganz erstaunt, wie liebenswürdig die sich in den ersten Wochen so zurückhaltende Gefährtin jetzt zeigte. Olly war nun beliebter, als es Senta je gewesen.

Diese sah es mit heimlichem Neid. Die zweite Geige spielte das verwöhnte junge Fräulein nicht gern. Anstatt sich darüber zu freuen, daß die Schwester eine andere geworden, daß sie nicht mehr abseits vom fröhlichen Kreise stand, ärgerte sie sich heimlich darüber.

Fräulein Richter hatte gute und scharfe Augen. Trotzdem Senta meistens schon schlief, wenn die Lehrerin das gemeinsame Zimmer betrat, tat sie doch manchen Blick in die Seele des ziemlich oberflächlich veranlagten Mädchens. An einem schwülen Augusttage war es. Die Zöglinge der Pierreschen Pension tummelten sich unter Aufsicht von »la petite« in der zum Pensionat gehörigen Badeanstalt, übermütig spritzte man sich mit dem erquickenden Naß. Jubel und Lachen erscholl aus dem grüngestrichenen Bretterhaus.

Den guten Schwimmerinnen war es gestattet, ein Endchen aus dem engen Bassin in den blauen See hinauszuschwimmen. Eine gezogene Leine gab die Grenze, die einzuhalten war, an. Madame Pierre sah streng darauf wegen ihrer Verantwortung für die jungen Mädchen. Senta und Madeleine waren beide tüchtige Schwimmerinnen. Ihrer Unternehmungslust war die Absperrung stets im Wege. Heute hatten sie sich einen besonderen Ulk ausgedacht. Madeleine hatte den Vorschlag gemacht, zu versuchen, heimlich weiterzuschwimmen. Um diese Zeit mußte der von Genf nach Montreux gehende Dampfer vorüberkommen, das gab einen Hauptspaß, wenn sie dem zuwinken würden. Daß dies als unschicklich verboten, erhöhte das Vergnügen nur noch.

Als Fräulein Richter gerade im Gespräch mit einigen Mädchen begriffen, schwammen die beiden unter Wasser geschwind über die Absperrungsleine hinaus.

Weiter, immer weiter! Herrlich war es, so frei und ungebunden in dem weiten, durchsichtig blauen See herumzuplätschern.

Der Dampfer, den sie erwarteten, schien Verspätung zu haben. Sentas Arme begannen zu ermüden. Aber Madeleine wollte durchaus nichts von Umkehr hören.

»Wirf dich auf den Rücken, da kannst du noch stundenlang schwimmen«, riet sie.

Fräulein Richter trieb zur schnellen Heimkehr. Von den Bergen her zog es schwarz auf. Das Gewitter, das man seit einigen Tagen ersehnt, schien mit Schnelligkeit heranzukommen. Sie zählte, wie sie es stets tat, die in die Ankleidezellen Verschwindenden. Zwei fehlten.

Natürlich Senta und Madeleine! Keiner hatte sie gesehen. Die zwei mußten immer etwas Besonderes haben!

Fräulein Richter schritt ungehalten bis zur äußersten Planke des Badestegs. Aber soviel sie auch rief, so scharf sie auch ausspähte, weder Sentas roter, noch Madeleines blauer Badehut wollten sich zeigen. Bleigrau und düster lag der See jetzt unter den sich türmenden Wetterwolken.

Um des Himmels willen – die beiden würden doch nicht weitergeschwommen oder ihnen gar, ohne daß es jemand gemerkt, ein Unglück zugestoßen sein? Fräulein Richter lief in qualvoller Erregung hin und her.

»Senta – Madeleine . . .« Der einsetzende Gewittersturm, der den ruhigen See plötzlich zu weißem Wellengischt aufpeitschte, verschlang ihr angstvolles Rufen. Da stand Olly neben ihr.

Sie hatte mit fliegender Hand die Kleider übergeworfen, jetzt schaute sie ebenso verängstigt wie Fräulein Richter nach der Schwester und der Gefährtin aus.

Da – dort – ganz hinten zwischen zwei Wellen – war das nicht – – Der Sturm schob eine neue Wellenwand dazwischen. Olly sah nichts mehr.

Aber jetzt – als der Wind einen Augenblick Atem schöpfte, jetzt – ja, ganz deutlich sah sie Madeleines blauen Hut, noch in ziemlicher Entfernung, aber er kam näher, Madeleine schwamm in langen Stößen zurück.

Wo aber, wo war Senta?

Vor Aufregung sah Olly jetzt überhaupt nichts mehr. Es flimmerte ihr vor den Augen. Trotzdem verließ ihre Geistesgegenwart sie nicht. Mit fliegender Hand löste sie den Kahn, der stets bereitstand, warf den Rettungsgürtel und Sentas am Geländer hängenden Bademantel hinein, und sprang selbst hinterher.

»Um Gottes willen, Kind, was willst du tun?« Fräulein Richter flog am ganzen Körper.

Olly wies auf den größer und größer werdenden blauen Punkt, Madeleines Badehut.

»Wo Madeleine ist, wird Senta sicher nicht weit sein, ich will ihr entgegenrudern, vielleicht vermag sie nicht mehr zurückzuschwimmen.«

Da teilte ihr Boot auch schon die schäumenden Wellen.

»Olly – Olly – du begibst dich selbst in Lebensgefahr – ich darf dich jetzt beim Gewittersturm nicht hinauslassen . . .« Olly hörte nicht mehr Fräulein Richters entsetzte Stimme.

Der Sturm sang ihr sein schauriges Lied in die Ohren, die Wellen schlugen gierig, opferheischend an das dünne Fahrzeug und warfen es sich hohnlachend wie einen Spielball zu.

Es war unmöglich, eine bestimmte Richtung innezuhalten. Trotzdem bewegte das junge Mädchen, alle Kraft einsetzend, unermüdlich die Ruder. Zwei Meter kam sie vorwärts, einen wurde sie wieder von den Wellen zurückgeschleudert. Sie begann das Zwecklose ihrer Mühe einzusehen. In diesen Wellenwirbel hinein, ohne bestimmte Richtung zu rudern, war Wahnsinn.

Aber Senta – barmherziger Gott, Senta?

Die war vielleicht verloren ohne sie, ganz sicher, sonst wäre sie doch an Madeleines Seite gewesen! Wenn sie auch niemals einander nahegestanden hatten, es war doch ihre Schwester, die in Lebensgefahr schwebte! Was galt dagegen das ihr in all den Jahren angetane Weh?

»Papas Liebling . . . Nein, lieber Gott, hilf – nimm mich dafür! Tu Papa nicht den Schmerz an, ihm Senta zu entreißen! Mich wird er leichter entbehren . . .« Wie stummes Gebet durchflog es den jeden Nerv anspannenden Mädchenkörper.

Da – ein bläulichgelber Zickzack über den Wassern – der erste Blitz. Er beleuchtet grell für die Dauer von einer Sekunde etwas Rotes, das unweit auf- und niederwogt. Olly hatte genug gesehen. Das war Senta!

Ihre des Ruderns erst seit kurzem kundigen Arme, die von der gewaltigen Anstrengung zu erlahmen begannen. fühlten sich plötzlich von neuer Kraft durchrieselt. Der Donner einte schaurig seine Stimme mit dem Heulen des Sturmes und dem Tosen der Wellen. Kreischende Möwen flogen, wild mit den Flügeln schlagend, landwärts.

Wieder blendendes, schwefelgelbes Feuer ringsum – sie war der sichtbar in Todesangst mit den Wogen Ringenden ganz nahegekommen. Noch ein paar Ruderschläge – und sie konnte ihr den Rettungsgürtel zuwerfen.

Dreimal entrissen ihn der verzweifelt danach Greifenden die tobenden Wasser. Sie wollten sich ihr Opfer nicht rauben lassen.

Endlich vermochte Senta, die kaum noch ihrer Sinne mächtig war, ihn mit erstarrten Händen festzuhalten. Mit Aufbietung ihrer letzten Kraft versuchte Olly die mit dem Ertrinken kämpfende Schwester zu sich ins Boot zu ziehen.

Vergebens. – Sie war am Rande ihrer Kraft.

War alle Mühe umsonst, sollten sie jetzt, so nahe der Rettung, doch noch beide dem Untergange verfallen sein?

Schrilles Tuten ließ Olly in ihrem vergeblichen Tun innehalten. Der Dampfer – groß und majestätisch rauschte er in unmittelbarer Nähe heran, der verspätete Dampfer nach Montreux.

»Hilfe – Hilfe . . .« das Rollen des Donners übertönte dumpf ihren schwachen Ruf.

Da griff Olly zum letzten Mittel. Sie zog die Ruderstange ein, band Sentas mitgenommenen Bademantel mit bebenden Fingern daran und versuchte ein Notsignal zu geben. Ein Blitzstrahl hatte Mitleid mit den um ihr junges Leben Ringenden. Grell beleuchtete er die weiße Notflagge. Man wurde aufmerksam auf dem Dampfer. Der Kurs ward verändert. Der Dampfer stoppte dicht neben dem schwankenden kleinen Nachen.

Eine Strickleiter wurde herabgelassen. Eiligst kletterte ein Matrose daran herab. Er griff nach der zu dem Rettungsgürtel gehörenden Leine und zog mit markigen Armen die sich darin einkrallende Senta heran.

Es war die höchste Zeit. Trotzdem der Gummigürtel sie über Wasser hielt, ihre Finger wollten dem Lebensdrange nicht mehr gehorchen.

In den Bademantel gehüllt, so wurde die Gerettete auf den Dampfer getragen.

Inzwischen hatte ein anderer die sich kaum noch aufrechthaltende Olly ebenfalls aus ihrem wie eine Schaukel auf- und niedergehenden Fahrzeug befreit und auf den Dampfer befördert. Man bettete die jungen Mädchen auf die Plüschpolster der Salonkajüte, fremde Damen halfen mit Kleidungsstücken aus.

Die Blonde, die zuerst ganz leblos geschienen, kam allmählich wieder zu sich. Aber die Schwarzhaarige schien total erschöpft. Man rieb ihr die Schläfen mit Eau de Cologne und gab ihr feurigen Wein zu trinken. Da schlug auch sie die Augen auf.

»Bitte nach Ouchy – legen Sie bitte in Ouchy an!« das war das erste, was Olly flehentlich hervorstieß, als sie wieder die Lider öffnete. Fräulein Richters sicher grenzenlose Angst und Sorge ließ bei ihr noch keine Freude über die Rettung aufkommen.

In der Badeanstalt standen, mit Ferngläsern bewaffnet, die Pierreschen Pensionärinnen in heller Aufregung. Fräulein Richter, die sonst so Sanfte, stets Gleichmäßige, war nicht zu beruhigen. Sie weinte und klagte ihre eigene Unaufmerksamkeit als Schuld an diesem entsetzlichen Unglück an. Madeleine, welche die ermattete Senta im Stich gelassen und die Badeanstalt selbst glücklich erreicht hatte, stand weinend daneben. Das Bewußtsein, zwei Gefährtinnen dem Verderben preisgegeben zu haben, war selbst für das oberflächliche Mädchen furchtbar.

Da schrien die durch das Fernglas Schauenden plötzlich auf. Sie hatten den neben Ollys Boot haltenden Dampfer erspäht. Aber ob alle beide gerettet waren, vermochten sie nicht zu unterscheiden.

In strömendem Gewitterregen ging es jetzt im Trab, ohne Hut und Mantel, zu der nicht allzu fern gelegenen Dampferanlegestelle. Sie kamen gerade zurecht.

Von hilfreichen Armen gestützt, schwankten die beiden Hildebrandtschen Schwestern, noch immer matt, über die Landungsbrücke.

Wortlos zog Fräulein Richter Olly in ihre Arme, zu sprechen vermochte sie noch nicht. Immer wieder fuhr sie ihr streichelnd über die Wangen, als ob sie es gar nicht glauben könnte, daß sie wahr und wahrhaftig in ihren Armen ruhte. Dann kam Senta heran.

»Böses Mädel!« Aber selbst sie liebkoste Fräulein Richter in ihrer Glückseligkeit. Ein Wagen brachte die Erschöpften schnell nach »Mon repos« zurück, wo man sie sogleich in ihr Bett spedierte.

Diesmal wurde der Vorfall Madame Pierre nicht verschwiegen. Abgesehen davon, daß sich die heldenhafte Tat Ollys herumsprach, hielt es Fräulein Richter für ihre Pflicht, der Vorsteherin sofort von dem Geschehenen Mitteilung zu machen. Ein zweites Mal durften die ihr anvertrauten jungen Mädchen nicht dem unverzeihlichen Leichtsinn Madeleines ausgesetzt sein.

Am Abend dieses aufregenden Tages gingen zwei Briefe ab. Einer in französischer Sprache nach Paris, und ein deutscher nach Berlin. Der erstere war von Madame Pierre, und an Madeleines Vater gerichtet. Die Vorsteherin ersuchte darin Monsieur, seine Tochter, die sowieso zu Oktober das Institut verlassen sollte, sobald als möglich heimzuholen, da das junge Mädchen die Statuten der Pension nicht innehalte, und nicht nur die dortige Disziplin, sondern auch das Leben ihrer Pensionsschwestern gefährdet habe.

Madeleine stand dieser entehrenden Ausweisung durchaus nicht beschämt gegenüber. Im Gegenteil! Sie war froh, so bald die erwachsene junge Dame spielen zu können. Der andere, nach Deutschland gerichtete Brief ging an den Kommerzienrat Hildebrandt. Fräulein Richter hatte ihm geschrieben, ohne den Schwestern davon Mitteilung zu machen. Sie hatte es aus warmem Herzen heraus getan.

Ollys Klage: »Mein Vater hat mich auch nicht lieb!« tönte ihr noch immer im Ohre nach, sie konnte den Jammerlaut nicht vergessen.

Der Vater kannte seine Tochter nicht, dessen war sie sicher. Er ahnte den Gefühlsreichtum, der sich hinter unfreundlichem Wesen verschanzte, überhaupt nicht. Das heutige mutige Handeln Ollys, die das eigene Leben ohne Besinnen zur Rettung der Schwester, die sich ihr gegenüber niemals schwesterlich gezeigt hatte, eingesetzt, hatte die junge Lehrerin aufs neue einen Blick in das selbstlose Herz des jungen Mädchens tun lassen.

Der Vater mußte von Ollys Rettungstat erfahren, um seine Töchter richtig zu beurteilen. In ihrem Herzenstakt fand Fräulein Richter die treffenden Worte für das, was ihr an der Seele lag. Sie erzählte, wie beliebt Olly allgemein in der Pension sei, wie sie selbst das tief veranlagte Mädchen ins Herz geschlossen, und daß sie sich äußerlich und innerlich überraschend entwickelt habe. Zum Schluß berichtete sie, ohne Senta, die von einer Gefährtin angestiftet, die ganze Schuld beizumessen, von dem aufregenden Ereignis. Und wie Olly durch Mut und Selbstlosigkeit die Schwester mit eigener Lebensgefahr gerettet habe.

Aber damit gab sich Fräulein Richter noch nicht zufrieden. Sentas Herz war heute durch die ausgestandene Angst weich wie gelockertes Erdreich. Jetzt war es an der Zeit, den Samen der Schwesterliebe hineinzusäen. Wer mit einem Fuß schon an der Schwelle des Jenseits gestanden, der ist empfänglich für ein ernstes Wort.

Nach dem Abendessen leisteten die Zimmergenossinnen den beiden Schwestern Gesellschaft. Lisi kehrte ihre mutwilligste Laune hervor, um Olly, die immer noch etwas bleich und angegriffen in den Kissen ruhte, aufzuheitern. Fräulein Richter aber sprach ernste, eindringliche Worte zu der schon wieder ganz rosig und vergnügt dreinblickenden Senta. Sie stellte ihr vor, wie Olly unter ihrer Lieblosigkeit die vielen Jahre gelitten, wie sie sich oft nach einem guten Wort der Schwester gesehnt habe. Daß sie dadurch verschlossen und abstoßend geworden und erst in der Fremde davon gesundet sei.

»Sie sind nicht schlecht, Senta, davon bin ich überzeugt,« Fräulein Richter legte die Hand auf den Blondkopf der in Tränen Zerfließenden, »nur äußerlich, leichtsinnig und unbedacht. Der heutige Tag hat Ihnen gezeigt, was Sie an Madeleine haben, die Sie treulos in den Fluten zurückließ, und was an Ihrer Schwester. Das eigene Leben wollte sie für Sie, die das recht wenig um sie verdient hat, opfern. Sie können ihr Ihre Rettung nicht anders danken, als daß Sie das wiedergeschenkte Leben mit dem Vorsatz beginnen, von nun an treu und schwesterlich zu Olly zu stehen!«

»Ich will, Fräulein Richter!« Tief senkte sich der sonst so lustige Blondkopf. Die Worte der Lehrerin waren der leichtsinnigen Senta so nahe gegangen, wie noch nie etwas in ihrem sechzehnjährigen Leben.

Am anderen Morgen, als Olly wieder erfrischt den Frühstückssaal betrat, machte sie erstaunt halt. Die Pensionsschwestern hatten ihr eine Überraschung bereitet. Ihr Platz war ganz und gar mit Rosen geschmückt, weiße, gelbe, rosa, rote, alle Farben. Die Vorsteherin aber sprach einige warme, anerkennende Worte zu ihr und belobte sie wegen ihres Mutes und ihrer Geistesgegenwart.

Olly glaubte, in die Erde sinken zu müssen. Sie, das verachtete, häßliche junge Entlein jetzt von allen geehrt – sie ward glutrot vor Verlegenheit. Zu Senta wagte sie gar nicht hinzusehen, gewiß neidete die ihr wieder den Triumph.

Aber als sie nach dem Frühstück in ihr Zimmer ging, um ihre Schulbücher zu holen, folgte ihr die Schwester. In dem stillen Stübchen schlang sie plötzlich die Arme um die Zusammenfahrende und preßte den blonden Kopf gegen Ollys dunklen.

»Olly, ich weiß, daß ich dir für das, was du gestern für mich getan hast, nicht danken kann, ich will es dir durch die Tat beweisen, wie dankbar ich dir bin. Ich war schlecht zu dir, aber – ich will mich bessern!« so flüsterte sie halb lachend, halb weinend und drückte einen Kuß auf Ollys Lippen. Das war ein anderer Kuß, als der gleichgültige Geburtstagskuß!

Olly wußte nicht, wie ihr geschah. Sie hielt die Schwester in den Armen, und alles Glück, das sich das Schicksal für sie aufgespart, schien sich in diesem Augenblick auf sie herabzusenken.

»Ich bin auch schuld an unserem schlechten Verhältnis gewesen, Senta,« sagte sie weich, »aber wenn wir beide uns nur lieb haben wollen, dann wird es anders zwischen uns!« Die Schwestern schüttelten sich die Hand.

Es war noch nicht genug des Glücks. Wenige Tage später kam ein Brief von Papa, an Fräulein Olly Hildebrandt adressiert.

Papa, der sonst immer nur an Senta schrieb und sie grüßen ließ, richtete jetzt ein eigenes Schreiben an sie!

»Ich habe von Deiner Heldentat erfahren, ich werde noch ganz stolz auf meine Tochter«, hieß es darin. Dann kamen Ermahnungen für Senta, künftighin weniger leichtsinnig zu sein. Und zum Schluß schrieb er noch einmal: »Du bist ein mutiges Mädchen, Olly!«

Nie erfuhr Olly, soviel sie auch fragte, mutmaßte und riet, wessen gütige Hand die Brücke geschlagen hatte zwischen dem Vaterherzen und dem seines Kindes.



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