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Durch eigene Schuld

Pucki warf trotzig den Kopf in den Nacken. Es gefiel ihr gar nicht mehr in Rotenburg. Nach den großen Ferien hatte sie sich vorgenommen, fleißig zu lernen. Als sie aber wegen ihrer vielen kleinen Streiche immer wieder Vorwürfe über ihr Betragen erhielt, erwachte in dem Försterkind der Trotz.

»Wenn mich die Lehrer ärgern, ärgere ich sie auch.«

Entsetzt blickte Carmen das eigenwillige Mädchen an. »Du weißt wohl nicht, was du redest«, mahnte sie. »Du lernst nicht für die Lehrer, sondern für dich. Du wirst Ostern sitzenbleiben, und das ist schlimm. Man muß sich schämen, wenn man sitzenbleibt.«

»Ich mag überhaupt nicht mehr ins Schiller-Gymnasium gehen.«

»Denkst du gar nicht an deine Eltern, die für dich das große Opfer bringen?«

Vergeblich bemühte sich Carmen, Puckis Lerneifer anzuspornen. In der Schule war Hedi unaufmerksam und erhielt manchen Tadel. Die Folge war, daß das Herbstzeugnis wenig gut ausfiel. Besonders Fleiß und Aufmerksamkeit wurden gerügt, und Carmen schaute traurig auf das schlechte Zeugnis der Schulgefährtin.

Auch Pucki schämte sich, mit dem schlechten Zeugnis nach Hause zu kommen. Claus hatte gerade in seinem letzten Brief geschrieben, er hoffe, daß sie ein gutes Zeugnis mitbrächte.

Das war nicht der Fall. Pucki hatte Gewissensbisse. Wenn sie wirklich Ostern sitzenblieb, würde sie der große Claus nicht mehr liebhaben.

Die Oktoberferien waren nicht nach Puckis Geschmack. Erst kamen die Ermahnungen der Eltern, darauf die des Oberförsters, und sogar der Schmanzbauer meinte, daß es Puckis Pflicht sei, fleißig zu lernen.

Die Ferien gingen rasch vorüber, und Pucki kehrte zu Tante Grete zurück. Da sie sah, daß die Eltern durch ihre Trägheit recht betrübt waren, faßte sie wieder einmal den Vorsatz, fleißiger zu sein. Aber schon in den ersten Tagen machte sie bei einer Arbeit so viele Fehler, daß sogar Studienrat Altmann dem Kinde ernstliche Ermahnungen zuteil werden ließ.

»Wenn mich keiner mehr mag«, sagte das Kind, »hat es keinen Zweck, zu lernen.«

Tante Grete ermahnte Pucki mit liebevollen Worten, und auch Carmen bemühte sich, die Freundin nach dieser Richtung hin zu ändern.

»Welch trauriges Weihnachtsfest würde es für deine lieben Eltern sein«, sagte eines Tages Tante Grete, »wenn du den Bescheid heimbringen müßtest, daß deine Versetzung gefährdet ist. Deine liebe Mutter würde bitterlich weinen.«

Daran glaubte Pucki nicht. Die Mutter würde zwar schelten, aber nicht weinen.

So vergingen die Wochen. Es wäre Pucki ein leichtes gewesen, in der Schule mitzukommen. Sie war außerordentlich begabt, aber leider viel zu zerstreut und zu gedankenlos.

In diesem Jahr zog der Winter überraschend früh ins Land. Schon Mitte November gab es den ersten Schnee, und bald setzte strenger Frost ein. Die Schüler und Schülerinnen des Gymnasiums holten die Schlittschuhe hervor, weil man in Rotenburg gute Gelegenheit zum Eislaufen hatte. In der Nähe des alten Stadttores war ein großer Teich, auf dem sich in jedem Winter die Rotenburger Jugend tummelte.

Pucki sehnte dieses Vergnügen herbei. Sie war schon immer eine gute Schlittschuhläuferin gewesen. Mit Leichtigkeit zog sie die Bogen, machte Kreise auf dem Eis und wurde oftmals bewundert. So ging sie gerne zum Eislaufen.

Tante Grete aber wurde energisch. »Erst die Schularbeiten, dann das Vergnügen«, sagte sie ernsthaft. »Du wirst von nun an immer gemeinsam mit Carmen arbeiten. Tust du es nicht, darfst du nicht hinaus auf den Teich.«

So mußte Pucki sich fügen. Widerstrebend lernte sie, aber trotzdem versagte sie nach wie vor in der Klasse, weil alle ihre Gedanken auf der Eisbahn weilten. Sie hatte von einem Sekundaner ein Buch bekommen, in dem allerlei Figuren aufgezeichnet waren, die man auf dem Eise ausführen konnte. In diesem Buch las das Kind viel öfter als in den Schulbüchern. Während Pucki auf der Schulbank saß, drehte sie die Füße nach rechts und links und probierte in Gedanken alle die Wendungen, die man mit dem Schlittschuh machen mußte, um diese oder jene Figur zu erzielen. So wurden ihre Leistungen in der Schule immer schlechter.

Wenn Pucki auf dem Eise war, strahlten ihre blauen Augen, dann fand sie Rotenburg wunderschön. Solch einen herrlichen Teich zum Eislaufen hatte Rahnsburg nicht. An diesem Teich stand eine Holzbude. Dort gab es Nußstangen, warmen Kaffee, Tee und Glühwein. Die Primaner kauften sich mitunter ein Glas Glühwein; Pucki trank auch hin und wieder eine Tasse Kaffee und kam sich recht groß dabei vor, wenn sie auf der Holzbank saß und das warme Getränk schlürfte. Des öfteren wurde sie auf der Eisbahn von den Tertianern oder den Sekundanern aufgefordert, mit ihnen zu laufen, weil sie ihre Sache so gut machte.

»Du hast eine fabelhafte Begabung für das Eislaufen«, sagte eines Tages ein Rotenburger Junge zu ihr, »vielleicht wirst du noch mal eine Eiskünstlerin. Dann müßtest du allerdings an jedem Tage viele Stunden üben.«

»Das geht nicht«, erwiderte Pucki seufzend, »ich muß zu viel für die Schule lernen.«

Am allerschönsten aber war es auf der Eisbahn, wenn die Leierkastenfrau da war und den Leierkasten drehte. Nach dem Walzer, den sie spielte, konnte man richtig auf dem Eise tanzen. Da die Primaner der alten Frau öfters Geld gaben, nahm auch Pucki von ihrem Taschengeld einige kleine Münzen mit und reichte sie der alten Frau.

»Ach, bitte, spielen Sie noch einmal den Walzer.«

Mit der alten Frau freundete sich Pucki bald an. Wenn sie sich vom Laufen ein wenig ausruhte, stellte sie sich neben die alte Frau, ja, mitunter drehte sie sogar selber einmal ein Stücklein. Oh, das machte viel Freude!

»Sie haben es gut«, sagte Pucki. »Es macht Ihnen gewiß viel Spaß, all den Leuten zuzusehen.«

»Traurig ist es«, sagte die Frau. Es klang sehr kläglich.

»Warum ist es traurig?« forschte Pucki.

»Seit vielen Jahren stehe ich in jedem Winter an diesem Teich und drehe den Leierkasten. Ich sehe die Jugend, wie sie heranwächst. Da wird einem das Herz so schwer. Die Gedanken kommen und gehen. Wer kennt die Zukunft dieser Kinder?«

Mit großen, erstaunten Augen schaute Pucki zu der seltsamen Frau empor. Wie ihre Stimme zitterte.

»So habe ich mich auch getummelt. Sonnenhell lag die Zukunft vor mir. Ich hatte gute, liebe Eltern. Ich habe ihnen viel Kummer gemacht. Ach, du gutes Kind, möge der liebe Gott dich beschützen!«

»Geht es Ihnen schlecht?« fragte das Försterkind bang.

Zeichnung Kirchbach

»Durch eigene Schuld! Nur durch meine Schuld. Und wenn ich hier in jedem Winter frierend den Leierkasten drehen muß, um mir etwas zu verdienen, damit ich nicht hungere, so ist das alles meine Schuld. Ich hätte es ganz anders haben können.«

»Warum war es Ihre Schuld?«

Die Alte wies mit zitternden Händen auf die fröhlichen Eisläufer. »Als ich so alt war wie diese Kinder hier auf dem Eis, da habe ich es meinem Vater nicht geglaubt, wenn er mich immer wieder ermahnte: Lerne, mein Kind, sonst wird nichts aus dir. Ach, ich hab' es nicht geglaubt. Auch auf die Lehrer habe ich nicht gehört, die es so gut mit mir meinten.«

Pucki senkte den Kopf. Sie dachte daran, daß sie gerade heute wieder einen Verweis wegen ihrer Trägheit von Doktor Buschkamp erhalten hatte.

»Ich dachte an allerlei törichte Streiche«, fuhr die Leierkastenfrau fort. »Dabei hatte ich an meinem Vater ein so schönes Beispiel. Sein ganzes Leben war Mühe und Arbeit. Für seine Kinder arbeitete er vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Nichts wurde ihm zuviel. Und die Mutter hielt alles zusammen und weinte oft über mich, weil ich so faul war.«

Pucki wurde das Herz schwer. Auch sie wußte, daß die Mutter für sie arbeitete und schaffte und daß der Vater sein verdientes Geld hergab, um Pucki auf der höheren Schule recht viel lernen zu lassen.

»Nichts habe ich gelernt, auch im späteren Leben nicht. Ich habe zu nichts Lust gehabt«, sagte die Leierkastenfrau. »Ach, daß ich auf die Eltern gehört hätte. Sie starben mir. Da stand ich allein! Ohne Liebe! Aber nun war es zu spät.«

Sie begann wieder zu drehen. Mit gesenktem Kopf schlich Pucki davon. Die Worte der Alten tönten noch in ihrem Ohr: »Nun war es zu spät!«

Die Freude am Eislauf war ihr für heute vergangen. Immer wieder mußte sie zu der Alten hinblicken, die sich in den Pausen fest in ihr großes graues Tuch wickelte und den Atem in die Hände blies, um sie zu erwärmen.

»Komm, Pucki, wir wollen mal zusammen um den Teich laufen!« Es war Hans Rogaten, der plötzlich neben ihr stand.

»Ich – wollte heimgehen. Ich – hab' noch – zu lernen!«

Hans Rogaten lachte. »Du willst lernen? Aber einmal kannst du doch noch mit mir laufen.«

»Gut«, sagte Pucki, »aber nur einmal um den Teich herum.«

Da flogen sie auch schon beide davon.

»Jetzt ist es genug, Hans. Ich schnalle ab.«

»Ich bleibe noch!«

»So? – Nun, ich muß heimgehen.«

Das Kind ließ sich nicht länger halten. Es winkte, als es die Eisbahn verließ, zu der Frau hinter dem Leierkasten hinüber.

Daheim nahm Pucki die Schulbücher zur Hand. Es war gut, daß Carmen nicht da war, sie hätte sich sicher gewundert.

»Ich will nicht, daß ich durch eigene Schuld einmal den Leierkasten drehen muß. – Oh, es ist schrecklich!«

Am nächsten Sonnabend fand sich Oberförster Gregor ganz unerwartet in Rotenburg ein. Jubelnd eilte Pucki auf ihn zu.

»Kommst du uns abholen, Onkel Oberförster?«

»Meinen Eberhard, nicht dich.«

»Mich nicht – –?«

»Nein, mein Kind. Vor wenigen Tagen ist ein Brief vom Schiller-Gymnasium an deine Eltern gekommen. Deine Lehrer beklagen sich über deine Faulheit. – Pucki, Pucki, was soll einmal aus dir werden! Du bist nun elf Jahre alt, du müßtest dir endlich sagen, daß ein Kind lernen muß, wenn es im Leben vorwärts kommen will. Deine kleine Schwester Waltraut ist die Beste in der Klasse, und du – bist faul. Wir haben dich alle herzlich lieb, doch du lohnst uns unsere Liebe durch Trägheit. Das schmerzt mich, mein Kind.«

»Was hat denn die Schule den Eltern geschrieben?«

»Ich weiß es nicht«, klang es ernst zurück, »aber deine Mutti und dein Vater waren sehr traurig.«

»Nimmst du mich wirklich heute nicht mit?« fragte Pucki weinend.

»Nein, mein Kind.«

Oberförster Gregor und sein Sohn Eberhard fuhren ab. Kein Klagelaut war über die Lippen des Kindes gekommen, nur das Gesicht war auffallend blaß, und in den Augen stand eine grenzenlose Trauer.

»Ich will nicht durch eigene Schuld ein schlechtes und dummes Mädchen werden. – Mutti und Vati, ihr sollt viel Freude an eurer Pucki haben!« gelobte sich das Kind in dieser ernsten Stunde.

Als Carmen ahnungslos das Zimmer betrat, erschrak sie über Puckis ernstes Gesicht.

»Was fehlt dir?« fragte sie erschrocken.

»Hast du mich noch lieb, Carmen?«

»Freilich habe ich dich lieb.«

»Jetzt weiß ich, was ich tun muß. – Ach, warum habe ich's nicht schon früher geglaubt, daß man lernen muß, um weiterzukommen.«

Carmen wußte sich das Verhalten der Freundin nicht zu erklären, und ihre Verwunderung stieg noch mehr, als Pucki am nächsten Tage in der Klasse sehr still und aufmerksam war und manche gute Antwort gab. Kein Tadel brauchte heute über sie ausgesprochen zu werden. Am Nachmittag machte sie sich ohne Widerrede an die Schularbeiten und lernte mit Carmen alle Aufgaben gewissenhaft. Heute brauchte Pucki sogar längere Zeit zur Erledigung ihrer Hausaufgaben als Carmen.

»Heute hast du gelernt, Pucki, man wird sich in der Schule darüber freuen.«

»Daheim auch«, klang es leise zurück. »Mutti wird sich freuen, wenn sie hört, daß ich gut gelernt habe.«

Der Brief, der an einem der nächsten Tage von den Eltern Hedi Sandlers eintraf, bereitete dem Kinde neues Herzweh. Die Ermahnungen waren nicht streng, aber durch jedes Wort klang tiefe Trauer.

Von nun an lernte Pucki gewissenhaft. Wohl ging sie hin und wieder noch auf die Eisbahn, und die Leierkastenfrau wurde mehrmals mit einem kleinen Geldstück beschenkt, doch sprach das Kind nicht mehr mit ihr. Eine seltsame Scheu hielt sie von der Alten fern. Vielleicht empfand sie Scham darüber, daß sie ebenso träge gewesen war wie diese Frau in ihren jungen Jahren.

Im Gymnasium merkten die Lehrer bald die Veränderung, die mit dem Försterkinde vorgegangen war. Der kleine Mund plauderte nicht mehr darauflos, und Pucki neckte auch nicht mehr die Mitschüler und -schülerinnen.

»Du machst uns in den letzten Tagen große Freude, Hedi«, sagte Studienrat Altmann. »Wenn ich wieder einmal in euren Wald komme, werde ich dem Onkel Oberförster sagen, daß ich mit dir jetzt recht zufrieden bin.«

Pucki schloß für Sekunden die blauen Augen. Es war das erstemal, seit sie das Schiller-Gymnasium besuchte, daß einer der Lehrer ihre Leistungen lobte. – Man war mit ihr zufrieden. Noch vor kurzem wäre ihr solch ein Lob ebenso gleichgültig gewesen wie ein ausgesprochener Tadel. Doch nun war ihr eine Welt aufgegangen. Sie wußte, daß man im Leben nicht vorwärts kam, wenn man nicht lernte.

Welches Glück bereiteten ihr die Worte des Lehrers. Wenn doch die Eltern diesen Ausspruch gehört hätten! Ob sie es ihnen schreiben sollte? Die gute Mutter würde gewiß Freude darüber haben. In diesem Augenblick nahm sie sich fest vor, von nun an immer brav zu lernen, damit sie auch von den anderen Lehrern hörte, daß sie mit ihr zufrieden waren. Zu Weihnachten gab es leider keine Zeugnisse, nur diejenigen Kinder, deren Versetzung in Frage gestellt war, bekamen eine entsprechende Nachricht für die Eltern mit. – Ob sie wohl zu denen gehören würde? Ob sich durch Fleiß nachholen ließ, was bisher versäumt worden war?

Wie leicht wurde ihr doch das Lernen. Andere Mitschülerinnen mußten sich sehr quälen, um das zu begreifen, was die Lehrer erklärten. Pucki begriff alles sofort und behielt es auch.

Das Lob, das sie heute bekommen hatte, klang noch lange in ihrem Herzen nach. Nun wollte sie Studienrat Altmann nicht mehr enttäuschen und auch weiterhin für ihn gut lernen.

Das Lernen machte wirklich Freude. Bisher hatte Pucki das noch nicht erkannt. Es war viel schöner in der Schule, wenn man auf alle Fragen eine Antwort wußte.

Frau Perler hatte keine Ursache mehr, Pucki Vorwürfe zu machen. Gleich nach dem Mittagessen ging Pucki in ihr Zimmer, und dort wurde sorgfältig geschrieben, gerechnet und gelernt. Als dann auch Doktor Buschkamp eines Tages Pucki ein Lob zollte, schrieb das Försterkind aus übervollem Herzen an die Eltern und an Claus einen Brief, in dem es ihnen berichtete, was man zu ihr gesagt hatte.

Von der Mutter kam sehr bald eine Antwort.

»Dein letzter Brief hat mich sehr erfreut, Pucki. Mir ist heute ordentlich leicht ums Herz. Hoffentlich hält Dein Fleiß an, und Du wirst bis zu den Weihnachtsferien noch öfter gelobt werden. Das schönste Geschenk, das Du Deinen Eltern machen könntest, wäre die Nachricht, daß Deine Lehrer mit Dir zufrieden sind und Du Aussicht hast, im nächsten Jahr nach der Quinta zu kommen. Das wäre für uns die schönste Weihnachtsfreude.«

»Ich mache den Eltern diese allerschönste Freude«, rief Pucki und nahm sogleich noch einmal das Lesebuch zur Hand. »Die Mutter wird sich über die Decke, die ich ihr sticke, gewiß nicht so sehr freuen, als wenn ich ihr sagen kann, daß ich ein fleißiges Mädchen bin.«

Pucki eiferte mit Carmen im Lernen um die Wette. Die Schulstunden vergingen ihr wie im Fluge. Oh, es machte ihr nun viel Freude, ins Gymnasium zu gehen. Das Aufstehen am Morgen hatte plötzlich seine Schrecken verloren. Auch die Hefte sahen nicht mehr so unordentlich aus wie früher. Sie bemühte sich, ihre Bücher sauber zu halten, denn auch deswegen war sie früher von Fräulein Papst häufig getadelt worden.

So rückten die Weihnachtsferien immer näher heran. Da war wieder einmal eine deutsche Stunde, in der Pucki durch ihr gründliches Wissen alle Kinder übertraf.

»Ich habe immer geglaubt«, sagte Doktor Buschkamp, »daß wir mit dir noch Sorgen haben würden, Hedi Sandler, seit einigen Wochen bereitest du uns allen aber große Freude. Bleibe auch weiterhin so fleißig, damit du im Leben etwas erreichst.«

Nach der Stunde ging Pucki zu ihrem Lehrer und sagte schüchtern: »Ich habe eine große Bitte, Herr Doktor.«

»Na, was denn?«

»Ich habe ein Poesiealbum. Alle meine Freundinnen haben schöne Verse hineingeschrieben. Sind Sie wohl auch so gut, Herr Doktor, und schreiben mir etwas hinein? Ich möchte auch Herrn Studienrat Altmann und Fräulein Papst darum bitten.«

»Gewiß, Hedi, ich will dir gern einige Zeilen hineinschreiben. Bringe mir das Buch morgen mit.«

Am nächsten Tage gab Pucki Herrn Doktor Buschkamp das Poesiealbum, und noch am selben Tage schrieb er folgendes hinein:

»Arbeit und Fleiß sind niemals eine Last,
Sie sind das Beste unseres ganzen Lebens.
Ein jeder, der die Arbeit scheut und haßt,
Der lebt auf dieser Erde hier vergebens.

Die schönsten Früchte bringt hervor der Fleiß,
Dadurch kommt jedermann im Leben weiter,
Drum sei die Arbeit deines Lebens Preis,
Denn sie alleine macht dich froh und heiter.«

Doktor Buschkamp gab das Album an seinen Kollegen Altmann und an Fräulein Papst. Auch sie schrieben Verse ins Album. Fräulein Papst, die wohl ahnte, worauf es ankam, schrieb:

»Wer lustigen Mut zur Arbeit trägt,
Und rasch die Arme stets bewegt,
Sich durch die Welt noch immer schlägt.
Mit frohen Segeln munter,
Fährt der Frohe das Leben hinunter.

Meiner fleißigen Pucki

zum Andenken an ihre Lehrerin

Ilse Papst.«

Auch Tante Grete bekam das Poesiealbum. Sie schrieb nur wenige Zeilen hinein:

 

»Weiter auf dem eingeschlagenen Wege, er führt dich zum Erfolg. In herzlicher Liebe

deine Tante

Grete Perler.«

 

Pucki drückte das Album selig ans Herz. Sie würde es den Eltern zeigen, die gewiß ihre helle Freude daran hatten. Eberhard würde in der Oberförsterei berichten, daß sie jetzt fleißig lernte. Und wenn sie nach den Weihnachtsferien wieder nach Rotenburg zurückkehrte, würde sie alles tun, damit die Versetzung glatt von statten ginge. – –

Schulschluß! – Carmen war wieder zu ihrer Freundin Ellen Krieger eingeladen worden. Pucki reiste mit glücklichen Gefühlen heim. Wieviel zufriedener war sie heute, als damals im Oktober, als sie ein so schlechtes Zeugnis mit nach Hause brachte. Gestern noch hatte ihr Studienrat Altmann gesagt, sie solle die Eltern von ihm grüßen und ihnen sagen, daß er in den letzten Wochen viel Freude an ihr gehabt hätte, weil sie eine fleißige Schülerin geworden sei.

Nun war sie wieder daheim! Sie forschte im Gesicht der Mutter. Sie sah keine traurigen Augen, die lieben grauen Sterne strahlten ihr entgegen.

»Mutti, Vati – wißt ihr, was Herr Studienrat Altmann sagte und auch die anderen Lehrer? Ich bin fleißig geworden, ich habe ihnen Freude gemacht! – Ach, Mutti, es ist gar nicht mehr schlimm in Rotenburg. Es macht so viel Spaß, wenn man in der Schule alles weiß. Ich gehe jetzt gern in die Schule!«

Frau Sandler legte beide Arme fest um ihr Töchterchen und drückte es so an sich, daß das kleine Mädchen kaum Luft bekam.

»Freust du dich?« fragte Pucki, als sie die Mutter wieder los ließ.

»Mein liebes Mädchen, ein schöneres Weihnachtsgeschenk konntest du deinen Eltern nicht bringen. An Waltraut haben wir unsere helle Freude, weil sie gut lernt, nun scheinst auch du ein fleißiges Mädchen geworden zu sein. Ach, Pucki, wie glücklich machst du uns.«

Pucki hätte jubeln und singen können. Noch nie schien ihr das Gesicht der Mutter so geleuchtet zu haben wie heute. Sie brachte das Album herbei.

»Sieh mal, Mutti, was man mir eingeschrieben hat. Und so soll es auch bleiben:

Arbeit und Fleiß sind niemals eine Last,
Sie sind das Beste unseres ganzen Lebens.
Ein jeder, der die Arbeit scheut und haßt,
Der lebt auf dieser Erde hier vergebens.

Ich will aber nicht vergebens leben, Mutti, ich werde fleißig sein, damit du nie wieder über mich traurig zu sein brauchst. – Ach, Mutti, als mir der Onkel Oberförster das sagte – – habe ich es nicht mehr ausgehalten, da hat mir das Herz so weh getan.«

»Meine liebe, brave Pucki, meine fleißige Pucki! Wie schön, daß ich das heute auch von dir sagen kann.«

Zeichnung Kirchbach

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