Leo Tolstoj
Die Kreutzersonate
Leo Tolstoj

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III

Nun, so will ich Ihnen also erzählen . . . Es ist Ihnen doch recht?«

Ich versicherte nochmals, daß es mir sehr recht sei. Er schwieg eine Weile, fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und begann:

»Wenn ich schon davon erzähle, so muß ich alles von Anfang an erzählen: ich muß erzählen, wie und weshalb ich heiratete und wes Geistes Kind ich vor meiner Heirat gewesen bin.

»Ich lebte vor meiner Heirat so, wie alle – d. h. alle, die zu unserem Gesellschaftskreise gehören – zu leben pflegen. Ich bin Gutsbesitzer, Kandidat der Universität und war Adelsmarschall. Ich lebte bis zu meiner Heirat wie alle leben, d. h. ich gab mich Ausschweifungen hin und war überzeugt, daß ich ein ganz normales Leben führe. Ich hielt mich für einen lieben Jungen und einen durchaus moralischen Menschen. Ich war kein Verführer, hatte keine unnatürlichen Neigungen und machte den Sinnengenuß nicht zum Hauptziel meines Lebens, wie das so viele meiner Altersgenossen taten, sondern gab mich der Ausschweifung mit Maß, auf anständige Art, um der Gesundheit willen hin. Ich ging solchen Frauen aus dem Wege, die mich durch die Geburt eines Kindes oder durch allzu große Anhänglichkeit an meine Person hätten fesseln können.

»Übrigens, vielleicht waren Kinder da, und vielleicht war auch gelegentlich eine größere Anhänglichkeit vorhanden, doch ist stellte mich so, als ob nichts davon da wäre. Und das hielt ich nicht nur für moralisch, sondern ich bildete mir gar etwas darauf ein . . .«

Er hielt inne und gab seinen Laut von sich, wie er immer zu tun pflegte, wenn ihm offenbar ein neuer Gedanke durch den Kopf ging.

»Darin liegt ja gerade die Hauptgemeinheit«, schrie er auf. »Die Ausschweifung beruht nicht auf irgend etwas Physischem – physische Unanständigkeit ist bei weitem noch keine Ausschweifung; die Ausschweifung besteht gerade darin, daß der Mann sich von jeglicher moralischen Beziehung zu der Frau, mit der er in physischen Verkehr tritt, für frei hält. Und eben diese Selbstbefreiung rechnete ich mir sogar zum Verdienst an. Ich erinnere mich, welche Qual es mir bereitete, als ich einstmals einer Frau, die sich mir wahrscheinlich aus Liebe hingegeben hatte, kein Geld hatte geben können und wie ich mich erst beruhigte, als ich ihr eine gewisse Summe übersandt und damit zu verstehen gegeben hatte, daß ich mich nunmehr ihr gegenüber in keiner Weise für moralisch gebunden erachte . . . Nicken Sie nicht mit dem Kopfe, als wenn Sie mir beistimmten!« schrie er mich plötzlich an. »Ich kenne diese Mätzchen. Wir alle, und auch Sie, wenn Sie nicht eine seltene Ausnahme bilden, haben bestenfalls dieselben Ansichten, die auch ich damals hatte. Nun, gleichviel, nehmen Sie es mir nicht übel,« fuhr er fort, »aber die Sache ist eben die, daß das alles so entsetzlich, entsetzlich, entsetzlich ist!«

»Was ist so entsetzlich?« fragte ich.

»Dieser Abgrund der Verirrung, worin wir hinsichtlich der Frauen und der Beziehungen zu ihnen dahinleben. Nein, ich vermag davon nicht ruhig zu sprechen – nicht darum, weil mir diese ›Episode‹, wie jener Herr sich ausdrückte, zugestoßen ist, sondern weil mir seit der bewußten Episode die Augen aufgegangen sind und ich alles in einem völlig neuen Lichte sehe. Alles umgekehrt, alles umgekehrt!«

Er zündete sich eine Zigarette an, stützte die Ellbogen auf die Knie und begann aufs neue.

In der Dunkelheit konnte ich sein Gesicht nicht sehen, sondern hörte nur durch das Rütteln des Wagens seine eindringliche, wohlklingende Stimme.


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