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V.

In die altersgrauen Gassen von Bern fiel der erste Schnee. Und das war gut. Die weiße Decke auf dem Fahrdamm, den damals noch keine Tramgeleise zerschnitten, 74 warf endlich nach langen trüben Tagen wieder ein helleres Licht in die Schaufenster. Ein fast wohliges Wintergefühl kam die Leute an, so daß sie ganz fröhlich dreinschauten, wenn sie stampfend unter die Laubenbogen kamen und den dichten Flockenbelag von den Überziehern schüttelten. Das allein war’s aber durchaus nicht, was dem angeschwärmten Pfarrer Jeanmaire einen Ausdruck verlieh, als könnte er nur mit der äußersten Anstrengung ein Herausplatzen verhüten. Sammlung suchend, eilte er trotz dem Schneewetter vor die Stadt hinaus, in eine der einsamen Alleen, sei es, um sich ungesehen auslachen zu können oder um sonstwie wieder in eine ernstere Stimmung zu kommen, denn so konnte er keine seelsorgerlichen Besuche machen, geschweige denn Unterweisungs­stunde halten. Er kam aus der Winterwohnung des Herrn Scipio von Guldwang. Ja, erst Anfang Dezember war’s, und doch hatte der alte Herr, der sonst immer erst auf Neujahr in die Stadt kam, seinen Dachsbau, wie er die behagliche Wohnung an der Kramgasse nannte, bereits bezogen. Die einen hielten das für ein sicheres Anzeichen des unmittelbar bevorstehenden Verkaufs von Prankenau, die andern glaubten, Herr Scipio bedürfe regelmäßiger Behandlung durch einen Spezialisten. Er, der ungehorsamste Patient, den es gab, der alle Arzneiflaschen mit einer boshaften Aufschrift uneröffnet in einem Schrank sammelte, ließ die Leute in diesem Glauben. Und der Verkauf? — Nun ja, er war entschlossen, ein 75 vorteilhaftes Angebot anzunehmen; aber auf das erstbeste hatte er nicht nötig, hereinzufallen. Ein kleinwenig — das hatte er nun schon herausgefühlt — war ihm eben der alte Familiensitz doch ans Herz gewachsen, und was fing er mit Frau Dorothea an, wenn er sie nicht mehr mit diesem Damoklesschwert bedrohen konnte? Mit dem Schloß würde er auch dieses Fleckchen Sonnenschein einbüßen. O nein, was ihn bewog, seinen Aufenthalt in der Stadt auszudehnen, war nichts anderes als die Große Sozietät, wo er täglich sein Spielchen machen konnte und allerhand Neuigkeiten zu hören bekam. Gegen diese Annehmlichkeiten nahm er schon die paar Schrullen der schönen Nichte in Kauf, um so mehr, als er das Gefühl hatte, es könne ja nichts schaden, wenn etwas für sein Seelenheil geschähe. Persönlich wollte er dabei tunlichst unbeteiligt bleiben, und er wußte nur zu gut, daß er das Heil nirgends in angenehmerer Form sich aneignen konnte als durch Vermittlung der Frau Dorothea, die fast jeden Tag bei ihm anrückte, ihn von Kopf zu Fuß musterte, ihm die Krawatte band, den Rockkragen bürstete, mit einem benzingetränkten Lappen die Spuren unachtsamen Essens auf seinen Kleidern beseitigte und dazu mit ihren rosigen Lippen so herzerquickend schmählte und bei aller Tugendhaftigkeit gar keine Wattepfropfen gegen seine saftigsten Bonmots in ihren lieblichen Öhrchen hatte. Sie wies zwar — das muß man sagen — die abscheulichen Geschichtchen immer mit Entrüstung zurück; aber es fiel 76 ihr nicht ein, den alten Sünder durch irgend eine Verkürzung ihrer Liebenswürdigkeit zu strafen. So hatte ihr ursprünglicher Plan, Onkel Scip durch ihre Bevormundung in den kleinen Dingen des Alltags so bald wie möglich wieder nach Prankenau hinaus­zuscheuchen und damit den Verkauf hinauszuschieben, schon nach vierzehn Tagen vollständig Fiasko gemacht. Sie konnte eben nicht Gouvernante spielen. Je mehr sie den Hausteufel herauskehren wollte, desto mehr Charme entwickelte sie — wenigstens dem alten Kavalier gegenüber.

Eines Tages hielt Frau Dorothea ganz gehörig Einkehr bei sich. Die Entdeckung, daß sie über eine Weiblichkeit verfügte, mit der sich bedeutend reizvoller hätte spielen lassen als in dem allzu leichten Gängeln ihres guten Fernand, machte sie sich selbst interessant. Sich als eine gefährliche Person zu erkennen, bereitete ihr einen süßen Schrecken. Ganz geduckt und mit listigen Äuglein schlich ein Phantom von Reue über verpaßte Flirt­gelegenheiten ihr um das Herz herum. Etwas in ihr entrüstete sich über diese Reue, aber die Entrüstung wollte sich nicht so recht ihrem Herzblut mitteilen. Sie geriet in einen Konflikt, der sie hin und her zerrte, bis ihr zum Bewußtsein kam, daß es gegen die Weihnachtszeit gehe und daß vor den heiligen Zeiten der altböse Feind immer ganz besonders rührig werde. Da raffte sie sich auf und trat entschlossen dem Schlänglein der romantischen Reue auf den Kopf — mit demselben 77 Pantöffelchen, das sie Onkel Scip auf den runzligen Nacken setzte.

O, es war ihr sehr ernst. Sie schämte sich ihrer Schwachheit gegenüber den unheiligen Gesprächen des alten Herrn. Sie hatte sich — das war ihr jetzt klar — auch ihm gegenüber eines Unrechts schuldig gemacht. Das mußte ausgeglichen werden, und weil dieser Ausgleich sich sehr gut in ihre ursprünglichen Pläne fügte, so schritt sie sofort zur Ausführung und dirigierte Herrn Pfarrer Jeanmaire dem Onkel auf den Leib.

«Aha», dachte Herr Scipio, als man ihm Herrn Jeanmaire meldete, «um den Alten von Prankenau aus seinem Winterbau zu räuchern, braucht’s ein anderes Räuchlein.» Er empfing den Pfarrer, der bloß an den Schläfen ein wenig ergraut war, aufs Liebenswürdigste und komplimentierte ihn in einen ungewöhnlich tiefen Faulenzer-Fauteuil, so daß er die Knie nächst ans Gesicht bekam, und schob ihn dicht ans Kaminfeuer. «So», dachte sich der alte Haudegen, «wird dich schwerlich das Beten ankommen.» Dann schleppte er Zigarren herbei und klingelte um Dessertwein. Gegen beides blieb Herr Jeanmaire trotz seiner Versenkung unerbittlich standhaft. Aber Herr Scipio war noch nicht am Ende seiner taktischen Gewandtheit. Er hielt seinem Gast eine gewaltige Lobrede auf die Abstinenz und ging dann dazu über, Unmäßigkeit an Beispielen nachzuweisen, die er in seinem langen Leben kennen gelernt. Pfarrer Jeanmaire gab ihm zu verstehen, daß man 78 um Beispiele von Menschen, die im Alkohol umkamen, nicht verlegen sei, jetzt wäre es aber ein Verdienst zu zeigen, daß man ohne Alkohol sehr gut leben könne. Das sei ganz richtig, stimmte der Prankenauer bei. «Aber sagen Sie das der Jugend, Herr Pfarrer. Führen Sie im Offizierskorps eines flotten Regiments den Nachweis, daß die wahre Lebensfreude anderswo zu suchen sei als bei Weibern und Alkohol! Mein Gott, wenn ich denke, wie das bei uns zuging!» Und nun schüttelte er das Füllhorn seiner Erinnerungen und Anekdoten über den wehrlos Eingesenkten mit einer solchen Würze aus, daß nicht nur jeder ernste Vorsatz in des Pfarrers Herzen erstarb, sondern der brave Mann in ein Mitlachen hineingeriet, gegen das er umsonst all seinen sittlichen Ernst in die Front peitschte. Es half nichts anderes mehr als Flucht. Und er ergriff sie, sobald die Gelegenheit sich bot.

Draußen, in der winterlichen Allee erst, erloschen die Funken des Lachens, die noch an ihm fortgeglommen, völlig, und Pfarrer Jeanmaire tat aufrichtigen Herzens Buße. Vierzehn Tage lang wich er ängstlich jeder Begegnung mit Frau von Guldwang aus.

Auch Herr Scipio war überzeugt, daß er nicht so bald wieder einen Besuch des Pfarrers zu gewärtigen habe. Das hatte er gewollt; aber froh war er seines Sieges doch nicht. Siebzig Jahre hatte er hinter sich, ein halbes Jahrhundert lag zwischen dem heutigen Tage und der letzten Stunde, die er mit seiner Mutter 79 zugebracht; aber deutlich empfand er, daß diese nicht gebilligt hätte, was er heute mit dem Pfarrherrn getan. Wie oft schon in seinem Leben waren solche Augenblicke wiedergekehrt! Sie waren voll Wehmut, und doch hätte er sie festhalten mögen. Am liebsten hätte er seinen letzten Atemzug in solch stiller Stunde des Heimwehs nach der einzigen getan, die in wahrhaft reiner Liebe ihm zugetan gewesen. So sann er auch heute wieder in seiner Einsamkeit am verglimmenden Kaminfeuer.

In diesen Tagen ging ein eisiger Hauch über das Land und malte den Alten aus lauterem Eis Traum­landschaften an die Fenster, so daß sie wehmütige Blicke in Tage warfen, die jenseits der großen Enttäuschungen, weit hinter ihnen lagen. Der Jugend aber bahnte der kalte Hauch Wege über Strecken, die ihr sonst nicht zugänglich waren. Spiegelglatt und durchscheinend schwarz lag das Eis auf den Teichen. Während der Himmel sich schon leise zu färben begann und die blauen Schatten der kahlen Allee-Riesen auf dem rötlich flimmernden Schnee ans Ufer herankrochen, steuerte Heini Tillmann auf blitzenden Kielen über das Egelmoos. Das Eis sang und knackte leise, und es war, als atmete die Tiefe, der man, über sie hinschwebend, ins grausig leere Herz schaute. Heini hatte vor seinen Kameraden Vorsprung gewonnen, nicht weil er ihn gesucht, sondern ganz einfach, weil er nach der letzten Nachmittagsstunde stracks aufs Eis gegangen war, während die andern 80 mit unendlichem Verabreden und Herumschlendern viel Zeit verloren. Unter den wenigen Menschen, welche sich der Wonne des noch ungeritzten Spiegels hingaben, erblickte der junge Tillmann sehr bald zwei schlanke Gestalten, deren graziöser Gleitschritt mit der schlichten Eleganz ihrer Toilette wohltuend übereinstimmte. In angemessenem Abstand folgte er dem Paar. Er vermutete, daß die eine der jungen Damen Antoinette von Guldwang sei. Um sich zu überzeugen, wandte er plötzlich um, so daß er auf der andern Seite der Bahn den beiden begegnen mußte. Und er hatte sich nicht getäuscht. Sein freudig respektvoller Gruß wurde im Vorbeischweben freundschaftlich erwidert.

Fast war er froh darüber, daß Antoinette nicht allein fuhr. Ihr allein zu begegnen, hätte ihn in Verlegenheit gebracht. Die Begleiterin hatte er schon oft mit dem Fräulein von Guldwang gesehen. Wer sie war, wußte Heini nicht. Der ungewöhnlich gute Geschmack, den sie in ihrer Kleidung zur Schau trug, ihr wohlgepflegtes und zugleich anmutiges Wesen rückte für Heini dieses Mädchen in die Linie derer, von denen er sich gesellschaftlich absolut getrennt fühlte. Da gab es keine Brücke, so wenig wie bei Antoinette. Die beiden jungen Damen gehörten für ihn zu den Erscheinungen, die man anschwärmt, ohne zu leiden.

Im Weiterfahren ließ Tilly seine Gedanken zurückschweifen, zu allerhand Begegnungen mit Antoinette, die ihm bei den Neckereien unter den Kameraden immer 81 einen gewissen Vorrang verliehen hatten. Die Gunst der Familie Guldwang gab ihm Ansehen, brachte ihn aber in Verlegenheit seinen Eltern gegenüber. In den Wagen stieg er nie mehr, das war festgelegt. Wenn er nun aber hier auf dem Eise von dem Recht eines angehenden Studenten Gebrauch machen und Antoinette seine Begleitung antragen würde — vertrug sich das mit dem der Mutter gegebenen Versprechen?

Sie kreuzten sich zum zweitenmal. Heini erntete die nämlichen freundlichen Blicke wie vorhin. Ihm schien, es liege eine Einladung darin. Weiter sinnend, glitt er dem Ufer entlang. Da sah er einige seiner Kameraden auf den Bänken ihre Schlittschuhe anschnallen. Das trieb ihn an. Unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte. Er wandte sich um und folgte nun wieder, in gleicher Richtung fahrend, den beiden Mädchen.

Jetzt glitt in verwegenen holländischen Bogenzügen, mit vollendetem Gleichgewicht der schwarzäugige Delierre mitten durch die Bahn. Wie ein Sperber umkreiste er die beiden Damen. Triumph und Hohn lag in seinen Kurven, die er, im Bewußtsein, daß ihm die Beute nicht entgehen könne, kühn dehnte, um Tilly damit zu quälen. Der war ein gutherziger Mensch; wenn aber in diesem Augenblick irgend eine «Tücke des Objekts» den ästhetischen Sieg von Delierres Figuren zunichte gemacht hätte, so würde er das dem Schicksal gar nicht übel genommen haben. Auf einmal standen die vier jungen Menschen dicht beisammen, so daß die Eisdecke 82 krachte. Lachend stoben sie auseinander, um sich gleich wieder zusammen­zuschließen. Doch blieben sie nun in Bewegung und fuhren paarweise weiter, voraus Antoinette mit Delierre, der sich bemühte, die etwas Unsichere mit in seine Holländerbogen zu bringen. Heini fuhr in freier Bewegung neben Lilian Merle einher. Wie ein Flug Schmetterlinge schwebten sie weiter. Heini Tillmann wußte nichts von seiner Partnerin. Er mußte sich vorerst damit begnügen, zu vermuten, daß sie eine Freundin Antoinettes sei. Sie aber wußte offenbar alles über ihn, was etwa Antoinette bekannt sein konnte. Das tat dem Jüngling wohl und befreite ihn von der schlimmsten Schüchternheit, so daß er es nach einigen Schritten fertig brachte, die rechte Hand nach ihr auszustrecken und zu sagen: «Darf ich mit Ihnen fahren, Fräulein?» Und nun geschah etwas, das Heini beinahe den Atem nahm. Sie bot ihm beide Hände zum Verschränkt­fahren, so daß er seine Rechte mit der ihrigen in dem seidegefütterten Muff bergen durfte. Sie griff fest zu, und wenn schon Heinis stattliche Gestalt den Halt des hübschen Paares auszumachen schien, so fühlte doch eher er sich geführt. Ein Erfahrener hätte es gleich heraus gehabt: Lilian wollte von einem Starken geführt sein, aber wie und wohin, das sagten ihre Hände.

«Sie sind auch ein fleißiger Hörer von Pfarrer Jeanmaire?» sagte die junge Dame. «Ich sah Sie oft in seinen Predigten.»

83 Heini errötete: «Ja,» sagte er. «Ich höre ihn sehr gern.»

«Werden Sie auch geneckt deshalb?»

«Geneckt?»

«Nun, Sie wissen doch, daß man uns jungen Leuten vorhält, wir gehen nur deshalb dort zur Kirche, weil die späte Stunde des Gottesdienstes ein langes Ausschlafen gestatte.»

«Ach so! Nun, offen gestanden, gegen das Ausschlafen habe ich gar nichts. Aber es ist doch wirklich noch etwas anderes, was mich dorthin zieht.»

«Das habe ich schon durch Antoinette erfahren. — Sie werden Theologie studieren?»

«Ich möchte wohl gerne; aber ich fürchte, daß mein Vater es nicht haben will.»

«Was wünschte denn Ihr Vater aus Ihnen zu machen?»

«Jedenfalls etwas Praktischeres, das mehr Gelegenheit bietet, sich in der Welt eine Stellung zu machen.»

«O, Ihr Vater sollte einmal Herrn Jeanmaire hören. Es gibt noch größeres als eine einträgliche Stellung. — Möchten Sie gerne Landpfarrer werden oder Professor?»

«Ich möchte vor allem einen Beruf wählen, der mir Gelegenheit gibt, meine Ideale zu verfolgen. Das Schönste muß es doch eigentlich sein, wenn man die Sehnsucht der Menschen stillen kann.»

War es reiner Zufall, daß Lilian in diesem Augenblick 84 Heinis Hand fester faßte? Sie vergaßen über ihrem Plaudern alles, was um sie her war, hatten das Gefühl, sich vortrefflich zu verstehen und waren darüber sehr glücklich. Bald aber begannen in der Allee die Gaslaternen zu flimmern, und auf einmal war es Zeit, sich zu trennen.

«Ich bin eine schlechte Hüterin,» sagte Lilian. «Wo ist Antoinette?» Endlich sahen sie das bogenfahrende Paar das Gewimmel durchkreuzen, steuerten darauf zu und gingen mit ihm ans Ufer, wo Delierre sich sofort auf ein Knie niederließ, um Antoinette die Riemen aufzulösen. Heini Tillmann machte es ihm sogleich nach, wobei er noch einmal Gelegenheit fand, in die großen graugrün schillernden Augensterne seiner Begleiterin aufzuschauen. Und jetzt fielen ihm auch die zwar nicht leuchtend roten, aber sehr hübsch geschwungenen und ziemlich starken Lippen und die wohlgepflegten Zähne Lilians auf. Hätte man ihm zugemutet, in dieser Stellung bis zum völligen Anfrieren zu verharren, es würde ihn keine Überwindung gekostet haben. Aber ebenso rasch, wie vorgestellt, fand sich Heini Tillmann verabschiedet. Er schlenderte, seine Schenkel wieder an die Alltagsbewegung gewöhnend, mit Delierre der Stadt zu.

Daß ihm der Welsche Antoinette weggekapert hatte, erschien beiden Kameraden selbst­verständlich, und wenn Tilly vor dem Zusammentreffen durch Delierres siegesgewisses Einherfahren gereizt gewesen, so fühlte er sich jetzt frei von jeder Spur des Neides.

85 «Du,» fragte er, als sie die beiden jungen Damen aus den Augen verloren hatten, «wer ist sie eigentlich? Ich meine, wie kommt sie zu Antoinette?»

Ein belustigter Blick Delierres streifte den Frager. «Sie hat dir wohl gefallen, he? — Du meinst doch Lilian?»

«Offen gestanden, ich hätte mir nicht träumen lassen, daß es so was gibt auf der Welt, ich meine einen Menschen... in dem ich so wiederfinde, was ich selber denke und fühle und der dazu so... o Deli... so himmlisch lieb und schön ist. Deli, sag mir, wer sie ist!»

Delierre blieb stehn und lachte aus vollem Herzen. «Tilly, Tilly, dich hat’s.»

«Ja, es hat mich.»

In diesem Augenblick schon war es für Delierre ausgemachte Sache, daß er seinem Kameraden aus der Känelmatt auch diese Beute abjagen müsse. Er war aber doch gütig genug, Heini aufzuklären. «Lilian Merle,» sagte er mit einem Tönchen, als ließe ihn das alles gänzlich kalt, «ist, soviel ich weiß, die Tochter einer verstorbenen Pensionsfreundin von Frau von Guldwang. Diese hat sie in ihr Haus aufgenommen, daß sie ihr eine Gouvernante für Antoinette erspare. Das ist für Antoinette und übrigens für uns andere auch recht angenehm, denn Lilian ist nicht viel älter als Antoinette und dazu wirklich ein liebenswürdiges Geschöpf. — Man weiß nicht, wo sie herkommt. Sie weiß 86 es wohl selber kaum. Und das gibt ihr den großen Charme — im Gegensatz zu den Bernoises. Die sind immer so — grand Dieu, wie soll ich sagen? — so in ihrem Boden festgewachsen. Man müßte sie erst umsägen, wenn man sie anderswohin bringen wollte.»

«Bodenständig nennt man das,» warf Heini ein, «aber das ist kein Nachteil.»

«Aber langweilig ist’s.»

«Du, sag das einmal Antoinette!»

So disputierten sie ein paar Gassen lang die Stadt hinauf, als hätten sie Wunder was für Erfahrungen hinter sich.

Als Heini Tillmann am Abend einsam auf seiner Bude saß, strengte er sich ganz vergeblich an zu arbeiten. So hatte ihn noch nie etwas außer Stand gesetzt, fremde Gedanken in sich aufzunehmen. Woran lag es denn? Er hatte doch oft ohne die geringste Einbuße an Arbeitslust den schönen Begegnungen mit Antoinette nachgesonnen. Wie manche Dämmerstunde hindurch hatte er sich damit vergnügt, die wunderbarsten Luftschlösser auf die Freundschaft mit der Prinzessin von Prankenau aufzutürmen. Aber das war’s eben. Er wußte bei all diesem seligen Gedankenspiel, daß die Luftschlösser dazu bestimmt waren, sich in nichts aufzulösen. Man konnte damit spielen, so lang es einem gefiel und hatte nicht einmal zu befürchten, daß der Dunst, in den sie sich auflösten, auch nur im Geringsten die Augen beizen würde. Aber nun hatte ihn der süße 87 Schreck des Erreichbaren überfallen, und ob er wollte oder nicht, etwas zwang ihn, seine Phantasie auf diesem Felde der Möglichkeit zu tummeln. — Lilian Merle, die Einsame, die den gleichen Idealen nachsann wie er, ihr Interesse für die Theologie, für sein Theologie-Studium, die Gunst, welche sie beide bei der Familie Guldwang genossen, die Idee der Frau Dorothea, daß er sich der Theologie zuwenden solle. Wenn aus diesen Zufällen nicht etwas Großes sich fügen ließ! Das Endergebnis dieser Träumerei war, daß Heini sich mit Ungestüm hinter seine Bücher machte. Er vertiefte sich in eine Aufgabe der analytischen Geometrie, rechnete und zirkelte — und sah sich im Lampenschein wieder auf dem durchsichtigen Eise, über der dunkeln Tiefe schwebend, zu Lilian hingleiten. Es war doch seltsam, wie er da, ohne es zu suchen, so an sie heran geführt worden war. — Aber nun die Analytische! Hol’s der Kuckuk, schon 11 Uhr! Jetzt drauf!

Die nächsten Tage kosteten Heini Tillmann viel Überwindung. Von den Lehrern wurde seine Unachtsamkeit auf das Konto der herannahenden Weihnachts­freuden gesetzt, und es fiel niemand ein, etwas anderes dahinter zu suchen. Nur Delierre wußte, daß die Vögelchen, welche sein Kamerad auf alles hinkritzelte, Amseln, die Blumen, die er den Vögeln bald in den Schnabel, bald in die Krallen, bald zu Kränzen gewunden um den Hals zeichnete, Lilien vorstellen sollten.

Zwei Tage vor Weihnachten überfiel Heini der 88 Wonneschreck der Wirklichkeit noch einmal. Er ward zu Guldwangs eingeladen. Anfangs ging es etwas gênant zu. Bei Tisch ließ man das Wort meist dem Pfarrer Jeanmaire. Hernach wurde es gemütlicher. Ein Weihnachtsbaum verbreitete im großen Salon Stimmung. Zum erstenmal seit langer Zeit bekam Heini wieder die erquickenden Stimmen Antoinettes und ihrer Mutter zu hören. Unter der Dienerschaft, die zum Gesang der Weihnachtslieder beigezogen wurde, entdeckte er übrigens das Neßleren-Mädi und andere Überbleibsel aus dem Prankenauer Hofstaat.

Als diese Hilfstruppen aus dem Hinterhaus sich zurückgezogen hatten, löste sich die Gesellschaft in zwanglose Gruppen auf. Heini spähte nach einer Gelegenheit, sich in die Nähe der jungen Damen durchzuwinden, was auf dem dicken Teppich nicht so glatt lief wie auf dem Eise, denn es stand mancherlei vier- und dreibeiniges Geräte herum, das sich aufs Ausweichen schlecht verstand. Er wollte zwischen dem Flügel und dem Weihnachtsbaum hindurch­schlüpfen, als ihm Frau Dorothea den Weg zu seinem Ziele vertrat. Mit leuchtender Huld überreichte sie ihm zum Andenken an den heutigen Festtag ein Buch. Im Schimmer der Weihnachtskerzen glänzte der Aufdruck: «Heilig ist die Jugendzeit». Kaum hatte er gedankt, so vernahm er dicht hinter sich die Stimme des Pfarrers Jeanmaire, der einen Blick voll Anerkennung auf das Buch warf und dann das Gespräch auf die Frage des Theologie­studiums überleitete. 89 Der Pfarrer schien an Heinis Vorhaben warmen Anteil zu nehmen. Als der Gymnasianer auf die Möglichkeit hinwies, daß seine Pläne bei Vater Tillmann auf Widerstand stoßen könnten, sagte Herr Jeanmaire: «Seien Sie ganz ruhig, junger Freund. Wenn es Gottes Wille ist, daß Sie sein Wort verkündigen, so wird er Ihnen den Weg dazu ebnen.» Der Pfarrer lehnte sich bei diesem Gespräch an den Flügel, während Heini mit dem Rücken gegen den Weihnachtsbaum stand. Die Tannennadeln kitzelten ihn weniger als die fröhlichen Stimmen auf der andern Seite des Baumes. Das schien der Pfarrherr nicht zu ahnen, denn er hielt ihn mit seinem Gespräche ausdauernd fest. Erst als die jungen Damen, mit Tee und Bonbons an den Pfarrer herantraten, gelang es Heini, den Faden abzureißen und hinter dem Baume Deckung zu suchen. — Heute brauchte doch mit dem Theologie-Studium noch nicht begonnen zu werden. Was er aber heute in anderer Richtung versäumte, schien ihm viel schwerer wieder einzubringen. — Sein Buch unter den linken Arm klemmend, nahm er von einer Dame eine Tasse Tee entgegen. Die Rechte brauchte er, um das Gebäck einzuheimsen, das Antoinette ihm anbot. Und nun kam Lilian noch mit einer silbernen Zuckerschale und dem Rahmtopf. Seine Unbeholfenheit wahrnehmend, warf sie ihm mit ihren rosigen Fingerspitzen zwei Zuckerbrocken in die Tasse, goß Rahm nach, ohne auf ihre Frage: «Darf ich?» eine Antwort abzuwarten. 90 Den Dank für die Erlösung aus seinen vor Freude kugelnden Augen lesend, zog sie Heini behutsam die «Heilige Jugendzeit» von dem befrachteten Herzen weg. Er strahlte wie der Weihnachtsbaum. Daß er sonst noch etwas mit dem Lichterbaum gemein hatte, erfuhr er erst durch den erschreckten Ausruf der Hausfrau. « Mon cher ami,» sagte Frau Dorothea. «Sie sind dem Baum zu nahe gekommen.» Und alsbald richteten sich aller Blicke auf den armen Heini, der ob diesem allseitigen Interesse um so tiefer errötete, als er die ganze Gesellschaft lächeln sah. Noch wußte er nicht, was den Anlaß zu dieser halb bedauernden, halb spöttischen Aufmerksamkeit gegeben, als Lilian ihn ganz fest beim Arm faßte und sagte: «Kommen Sie ins Lazarett, Herr Tillmann!» Die beiden Freundinnen führten ihn in das Vestibüle. Lilian verschwand, wie sie sagte, um einen Löffel zu holen. Unterdessen schob Antoinette ihren Sommerfreund vor den Wandspiegel über dem Kamin und hielt ihm von hinten einen Toilettenspiegel hin, so daß Heini seinen eigenen Rücken betrachten konnte. Nun kam auch ihn das Lachen an, wenngleich ein gelbliches. Unter seinem linken Schulterblatt gletscherte fast fingerbreit rotes Wachs über den Konfirmationsrock hinunter. Es bedurfte keiner lebhaften Phantasie, um sich vorzustellen, Heini sei von einer Kugel ins Herz getroffen worden. «Seien Sie getrost,» sagte Antoinette, indem sie das Wachs abkratzte, «das kriegen wir sauber weg.» Unterdessen war Lilian wieder eingetreten. 91 Sie brachte einen eisernen Löffel und Seidenpapier. «So,» sagte sie, «die Operation kann beginnen. — Aber nun müssen Sie sich in tiefer Demut beugen, Herr Tillmann.» Heini wurde ein brodierter Hock untergeschoben, und er mußte sein Haupt bis fast auf die Knie senken, während Lilian mit dem Löffel eine glühende Kohle aus dem Kaminfeuer holte und damit auf dem von Antoinette über die «Wunde» gebreiteten Seidenpapier, das Wachs in dieses aufsaugend, herumbügelte. Bei dem holdseligen Gekicher würde Heini stundenlang der Operation stillgehalten haben. Er sah ein Paar Herrenfüße neben sich. Dann hörte er Herrn Fernands Stimme: «Das habt ihr fein gemacht. Keine Spur mehr sieht man.» Und als er aufstand, zog ihn der sehr gut aufgelegte Herr von Guldwang (der sich mit Heini in die Bewunderung Lilians teilte) dicht an sich und sagte leise: «Ist auch der Pfeil heraus? Tat’s weh?» Laut fügte er hinzu: «Nun aber der ritterliche Dank! — Auch das müssen Sie lernen, Heini — Lilian!» Er winkte das mit dem Löffel davon eilende Mädchen heran und sagte zu dem glutübergossenen Gast aus der Känelmatt: «Sehn Sie, junger Freund, so macht man das» und küßte Lilian die Hand. Und nun mußte Heini dasselbe tun. Lilian ließ es geschehn, warf aber aus zorngerötetem Gesicht einen Strafblick auf ihren Hausherrn, den dieser mit lustigem Lachen quittierte.

Der Rest des Abends verlief sehr fröhlich. Das kleine Abenteuer hatte nicht wenig geholfen, Heini aus 92 seiner Befangenheit zu befreien. Daß er in seinem strampelnden Glück das geschenkte Buch mitheimzunehmen vergaß, brachte freilich einen argen Riß in den süßen Nachklang, der ihn bis zum Einschlafen umschwebte. Aber er tröstete sich mit dem Vorsatz, gleich andern Tags das Geschenk zu holen und der Gastgeberin Entschuldigungen zu machen.

*  *  *

Heini Tillmann saß inmitten der Klasse über sein mit Amseln und Lilien bekritzeltes Pult gebeugt. Man klaubte an einer schwierigen Stelle des Thukydides herum, und Tilly hatte seine liebe Not, mit dabei zu sein, denn er mußte sich immer wieder zurechtlegen, was er heute mittag bei Frau von Guldwang zu seiner Entschuldigung vorbringen wollte. Daß er auf das Glück einer Begegnung mit Lilian hoffte, versteht sich von selbst. Da klopfte es an die Zimmertüre. Dr. Ellenbogen öffnete selbst. Nach einer Minute trat er wieder ein und rief mit eigentümlich ernstem Ausdruck: «Tillmann, es wünscht jemand mit Ihnen zu sprechen.» Heini ging hinaus und fand zu seinem Erstaunen Herrn Fernand von Guldwang im Korridor stehen.

«Da bringe ich Ihnen Ihr Buch,» sagte Herr von Guldwang mit einem kaum wahrnehmbaren Anfluge von Heiterkeit. «Aber,» fuhr er, gleich wieder ernst werdend, fort, «ich habe Sie nicht deshalb herausrufen lassen. Es ist leider etwas Wichtigeres.» Herr von 93 Guldwang faßte Heini unter den Arm und ging mit ihm ein paar Schritte weiter. «Wissen Sie, daß Ihre Mutter schwer erkrankt ist? — Nicht? — Nun, ich vermutete es. Wir haben die Nachricht soeben aus der Känelmatt bekommen. Sie sollten gleich heimreisen, Heini. Erbitten Sie sich sofort Urlaub beim Rektor und dann kommen Sie zu meiner Stallung an der Junkerngasse. Ich lasse Sie heimführen.»

Heini ging im Kopf alles durcheinander. Er ahnte das Schlimmste und wäre am liebsten, ohne auch nur die Mütze zu holen, weggelaufen; aber der väterlichen Freundlichkeit des Herrn Fernand konnte er sich doch nicht widersetzen. Mechanisch gehorchend, lief er zum Rektor und dann stracks die Stadt hinunter. Unterwegs begann er zu überlegen. Es mußte Gefahr im Verzuge sein. Das hatte er deutlich herausgehört. Sollte er nun wirklich den Wagen annehmen? — Nein, er wollte sein Versprechen halten. Er durfte es nicht darauf ankommen lassen, einen Mißklang in das vielleicht letzte Zusammentreffen mit den Eltern zu bringen. Mit dem festen Entschluß, dankend abzulehnen, bog er in die Junkerngasse ein. Dort stand der Wagen bereit. Der Kutscher machte sich noch im Stalle zu schaffen, und bei den Pferden stand neben dem Neßleren-Mädi — Lilian Merle mit einem Briefe von Frau Dorothea. Beinahe verwünschte jetzt Heini das eben noch ersehnte Zusammentreffen. Aber er raffte sich auf und ging geradewegs auf sie zu: «Tun Sie mir den Gefallen 94 und melden Sie Guldwangs meinen herzlichsten Dank, aber den Wagen dürfte ich nicht annehmen.» Lilian staunte ihn an.

«Wissen Sie denn nicht, daß es auf Minuten ankommen kann? Ihre Mutter ist sehr krank.»

«Ich muß es allerdings befürchten, Fräulein,» erwiderte er, «aber es bleibt dabei. Warum, werde ich Ihnen hoffentlich später einmal sagen können.»

«Heini,» mischte sich jetzt das Neßleren-Mädi ein, «du wirst doch nicht so wunderlich tun, wo du doch gar nicht weißt...»

Heini Tillmann hatte nicht zu Ende gehört. Die Mütze lüftend, war er davongeeilt. Lilian hatte noch die ersten Tränen über des armen, kämpfenden Burschen Wangen fallen sehen. Sie befahl Mädi, einzusitzen, dem Kutscher, sachte zu fahren. Frau von Guldwang werde am Abend doch Bescheid wissen wollen aus der Känelmatt, und vielleicht würde der junge Herr sich doch unterwegs noch eines andern besinnen. Dann ging sie heim, fest entschlossen, vorläufig für sich zu behalten, was Heini ihr anvertraut hatte. Vielleicht ließ sich so eine unnötige Verstimmung der Familie Guldwang vermeiden.

Es war ein widerwärtiges Wetter. Am frühen Morgen war Schnee gefallen. Zu beiden Seiten der Landstraße griffen, Priester des Schweigens, die Alleebäume mit schwarzen Armen in den Nebel, als wollten sie ihn niederziehen. Die sonst so lockende Ferne der Allee war verhängt. Nichts regte sich als dann und 95 wann die schwerfälligen Flügel einer Krähe. Ein träger Regen setzte ein. Die Guldwangschen Dienstboten waren schon beim Bärengraben uneins geworden. Mädi hatte zur Eile gemahnt, weil sie den Gymnasianer bald einzuholen gehofft; aber der mürrische Kutscher hatte geantwortet: «Hast noch nicht gemerkt, daß wir ds halb Zyt z’tromsig fahren? Wenn sie mir ghejen, kannst dann sehen, wer sie wieder auf die Beine kriegt.» Der Wagen war in der Tat mit den Hinterrädern bald links, bald rechts in der Rinne, und die ungespitzten Hufe der schlankbeinigen Rappen vermochten auf der verräterisch überschnellen Eisdecke des Fahrdammes nicht festzugreifen. Hinter dem Galgenhubel, wo die Straße zu fallen beginnt, fingen die Hufe erst recht zu gleiten an, und die Tiere gerieten in Schweiß. Der Kutscher verschwor sich, er fahre keinen Schritt weiter, und vor dem Friedhof bog er einfach nach links, um über das Pulverfeld heimzulenken. «So wart!» brüllte Mädi verärgert aus dem Wagen. Als er anhielt, kroch sie heraus und schimpfte: «So fahr’ in Gottes Namen heim mit deinen Sydepiggerli. Wenn das meine wären, die wüßten schon, was schaffen heißt. Du hast halt auch präzis gleichviel Herz wie Guraschi.» Sprach’s, spannte das baumwollene Regendach auf und watschelte die Allee entlang weiter, während Christian mit listigem Schmunzeln ebenen Weges zur Schmiede bei der Kaserne fuhr, um die Eisen seiner Rappen vor der Heimkehr spitzen zu lassen.

96 Von Heini Tillmann war weit und breit nichts zu sehen. Er hatte den kürzesten und steilsten Anstieg aus der Stadt genommen und eilte nun schon weit draußen auf der Landstraße dem Werlentale zu. Nicht links, nicht rechts blickte er. Naß vom Regen, naß vom Schweiß, keuchte er durch die menschenleeren Dörfer und endlich den Prankenauer Berg hinan, auch hier wieder auf dem steilsten Weg. Das Nebelgewölk hing bis über das Schloß herunter, und das Tälchen der Känelmatt glich einem finstern Schlunde. Nirgends zeigte sich ein lebendes Wesen. Beinahe graute Heini vor dem Pfad in die Matt. Ohne Atem zu schöpfen, stieg er weiter. Das Stöckli stand wie ausgestorben in der Düsternis. Er keuchte die Treppe hinan. Da trat Röseli auf die Laube hinaus, totenbleich und mit rot­verschwollenen Augen. Sie fiel dem Bruder um den Hals. Zu ersticken drohte sie. Erst als sie fühlte, daß auch Heini in seinen triefend nassen Kleidern heftig zu zittern begann, machte sich ihre furchtbare Herzensnot in aufschreiendem Schluchzen Luft. Heini faßte sie, so fest er konnte, in seinen Arm und ging in die Stube der Eltern. Da lag im trostlos grauen Dämmerlicht die Mutter mit gefalteten Händen auf dem Bette und schlief — ihren letzten Schlaf. Wieder warf sich Röseli an Heinis Brust, und er starrte, am ganzen Leibe zitternd, über ihren verworrenen Lockenkopf hinweg auf das bleiche Gesicht der Mutter. Lange standen sie so. Da ging jemand schweren Schrittes aus der Stube. Heini hatte gar nicht bemerkt, daß der Arzt 97 von Kilchwerlen in einer Ecke gestanden und etwas geschrieben hatte. Jetzt erst sah er den schlichten weißhaarigen Mann, mit dem geblümten Taschentuch die Augen wischend, hinausschreiten.

Es dauerte eine Weile, bis Heini sich aufraffen konnte zur Frage: «Kommt der Vater?»

«Man hat ihm Bescheid gemacht,» sagte die Schwester, «schon gestern abend, nach Interlaken. — Aber vielleicht ist er nicht einmal dort.»

«Wann ist sie gestorben?»

«Etwa vor einer halben Stunde.»

Da zuckte es seltsam in Heinis Gesicht. Er wankte zum Ruhebettlein und ließ den Kopf zwischen die Arme auf den Tisch fallen. Röseli sank neben ihm auf die Lehne des Ruhbetts und ließ ihre ratlosen Blicke zwischen dem schluchzenden Bruder und der toten Mutter hin und her schweifen. Die schauerliche Stille legte sich schwer auf des Mädchens junges Herz. Ihr war, als könnte sie diese würgende Last nicht länger tragen. «Heini,» sagte sie, «sag’ doch etwas, um Gottes willen!» Aber Heini brachte nichts heraus.

Endlich stand er auf. Er trat von neuem an der Mutter Bett. Röseli legte ihm beide Hände auf die Schulter und schmiegte sich an den Bruder an. Wie still, wie stille war’s um sie her! Auch die Wanduhr war stehen geblieben, da niemand mehr sie aufgezogen. Niemand hätte in Worte kleiden können, was auf dem feierlichen, eingefallenen und doch zufriedenen Gesichte 98 der Mutter lag. Mit Kummer beschwert hatte sie ihre Last durch den Erdenstaub geschleppt und nimmer war sie in ihrem Herzen von den Stufen des Thrones gewichen. In heiliger Einfalt war sie da für die eingetreten, denen sie unter Schmerzen das Leben geschenkt und denen sie das erste Gebet zum Erlöser von aller Erdensehnsucht auf die Lippen gelegt. Lärmend und achtlos war des Lebens Getrampel über die stille Blume hinweggefahren, und niemand hatte nachgerechnet, wie viel Licht sie um sich verbreitet. Nun sie erloschen war, fehlte doch allen der traute Schein, das liebe, leise Klingen.

«Und wir haben nicht ein einzig armselig Blümlein, ihr in die Hand zu stecken,» jammerte Röseli, durch das Fenster spähend, als sollte irgend in einem Winkel des verschneiten Gärtleins sich eine vergessene Blume noch finden. Da sah sie den Doktor in seiner altmodischen Hasenpelzmütze nach dem Bauernhaus hinüberstapfen. Das war auch nicht einer von vielen Worten, obgleich er unendlich vieles zu sagen gehabt hätte. Wie oft war der im ganzen weiten Werlental herum dem Tode begegnet!

Der Doktor trat in die dunkle Küche des Bauernhauses, wo Frau Vreni eben anrichten wollte. «Der tusig Gotts Wille, Mutter,» sagte er mit stockendem Atem, «geht hinüber ins Stöckli und schaut nach den armen Kindern, die kann man nicht so allein lassen mit der Toten.»

99 Das war der Bäuerin gar nicht kommod. Sie war sehr rumpelsurrig und hätte am liebsten gesagt, lebig machen könne sie die Nachbarin nicht und plären könnten sie drüben allein. Aber nimmermehr hätte sie so etwas über die Lippen gebracht. «He, me cha de ga luege,» sagte sie, «sobald mer g’ässe hei.»

«Und wenn Ihr sie würdet heisse zuechesitze? Für die zwei werdet Ihr wohl noch genug haben, oder?»

«So gang du ga luege!» sagte die Bäuerin zu ihrem Manne, worauf dieser mit dem Doktor hinübertrottete. Es war ja nicht, daß sie nicht Erbarmen gehabt hätte. Nein, aber es grauste ihr. Sie hatte eine abergläubische Furcht vor dem Tode. Und sie wußte in aller Himmels-Erden-Welt nicht zu trösten. Das heißt, eigentlich wohl; aber es kam dann immer so grobhölzig heraus. Einmal hatte man sie darob ausgelacht, und seither blieb sie immer so weit weg wie möglich.

Nach einigen Minuten kam der Bauer zurück mit dem Bescheid, das Neßlern-Mädi sei drüben angerückt und mache sich mit dem Meitschi in der Küche zu schaffen.

«So?» brauste Frau Vreni auf. «Das fehlte jetzt grad noch. Jetzt lauf und schaff’, daß sie herüberkommen. Für ihrere drü werden wir’s etwa noch machen können.»

Der Mann ging zögernden Schrittes, kam aber bald zurück mit dem Bescheid, der alte Tillmann sei inzwischen heimgekommen, es sei wohl jetzt besser, die Leute drüben machen zu lassen. Da hatte er recht geraten, 100 denn tiefer noch hatte die Wolke der Trauer sich auf das kleine Haus gesenkt, und heilige Scheu vertrat an der Schwelle jedem den Weg, der nicht in eigenem Schmerz mit den Verlassenen litt. Furchtbar war den Kindern der Anblick der entschlafenen Mutter, aber was ihre jungen Herzen auszustehen hatten vor des Vaters haltlosem Schmerz, das weiß nur, wer seinen eigenen Vater zusammenbrechen sah. Als Heini den großen, kräftigen Mann vom Bette der Mutter hinwegwanken und unter lautem Schluchzen auf das Ruhbett hinfallen sah, lief er hinaus ins Freie. Mit heißem Würgen in der Kehle rannte er durch den Schnee. In den Nebel hinaus hätte er schreien mögen; aber er zwang’s nieder. Nachdem er den ersten Eindruck überwunden, schämte er sich, die Schwester allein gelassen zu haben, und kehrte um. Röseli hatte starr am Türpfosten gelehnt, bis sie zu Atem gekommen, dann hatte sie sich an den Vater herangewagt, ihm die Arme um den Kopf geschlungen und gesagt: «Nicht weinen, Vater!» — Heini fand das Mädchen in des Vaters Armen. Auf seinen Wink setzte er sich neben ihn auf das Ruhbett. Lange saßen sie da und hingen ihren Gedanken nach. Endlich sagte eins, der wehvollen Stille ein Ende zu machen: «Jetzt ist sie in den goldenen Gassen.» Heini hatte es gesagt; aber es war allen so aus dem Herzen gesprochen, daß jedes meinen konnte, die Worte seien ihm über die eigenen Lippen entwichen.

101 Hans Tillmann legte seine Arme um die beiden Kinder und seufzte: «Gott sei Dank, habe ich doch euch noch.» Heini ward in dieser Umarmung seltsam zu Mute. Wohl fühlte er sich da geborgen, aber er wußte, daß er sich dieses Geborgenseins nicht lange würde getrösten können. Immer wieder blickte er verstohlen zu dem Vater auf. Das war doch merkwürdig. Wie oft hatte er ihn der Mutter gegenüber wegwerfend die Achseln zucken sehen, wenn sie ihm etwa sagte, der Mensch lebe nicht vom Brot allein, Freundschaft und Liebe seien doch auch noch etwas wert und es lohne sich wohl, der Familie auch ihr Recht zu gönnen. Nie war er auf solche Gedanken eingegangen. Jetzt sah es aus, als wollte er sich an das klammern, was ihm von der Familie noch geblieben war.


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