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III.

Rottraut verlebte schlimme Tage.

Julias Benehmen ihr gegenüber hatte sich aus irgend einem unbekannten Grunde sichtlich verändert. Sie war reizbar und empfindlich, mit nichts zufrieden, verletzte das Mädchen mit unfreundlichen, spitzfindigen Bemerkungen oder kümmerte sich so gut wie gar nicht um sie.

Sie hetzte sie im Hause herum wie ein Dienstmädchen und machte sie verantwortlich für jeden umherliegenden Papierfetzen, für jedes Spinnennetz und für jeden Fliegenfleck. Rottraut ertrug es mit bewundernswerter Geduld und Liebenswürdigkeit, konnte es dennoch in nichts recht machen und wurde um so schlechter behandelt, je großmütiger sie es sich gefallen ließ.

Während sonst nie mit einem Wort die Rede gewesen war von irgend einer Stellung, die Rottraut im Hause einzunehmen hatte – sie war eben aufgenommen als ein Familienmitglied und stets als solches gehalten worden – benutzte Julia jetzt jede Gelegenheit, um ihr anzudeuten, daß sie nur aus Mitleid aufgenommen worden sei und sich dafür erkenntlich zu zeigen habe; daß jede Vertraulichkeit, überhaupt jede Gleichstellung mit ihr und Björn ein taktloses Überschreiten ihrer Grenzen sei, die Zartgefühl und Dankbarkeit ihr nicht eng genug stecken könnten.

Nur in Björns Gegenwart nahm sich Julia zusammen. Sie hatte Angst vor ihm. Ihr Instinkt sagte ihr, daß er Rottraut in Schutz nehmen würde, und darauf wollte sie es nicht ankommen lassen. Sie fand aber allemal bald einen Vorwand, Rottraut zu entfernen, wenn Björn anwesend war.

Rottraut schob solch unfreundliches, launenhaftes Benehmen anfangs auf körperliche Mißstimmung. Julia litt im Sommer viel an Kopfweh und sah in letzter Zeit überhaupt nervös und blaß aus. So oft sie aber etwas Derartiges andeutete oder es sich einfallen ließ, sie schonen und pflegen zu wollen, wurde Julia aufgebracht und böse und machte die unverständlichsten Redensarten.

»Es wäre dir wohl gerade recht, wenn du mich in die Krankenstube einsperren könntest!«

»Aber Julia, was fällt dir nur ein!« rief Rottraut ärgerlich. Und dann, bei solchen gelegentlich energischen Worten geschah es wohl, daß Julia in Thränen ausbrach, Rottraut mit Zärtlichkeiten und Liebesbeteurungen überschüttete und ihr all ihre Unfreundlichkeiten himmelhoch abbat.

Rottraut kam endlich zu der Überzeugung, daß Julia ein beschwertes Gemüt habe und selbst kreuzunglücklich sei. Einmal von dieser Überzeugung durchdrungen, wurde ihr Benehmen gegen die Stiefschwester noch rücksichtsvoller und liebreicher.

»Was ist dir denn eigentlich, Julia?« fragte sie einmal zart und teilnehmend, als Julia nach solchem Thränenerguß ganz matt und apathisch auf ihrem Sofa lag. »Willst du dich nicht einmal aussprechen? Sage mir doch, was dich beunruhigt!«

»Mich beunruhigt nichts,« erwiderte sie abweisend.

»Hast du irgend einen Kummer?«

»Was sollte ich wohl für einen Kummer haben!« lachte sie rauh. Ja – das hätte Rottraut selbst nicht gewußt. Diese Frau hatte ja alles – man breitete ihr die Hände unter und streute ihr Rosen; sie brauchte nur darauf zu treten.

»Und du bestreitest auch, daß dir gesundheitlich etwas fehle – ja, aber was ist es denn? Irgend einen Grund muß es doch haben, daß du so verändert bist!«

»So? Bin ich verändert?«

»Aber, liebe Julia – du warst sonst immer so gut gegen mich, es war nie etwas zwischen uns. Und nun – nun bist du so – ja, gelinde gesagt, wunderlich!«

»So? Wirklich?«

»Ich will dir nicht etwa Vorwürfe machen und mich beklagen,« fuhr Rottraut mit unendlicher Sanftmut fort. »Es wäre ja thöricht, wenn ich das nicht ertragen könnte, wo ich weiß, daß sich doch innerlich zwischen uns nichts geändert hat. Ich betrachte es nur als einen Ausfluß deiner innern Stimmung, die doch keine glückliche zu sein scheint –«

»Du suchst also Grund und Schuld dieser sogenannten Veränderung nur in mir?« fragte Julia und machte die Augen weit auf. Rottraut erschrak über den lauernden, grausamen Ausdruck darin und schwieg betroffen still.

»Einer allein hat selten schuld an einem beginnenden Mißverhältnis,« fuhr Julia rücksichtslos fort.

Diese Worte gaben Rottraut ein neues Rätsel auf. Ihr Gewissen war so rein, ihr Herz war sich nur dankbarer und guter Gesinnungen gegen Julia bewußt. – Trotzdem begann sie über sich nachzudenken und nach ihrem Anteil an Schuld zu suchen. Aber wenn sie auch alles, was sie seit ihrem Eintritt in dies Haus gearbeitet, geschafft und geleistet hatte, als einfache Pflichterfüllung aus der Reihe ihrer Verdienste strich – wenn sie sich überhaupt keinerlei Verdienste zuerkannte und all ihr Thun und Sein als einen diesem Hause zukommenden Dankeszins betrachtete, so blieb doch neben diesem noch ein ganzer Reichtum von Liebessaat übrig, der weder aus Dankbarkeit noch aus Pflichtgefühl, sondern nur aus der Aufrichtigkeit eines warmen und guten Herzens kommen kann. –

Björn merkte lange nichts von dem häßlichen Wurm, der an den Pfosten seines Hauses zu nagen begann. Er war wenig mit den beiden Frauen zusammen, und in seiner Gegenwart beherrschte sich Julia. Noch wagte sie es nicht, ihrer Mißstimmung gegen Rottraut ihm gegenüber Luft zu machen, denn sie hätte keine Gründe dafür anzugeben gewußt.

Und noch viel weniger kam es Rottraut in den Sinn, sich bei Björn zu beklagen, um so weniger, je fester sie innerlich davon überzeugt war, daß er ihr recht geben würde.

Sie wußte, es würde das Verhältnis nicht verbessern, sondern verschlechtern. Wozu da erst Scenen heraufbeschwören und Björn Ungelegenheiten machen!

Die zarte, verständnisvolle Rücksicht auf Björn war die unbewußte Triebfeder all ihres Handelns. Aus Rücksicht auf Björn nahm sie Rücksicht auf Julia und ertrug schweigend und mit freundlichem Gesicht alle schlechte Behandlung.

Sie kam stillschweigend mit ihm darüber überein, daß man in jeder Weise auf Julia Rücksicht zu nehmen habe.

Aber sogar über solch selbstloses Eingehen auf ihre Wünsche konnte Julia gereizt und empfindlich sein.

»Wo ist Björn?« fragte sie eines Tages gegen Abend. Rottraut stand im Garten und beaufsichtigte das Einernten des Wintergemüses. Sie sah flüchtig auf und sagte:

»Er ist mit der Flinte fortgegangen. Wohin – weiß ich nicht.«

»Warum bist du nicht mitgegangen?«

»Er hat mich gar nicht aufgefordert!« rief sie heiter. »Außerdem hätte ich heute keine Zeit gehabt,« schloß sie mit einem Blick auf die Häufchen roter und weißer, sauber entblätterter Rüben rings umher am Boden.

»O – sonst hattest du doch immer Zeit!« sagte Julia herausfordernd. Rottraut schwieg.

»Warum gehst du denn jetzt nie mehr mit ihm?« Rottraut beherrschte nur mühsam ihre Ungeduld.

»Habt ihr euch gezankt?« fragte sie immer gereizter. Rottraut sah endlich ein, daß sie eine Antwort nicht würde umgehen können.

»Nein, wir haben uns nicht gezankt. Wir denken aber, daß es dir lieber ist, wenn ich zu Hause bleibe.«

»So – also ganz stillschweigende Abmachung! Warum habt ihr mich denn nicht danach gefragt? Wenn es mir nicht paßte, euch zusammen gehen zu lassen, so hätte ich ja mitkommen können!«

»Ja, Julia, das hättest du nur schon längst thun sollen! Übrigens meinte ich auch nicht, daß es dir unangenehm sei, wenn ich mit Björn ginge, sondern wenn du allein bliebest. Und das kann ich dir ja auch nachfühlen,« setzte sie versöhnlich hinzu. Aber Julia war gar nicht versöhnlich gestimmt.

»Du bist sehr gnädig. Aber ich verlange eure Rücksichten gar nicht. Ihr sollt euch meinetwegen keinen Zwang auferlegen. Du denkst wohl gar, ich sei eifersüchtig!«

Rottraut sah die Frau, die so häßliche Worte sprach, mit einem großen, reinen Blick voll heiliger Entrüstung an.

»Pfui, schäme dich,« sagte sie und kehrte ihr den Rücken zu.

»Thu nur nicht so!« lachte Julia schrill auf. Dann, begreifend, daß sie zu weit gegangen, fing sie an, von den Gartenarbeiten zu sprechen. Rottraut aber blieb einsilbig und unzugänglich.

»Nun sei auch noch empfindlich!« spottete Julia. Endlich ging sie davon. Es war ihr unbehaglich zu Mut.

Als sie außer Sicht war, stellte Rottraut ihre Arbeit ein.

»Macht nur so weiter,« sagte sie zu den schaffenden Mägden, »ich komme dann wieder und sehe nach.«

Dann ging sie über das Beet und den Weg entlang nach dem baumreichern Teil des Gartens. Während sie ging, fing sie an zu weinen; große Thränen perlten über ihre Wangen und fielen auf ihre helle Schürze. Auf der Bank an der Hecke, wo sie damals Björn hatte trösten wollen, setzte sie sich nieder. Es war der einzige Platz, der von allen Seiten durch Buschwerk versteckt war.

Sie fragte sich von neuem, womit sie diese Behandlung von Julia verdient habe, und warum sie dieselbe immer noch schweigend ertrage. Ihre Pflicht war es doch nicht; Not zwang sie auch nicht dazu. Sie war ja frei – sie konnte jeden Tag in die Welt hinausgehen. Eine Stelle, die ihr die Möglichkeit gab, sich den Lebensunterhalt zu verdienen, würde sie schon finden.

Dann dachte sie, daß das doch recht undankbar wäre. Wieviel Liebe, wieviel Gutes hatte sie in diesem Hause genossen – nun wollte sie es bei der ersten Unannehmlichkeit verlassen?

Ja, wenn sie nur wüßte, ob diesem Hause mit ihrem Bleiben gedient war? Wenn wirklich sie die Ursache von Julias Stimmung war, so mochte es viel richtiger sein, wenn sie fortging. Denn mit der Zeit würden nicht nur sie, sondern unfehlbar auch Björn und das Kind unter dieser Stimmung leiden.

Wenn Julia doch nur mit sich reden lassen, ihr einen unverschleierten Einblick in ihre Gedanken gewähren wollte! Wenn sie diese Gedanken kannte, würde es sicher ein Leichtes für sie sein, das Rechte zu finden und zu thun. Aber Julia entzog sich hartnäckig, schlau und eigensinnig jedweder Aussprache, als ob eine solche schlimmer sei als alles andre.

›Du denkst wohl, ich sei eifersüchtig!‹ Bei diesem Ausruf blieben Rottrauts Gedanken schließlich wie vor einer Mauer stehen. Eifersüchtig! Du lieber Gott – worauf denn? Sie war hübscher, sie war glücklicher, sie war reicher; sie war die Hauptperson und wurde ganz ungebührlich verwöhnt und berücksichtigt, namentlich von Björn. Oder fand Julia etwa, daß Björn zu viel Freundlichkeiten für das herzugelaufene Waisenkind hatte? Dann konnte sie es ihm einfach sagen, und er würde sicher sein Benehmen sofort ändern; und Rottraut würde sich darein finden, obgleich ihr das Herz bluten würde.

Nein, sie hatte keinen Grund. Sie bestritt es ja auch selber durch ihre höhnende Frage. – Aber wenn sie nun doch eifersüchtig war?

Ja, dann – ob mit oder ohne Grund – dann war Rottrauts Zeit hier abgelaufen. Dann konnte sie nicht einen Tag länger bleiben. Das war sie Björn, das war sie Julia, das war sie am meisten sich selbst schuldig. –

Während dessen schlenderte Björn mit der Flinte durch die Felder, ohne auch nur im geringsten auf ein Beutestück zu achten. Er wollte nur aus dem Hause fort sein, aus dem Hause, in dem sich ihm alles mehr und mehr in Qual verwandelte. Wenn er sich tagsüber rechtschaffen müde machte, so hatte das auch noch den Vorteil, daß er dann nachts besser schlief und nicht mit nervöser Hartnäckigkeit auf jedes Geräusch in und außer dem Hause lauschte.

Er hatte heute den ganzen Vormittag junge Pferde zugeritten. Alle Glieder thaten ihm weh. Es war eigentlich ein Unsinn, jetzt noch umherzulaufen; obendrein allein –

Früher, als er beabsichtigt, kehrte er heim.

›Ich will doch noch durch den Garten gehen und nachsehen, was Traute macht,‹ dachte er und kam unmittelbar von den Weiden durch einen Schlupf in der Hecke herein. Er fand die arbeitenden Frauen ohne Aufsicht; sie gaben ihm die Richtung an, in der Rottraut sich vor kurzem entfernt haben sollte.

Er fand ihre Fußspuren auf den sauber gehaltenen Wegen und folgte ihnen. Und so fand er auch Rottraut.

»Aber Traute – was ist denn los?« rief er ganz erschrocken, als sie sich vergeblich bemühte, ihm ihr verweintes Gesicht zu verbergen.

»Ach – nichts. Eine dumme Laune. Wirklich, weiter nichts. – Es ist übrigens gut, daß du kommst. Ich wollte dir noch sagen, wir haben viel zu viel Wintergemüse für den eignen Bedarf. Es kann über die Hälfte davon verkauft werden. Das giebt eine schöne Einnahme.« Er schien gar nicht zu hören, was sie sagte, sondern sah sie immer nur besorgt an.

»Hast du kein Vertrauen zu mir, Traute?« fragte er. Sie stutzte; dann zuckte es schelmisch um ihren Mund.

»Du hast mir ja damals auch nicht sagen wollen, was dich drückte –«

»Aber Traute!« klang es vorwurfsvoll.

»Nicht etwa, daß ich Gleiches mit Gleichem vergelten wollte,« lenkte sie schnell ein. »Ich bin nur zufällig in einer ähnlichen Lage. Ich kann auch nicht sprechen über das, was mich eben traurig machte; weil ich mich schäme, weil es so unwichtig ist und gar nicht der Mühe wert, darüber zu reden, geschweige denn zu weinen. Und nun komm, du mußt dir wirklich meinen Gemüsereichtum ansehen und darüber bestimmen!«

Er folgte ihr willig aber gedankenschwer, und es kam ihn hart an, dem praktischen Vortrag zuzuhören, den sie ihm zwischen den durchwühlten Beeten hielt.

Von nun an hatte Björn ein aufmerksameres Auge auf Rottraut. Er blieb sogar mehr im Hause, um besser beobachten zu können. Eingetretenes, frühherbstliches Regenwetter gab ihm einen willkommenen Vorwand.

Und da mußte er es endlich merken: Julias scharfes, gereiztes Wesen sowohl als Rottrauts rührende Sanftmut dem gegenüber.

Björn beurteilte die Sachlage sofort ganz richtig. Er beschloß indes, zu thun als merke er nichts, in der festen Annahme, Julia werde sich mit der Zeit von selbst wieder beruhigen und zur Vernunft kommen.

Er irrte sich. Es wurde nicht besser, sondern täglich schlimmer. Er entdeckte oft, daß Rottraut rote Augen hatte, und würde auch ohnedem gemerkt haben, daß sie litt. Sie hatte so etwas Unsicheres, Geängstetes in ihrem Wesen. Und endlich hielt er es für seine Pflicht, ihr zu Hilfe zu kommen.

Er benutzte dazu eine Stunde, in welcher der Ärger, der jetzt oft in ihm kochte, schwieg und einer überlegenen Beurteilung Platz gemacht hatte. Es war abends, und Rottraut hatte, Müdigkeit vorschützend, bereits ihr Zimmer aufgesucht.

»Sage doch, Julia,« begann er sehr ruhig, »was hat Rottraut seit einiger Zeit?« Julia wurde ein wenig blasser.

»Was soll sie haben?« fragte sie, erstaunt thuend.

»Sie ist stiller und gedrückt. Sie zieht sich auffallend zurück. Und sie sieht öfter verweint aus.«

»So – das ist mir ja noch gar nicht aufgefallen. Ich beobachte sie freilich wohl auch nicht so aufmerksam wie du!«

»Dazu gehört keine große Beobachtung. Das sieht man, ohne es sehen zu wollen.«

Julia sagte nichts mehr, sondern fing an zu lesen.

»Möchtest du nicht das Buch hinlegen, wenn ich mit dir spreche!« sagte er in so strengem Ton, daß sie vor Schreck augenblicklich gehorchte. »Wenn du meine Frage nicht beantworten kannst,« fuhr er fort, »so werde ich sie anders stellen: Was hast du seit einiger Zeit gegen Rottraut?«

»Ich –?« meinte Julia unschuldsvoll und wurde noch blasser dabei.

»Ja, du. Du bist geradezu unausstehlich mit ihr.«

Sie lachte gezwungen. »Wirklich? – Ach – weißt du, ich überlege mir gar nicht, wie ich mit ihr bin.«

»Um so schlimmer, wenn dies Benehmen dir unwillkürlich und ein Ausfluß deiner Gesinnung gegen sie ist.«

»Aber Björn –«, sie wurde nun doch etwas unsicher – »ich habe wirklich nicht die Absicht, unfreundlich gegen sie zu sein. Ich bin eben auch mal angegriffen oder nervös – dann kann man nicht immer schmelzend liebenswürdig sein.«

»O, es ist ein großer Unterschied und leicht zu merken, ob es nur an der Liebenswürdigkeit, oder an der Liebe fehlt!«

»Und wenn es an der Liebe fehlt,« rief sie trotzig, »was geht's dich an?«

»Es geht mich wohl etwas an!« Er hielt noch immer an sich. »Ich kann es nicht dulden, daß irgend jemand, dem ich in meinem Hause Heimatsrecht gab und den ich in meinen Familienkreis aufnahm, von dir schlecht behandelt wird.«

»Wieso behandle ich sie denn schlecht?« fragte Julia herausfordernd. Er hielt es nicht der Mühe wert, darauf zu antworten.

»Du nimmst das alles viel zu tragisch,« sagte sie einlenkend. »Rottraut hat dir vielleicht einmal etwas vorgeweint –«

»Sie hat mir nie etwas vorgeweint,« unterbrach er; »sie ist viel zu stolz und viel zu rücksichtsvoll dazu.«

»Nun – dann wird sie es wohl selbst nicht so schlimm finden. Sie ist überdies sehr empfindlich, das gute Kind –«

»Wenn sie das, was du ihr zumutest, nicht empfinden sollte, so müßte sie kein Herz oder keine Ehre haben. Und selbst angenommen, es wäre an dem, so werde ich es doch wegen meines Hauses Ehre nicht dulden. Kurz und gut, Julia, ich verlange von dir, daß du dich zusammennimmst, deine Launen beherrschst und Rottraut den Aufenthalt in meinem Hause nicht unerträglich machst. Hast du mich verstanden?«

Er sprach fast nie in diesem Ton zu ihr. Es that ihr entsetzlich weh, und daß er um dieses Mädchens willen so zu ihr sprach, brachte sie fast um die Besinnung. – Sie brach in Thränen aus.

»Sei nicht so hart gegen mich, Björn! Du weißt nicht, wie unglücklich ich bin!«

Ihr Weinen stimmte ihn unbehaglich. »Warum bist du unglücklich?« sagte er rauh. »Du hast nicht die geringste Veranlassung dazu!«

»So? Keine Veranlassung – – –«

Er wandte sich schroff zu ihr um. »Und was denn für eine?« In seinen Augen funkelte etwas so Drohendes, Warnendes, daß sie nicht den Mut hatte, es auszusprechen. Dieser drohende Blick, der ihn so männlich machte, der ihr Angst einflößte, entfesselte ihre ganze Leidenschaftlichkeit.

»Björn!« rief sie außer sich, sprang auf, kniete vor ihm hin und legte ihr weinendes Gesicht in seinen Schoß, wie sie immer that, wenn sie sich vor Liebe zu ihm nicht lassen konnte, »Björn, es kommt ja doch alles nur, weil ich dich so über alle Vernunft und Einsicht liebe! Weil ich es nicht ertragen kann, wenn du mit einer andern freundlich bist – freundlicher als mit mir, ja, das bist du oft! Und am wenigsten kann ich ertragen, wenn ich sehe, daß die andre es mehr verdient, als ich! Wenn du meiner überdrüssig bist, wenn ich dir nicht genüge – ich kann es dir ja nicht verdenken, ich weiß überhaupt keine, die genug für dich ist – so schick mich doch fort, so trenne dich doch von mir, du thust dann nichts Schlechteres, als ich mit Eberhard gethan habe! – Aber das sag' ich dir,« rief sie leidenschaftlich, ballte die Faust, hob den Kopf, und ihre Augen funkelten wild, »wenn du das thust – ich ertrag's nicht, ich ermorde dich oder mich – oder uns beide! Ich lasse dich keiner andern!«

Sie zitterte am ganzen Leibe. Björn sah traurig auf sie nieder. Was sie sagte, überraschte ihn nicht sehr; er war darauf vorbereitet gewesen. Aber ihre zügellose Heftigkeit erschreckte ihn.

»Du sollst mich lieb haben, Björn,« rief sie außer sich und warf sich schluchzend an seine Brust. »Lieber als alle andern!« Er zog sie vollends auf seinen Schoß und legte die Arme um sie wie zum Schutz gegen ihre eigne Leidenschaftlichkeit.

»Ich habe dich ja lieb, Julia!« sagte er mühsam.

»Du sollst es nicht bloß sagen – ich will es auch fühlen, ich will ganz fest davon überzeugt sein!«

»Was soll ich denn thun, um dich zu überzeugen!« Sie antwortete nicht; aber sie erstickte ihn beinahe in ihren Armen. Björn fing an, sie zu streicheln und zu liebkosen; er küßte sie auch, sanft und innig, wie man ein aufgeregtes Kind küßt, und hielt sie dabei fest in seinen Armen, wie ein Engel der Barmherzigkeit. Sie weinte sich aus, und er wartete geduldig, bis sie fertig sein würde. – Allmählich beruhigte sie sich.

»Nun sage mir nur, mein einziges Kind,« fragte er liebreich, ohne sie loszulassen, »warum machst du dir und mir solche Aufregungen?«

»Ach – ich liebe dich so!« Das war ihre einzige Antwort auf all seine Fragen, auf all sein verständiges, gütiges Zureden. Das war ihre Erklärung, ihre Rechtfertigung, ihre Entschuldigung. Alles in ihr war Kind geblieben. Nur diese Liebe hatte zügellosen Umfang angenommen.

»Und was sollen wir denn nun mit Rottraut machen?« fragte er zuletzt, doch ein wenig unsicher. »Sollen wir sie wegschicken?«

»Ach nein –« rief sie erschreckt. Diese Folge ihres Benehmens schien ihr doch zu ernsthaft in jeder Beziehung. Er atmete unwillkürlich auf.

»Dann wirst du dich doch wohl bemühen müssen, den alten Ton ihr gegenüber wiederzufinden! Ihr waret doch so gut miteinander und hattet euch so lieb! Laß doch euer Verhältnis nicht an solchen unsinnigen Wahnvorstellungen scheitern! Du hast doch selbst so viel gewonnen durch ihren Eintritt in unser Haus!«

Julia sah bedrückt vor sich nieder.

»Sie war mir auch wirklich sehr lieb geworden,« gestand sie beschämt.

»Nun, siehst du – so beraube dich nicht selbst der fast einzigen Gesellschaft, die du hast!«

Mehr als all sein freundliches Zureden half es, wenn er sie zwischendurch streichelte und küßte. Endlich war sie wieder ganz getröstet. Und wie immer, einzig nur mit sich beschäftigt, entging es ihr, daß sein Gesicht kummervoll blieb.

Es war spät geworden, und die maßlose Aufregung hatte sie müde gemacht. Mehreremale hatte sie Björn schon Gutenacht gesagt und konnte sich noch immer nicht aus seinen Armen lösen.

»Geh nur,« sagte er endlich und schob sie sanft von sich. »Ich komme nach.« Da ging sie, zögernd, als klebten ihre Sohlen an den Dielen; als läge Gefahr darin, wenn sie ihn nur einen Augenblick aus den Augen ließ.

Als sie oben an Rottrauts Thür vorüberkam, glitt ein zufriedenes Lächeln über ihr Gesicht. Rottraut wußte nicht, wie seine Küsse thaten, und würde es nie erfahren – –

Björn unterdrückte ein Stöhnen, als sie hinaus war. Er reckte sich, als sei ein Panzer von ihm abgefallen.

Möchte Gott ihn vor mehr solchen Stunden bewahren; diese war eine der schwersten seines Lebens gewesen, und er war sich nicht sicher, eine häufige Wiederholung ertragen zu können. Und doch sagte er sich, daß noch schlimmere Stunden ihm bevorstanden.

Einstweilen hieß es abwarten und soviel als möglich ausgleichen. Für heute schien es ihm gelungen, Julias eifersüchtige Zweifel niederzuschlagen; eine Weile mochte es nun wieder gehen. Es ging vielleicht um so länger, je zärtlicher er mit ihr war, je mehr von seiner Zeit er ihr widmete.

Rottraut würde zu kurz dabei kommen; sie würde nun auch noch von ihm zurückgesetzt werden. Aber das half nichts, das war nicht die Hauptsache.

Wenn es nicht anders wurde, so mußte Rottraut fort. Wie und wohin würde sich schon finden.

Björn wurde blaß; er schloß die Augen, seine Lippen preßten sich aufeinander wie in heftigem Schmerz, und sein frisches, jugendliches Gesicht bekam einen alten, müden Zug.


Eine Weile ging es auch.

Es war nicht die alte Unbefangenheit zwischen ihnen, und die Fröhlichkeit hatte oft etwas Erzwungenes. Aber man zankte sich doch nicht, es fielen keine gehässigen Bemerkungen, es gab keine Thränen und Scenen. Aber es gab auch kein helles Lachen, kein harmloses Scherzen, keine rechte Gemeinsamkeit im Arbeiten und im Genießen. Jeder hielt sich für sich, ging schweigsam seinem Tagewerk nach und sprach nicht viel davon. Es war etwas Totes in diesem Frieden.

Björn erkannte Julias Bestrebungen, höflich und freundlich zu sein, an, und ermunterte sie durch häufiges Lob. Er ließ sich täuschen; denn Julia nahm sich nur aus Angst zusammen, und nicht etwa, weil sie die Unsinnigkeit ihrer erregten Gedanken eingesehen hätte. Heimlich beobachtete sie ihren Mann und das Mädchen unausgesetzt, und hatte keine Auffassung dafür, daß es sie selbst entwürdigte, wenn sie den beiden beständig nachspürte. Daß sie nichts, auch nicht das Geringste entdecken und erspähen konnte, was ihr Mißtrauen gerechtfertigt hätte, erhöhte es, statt es zu zerstreuen, und verschärfte ihre eifersüchtige Qual, statt sie zu lindern.

Björn merkte es nicht, weil er es nicht merken wollte. – Aber Rottraut fühlte alles nach wie vor, sie litt schweigend weiter darunter. Daß Julia sich zusammennahm, war auch keine Linderung für sie. Mit ihrem hellem Verstande führte sie den Zwang, den jene ihren Launen anthat, auf eine Auseinandersetzung mit Björn zurück, von der sie zwar nie erfuhr, die aber ihrer Ansicht nach zweifellos stattgehabt haben mußte.

Sie wurde noch bestärkt in dieser Annahme durch die auffallende Zurückhaltung, mit der Björn sie behandelte. Sie zürnte ihm nicht darum, sie war ihm dankbar dafür; sie wußte, es geschah aus Rücksicht auf Julia, und es erwuchs ihr selbst eine wesentliche Erleichterung dadurch, so schmerzlich sie seine warmherzige Güte gerade jetzt vermißte.

Daß Björn um alles wußte, teils aus eigner Beobachtung, teils aus Julias Klagen, war ihr sonnenklar. Und das fiel ihr fast am schwersten. Sie schämte sich schrecklich vor ihm, obwohl sie keinen Grund dafür hatte. Es erfüllte sie mit heißem, ohnmächtigem Zorn, wenn sie sah, wie Björn mit dieser Frau und ihren Schwächen umging, und wie sie es ihm lohnte. Sie sehnte sich danach, mit Björn über das alles zu sprechen; aber sie wußte, das war unmöglich.

Mehr und mehr erwog sie den Gedanken, dieses Haus zu verlassen und sich anderswo einen Platz und eine Pflicht zu suchen. Sie sah voraus, daß es eines Tages so kommen mußte, wenn Julias Stimmung eine dauernde blieb; und sie sagte sich, daß es am besten sein möchte, wenn sie mit einem raschen Entschluß der nahenden Notwendigkeit zuvorkäme. – Aber wie sollte sie einen solchen Entschluß begründen? Würden dadurch nicht gewaltsam Dinge ans Licht gezogen, die besser nie beleuchtet wurden?

Und noch eins ließ sie immer wieder wankend werden in ihrem Entschluß. Das war die Todesangst, die sie ergriff bei dem Gedanken an eine Trennung von hier. Sie erschrak über die schmerzhafte Gewaltsamkeit ihrer Empfindungen für dies Haus. Aber sie hätte sich ja lieber hier auf dem kleinen Kirchhof begraben lassen, als fern von hier weiter zu leben.

So behielt sie einstweilen ihre Gedanken für sich und litt und liebte und wartete schweigend weiter.

Es war Ende September noch einmal sehr heiß geworden. Am Tage hatte die Luft nichts von herbstlicher Frische und Reine, sondern lastete still, schwer und blendend auf dem flachen Lande und seinen abgeernteten Feldern. Nur zur Nachtzeit kam wohlthätige Abkühlung. Dann öffnete man alle Fenster, um sie einzulassen.

Rottraut schien sehr mitgenommen von der Hitze; sie sah oft welk und matt aus, und ihre Fröhlichkeit, mit der sie immer von neuem unverdrossen den Bann zu sprengen suchte, der auf ihnen dreien lastete, hatte etwas Wehmütiges. Ihr ernstes, oft schmerzlich grüblerisches Gesicht zu sehen, machte Björn unruhig; aber ihr rührendes Lachen zu hören, schnitt ihm ins Herz. Er sagte nie etwas darüber, auch nicht über ihr ermüdetes Aussehen. Er vermied es überhaupt soviel wie möglich, mit ihr zusammen zu sein.

Um so besorgter war er um Julia. Er verzog und verhätschelte sie, obgleich sie das Bild der Gesundheit und des Behagens war. Er las ihr die Wünsche von den Augen ab und nahm die unbegreiflichsten Rücksichten auf sie. Er schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, sich in Ritterdiensten gegen diese Frau zu erschöpfen. Und Julia nahm das alles hin wie einen ihr zukommenden Tribut. Sie setzte eine selbstbewußte, triumphierende Miene auf, wenn Rottraut zugegen war, und trug eine siegesgewisse Zärtlichkeit gegen Björn vor ihr zur Schau.

War sie allein mit ihm, so hatte er es schwer mit ihr. Sie war über alle Begriffe launenhaft in ihrer Stimmung; bald stieß sie ihn zurück mit den unsinnigsten Beschuldigungen – bald erschöpfte sie sich in heißen Liebesbeteurungen. Fortwährend verlangte sie, daß er ihr seine Liebe beweise.

»Ich will sie fühlen, ich will ganz überzeugt davon sein!« Er ertrug alles mit bewundernswerter Ruhe und Geduld. Aber das paßte ihr erst recht nicht. Er hätte rasen sollen – natürlich nicht gegen sie.

Rottrauts Namen hatte sie nicht wieder vor ihm zu nennen gewagt. Sie hatte immer im untersten Grunde ihrer Seele die Angst, sich seine Liebe zu verscherzen, wenn sie seinen Unwillen erregte. Aber einmal, durch seine unerschütterliche Geduld und Sanftmut gereizt, ließ sie sich doch wieder hinreißen.

»Du behandelst mich wie ein thörichtes Kind. Aber ich bin nicht so dumm, und was ich nicht höre, das fühle ich. Denkst du, ich lasse mich dadurch täuschen, daß du mit Rottraut nicht mehr sprichst? Sehe ich doch die zärtlichen Blicke, mit denen du sie immer beobachtest –«

Sie hielt inne, erschrocken über sich selbst, und sah ängstlich nach ihm hin. Er war ganz bleich geworden unter seiner braunen Haut, und ein heiliger Zorn machte seine Augen leuchten und seine Gestalt beben.

»Ich verbiete dir ein für allemal, solche leichtfertigen Reden zu führen. Du solltest dich ihrer schämen, vor dir und vor mir. Meine Geduld mit dir ist groß; aber das erträgt sie nicht.«

Ohne einen weitern Blick, ein weiteres Wort verließ er festen Trittes das Zimmer und klinkte die Thür hinter sich ein. Julia stand sekundenlang wie versteinert. Dann warf sie sich auf den ersten besten Stuhl und weinte wie eine Verzweifelte.

Da trat Rottraut ein. Sie hatte eine wirtschaftliche Meldung machen wollen. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, erstarb ihr das Wort auf den Lippen, und sie blieb stumm vor Schreck.

»Julia – um Gotteswillen – was hast du denn?« sagte sie endlich und trat zögernd näher. Niemand hätte Julia in diesem Augenblick unwillkommener sein können. Sie wollte zu weinen aufhören und die Unbefangene spielen; aber ihr, die nie hatte Selbstbeherrschung üben können, gelang das natürlich nicht.

»Geh!« sagte sie heiser hinter ihrem Taschentuch hervor. »Ich will allein sein.«

Aber Rottraut ging nicht. Es wuchs ihr plötzlich ein großer Mut. Sie kam und kniete vor Julia hin und bemächtigte sich der Hand, die unruhig in ihrem Schoß hin und her zuckte.

»Julia, sag mir doch, was dir ist! Sprich dich aus, es wird dir gut thun!«

»Geh – ich kann dich nicht brauchen!« rief Julia und riß ihre Hand aus Rottrauts Fingern. Aber Rottraut ging immer noch nicht.

»Julia,« sagte sie weich und dringend, beinahe zärtlich, »warum willst du denn durchaus nichts von mir wissen? Wir haben uns doch so lieb gehabt! Denke doch an die Stunden, die wir zusammen verlebten, als wir uns kaum kannten, am Sterbebett meiner Mutter! Wie schnell brachten sie uns einander nah! Und dann, als ich zu euch kam – was für stille, schöne, friedliche Zeiten haben wir verlebt! Wie hat mir dein Frohsinn geholfen in meinem Kummer! Wie oft hast du mir gesagt, daß dir meine Anwesenheit dein Leben angenehmer und leichter mache! – Ist denn das nun alles aus und vergessen? – Sieh, ich habe dich lieb, Julia, herzlich lieb, und du thust mir weh, so wie du zu mir bist. Ich will mich darüber nicht beklagen. Ich weiß, daß du mich auch lieb gehabt hast. Ist denn das alles erloschen in deinem Herzen? – Du hast mir doch sonst alles erzählt; es gab nichts, was wir nicht gemeinsam besprochen hätten. Willst du denn nun gar kein Vertrauen zu mir haben?«

Julia schüttelte heftig den Kopf. Rottrauts Reden machten sie weich. Aber sie wollte nicht weich werden.

»Ich kann nicht,« sagte sie.

»So überwinde dich selbst und sage mir, was ich dir gethan habe, und warum du weinst! Es ist ja aufreibend, in diesem Zustand zu leben und nicht zu wissen, wie man ihn ändern kann!«

»Ich weine gar nicht um dich,« sagte Julia, als endlich eine Pause in ihrem Schluchzen eintrat. »So wichtig bist du überhaupt gar nicht. – Schick mir Björn!« rief sie fast heftig und drückte von neuem das Taschentuch vor das Gesicht. Bereitwillig erhob sich Rottraut.

»Weißt du, wo er ist?«

»Wenn du es nicht weißt – wie sollt' ich es wissen!« Rottraut warf ihr einen langen, sonderbaren Blick zu; beinahe verächtlich. Dann ging sie nach der Thür.

»Nein – bleib hier!« rief ihr Julia hastig nach. »Rufe ihn nicht.« Rottraut blieb unschlüssig stehen und unterdrückte einen unmutigen Seufzer.

»Was willst du nun eigentlich, Julia?« fragte sie ratlos.

»Ach, ich bin so unglücklich!« schluchzte Julia.

»Dazu hast du aber doch wirklich keine Veranlassung!« Julia sah betroffen auf – dasselbe hatte neulich Björn gesagt. Hatten sie sich verabredet? – Und Julia fühlte sich noch unglücklicher; geradezu kläglich. Die Sehnsucht nach Björn, die Angst vor seinem Unwillen gewannen wieder die Oberhand.

»Ich habe wohl Veranlassung. Björn ist böse mit mir. Du kannst das natürlich nicht verstehen. Du weißt ja nicht, was es heißt, lieben und geliebt zu werden – von solchem Manne!«

»Wenn ihr euch gezankt habt,« sagte Rottraut ziemlich kalt, »so wirst du wohl schuld haben. Also geh hin und bitte um Verzeihung.«

»Natürlich!« lachte Julia auf. »In euren Augen habe ich ja immer schuld – in Björns Augen dir gegenüber, in deinen Augen ihm gegenüber.«

Rottraut überhörte großmütig auch diesen Stich. »Angenommen also, du habest nicht schuld – so betrachte es als dein schönes Frauenrecht, dennoch die erste zu sein, welche die versöhnende Hand reicht!« Aber Julia schüttelte wieder den Kopf.

»Nein, nein, es geht nicht. Ich habe Angst vor ihm. Ich habe etwas gethan, gesagt, was er mir niemals verzeihen kann!«

Rottraut machte ein betroffenes Gesicht. Was mußte sie gesagt haben, das sie selbst für unverzeihlich hielt! – Und wie konnte sie Angst haben vor Björn, vor ihm, der gegen niemand so gut und so nachsichtig war, wie gegen diese Frau!

Der Wunsch, zu helfen, beseelte ihren sinkenden Mut.

»Julia, Julia,« sagte sie traurig und liebevoll, »warum beschwörst du immer von neuem solche Scenen herauf, die euch beide unglücklich machen! Diese Scenen haben keinen Grund – aber sie können endlich die Veranlassung werden, daß Björns Liebe zu dir sich abkühlt. Vergiß das doch nicht! Es gehört oft eine wahre Engelsgeduld dazu, deine Launen zu ertragen. Dazu hast du ihn doch nicht geheiratet, um deine Launen an ihm auszulassen!«

Zum erstenmal seit langer Zeit war Julia wieder einmal zugänglich für solche Worte. Zarter, liebevoller wie Rottraut, und doch dabei so ernst und ehrlich, hätte keiner mit ihr über diese Dinge reden können. Und doch würde es nicht viel nützen können, denn jede hütete sich ängstlich, an die Wurzel alles Übels zu rühren. Julia, weil sie wußte, daß sie dann vor eine peinliche Entscheidung gestellt werden würde; Rottraut, weil sich ihre reine Seele immer noch dagegen sträubte, an solche Gründe zu glauben.

Nachdem es ihr beinahe gelungen war, Julia von ihrer Schuld an allem zu überzeugen und ihr begreiflich zu machen, daß sie allein es in der Hand habe, die gestörte Harmonie wieder herzustellen, ging es plötzlich über das ruhiger gewordene Gesicht der Frau wie eine dunkle Wolke, die der Schatten eines finstern Gedankens schien, der durch ihre Seele zog.

»Warum giebst du dir eigentlich soviel Mühe mit mir?« fragte sie mit einem lauernden Blick. Rottraut sah ahnungslos auf und verstand nicht.

»Nun – meinetwegen und um mir zu helfen doch gewiß nicht!«

»Nur deshalb!« rief Rottraut freudig. »Natürlich – wenn dir geholfen ist, so ist uns allen geholfen,« setzte sie hinzu.

»Siehst du?« sagte Julia bitter. »Wenn es dir gelänge, meine Zweifel zu zerstreuen und mich in so eine recht tiefe Ruhe einzuwiegen, so hättest du ja viel leichteres Spiel. Und für Björn wäre es ja auch viel angenehmer, wenn ich dauernd erblindete und nicht sähe, was um mich her vorgeht –«

Julia glaubte selbst nicht die Hälfte von dem, was sie sagte. Es war nur ihre Taktik, durch solche verletzenden Andeutungen die Wahrheit herauszubekommen.

Rottraut war bei ihren Worten gewesen, als sei in ihrem Herzen etwas gemordet worden. Eine Totenstille kam über sie, und die Glieder wurden ihr schwer.

»Laß gut sein, Julia,« sagte sie sanft und beschwichtigend. »Ich weiß etwas, das wird dir gut thun –«

»Nun –?« fragte Julia, etwas eingeschüchtert durch die unerwartete Wirkung ihrer Worte.

»Ich kann es dir nicht jetzt gleich sagen –«

»Du mußt es wohl erst mit Björn besprechen?«

»Nein. Aber mit mir selber.« Es wäre ihr in der That unmöglich gewesen, das verhängnisvolle Trennungswort in diesem Augenblick zu sprechen. »Ich hoffe, es läßt sich machen,« setzte sie noch hinzu. »Und nun – weshalb ich vorhin kam – die Waschfrauen müssen noch Seife haben. Willst du mir die Vorratsschlüssel geben?«

Schweigend nahm sie sie in Empfang; schweigend ging sie hinaus. Julia sah ihr mit Herzklopfen nach.

»Sie will fort!« sagte sie sich und wußte nicht, ob sie Freude oder Angst dabei empfand. »Es wäre noch das beste, wenn sie selbst zu gehen verlangte. Hierbleiben kann sie nicht. Ich ertrage es nicht. Ob ich recht habe oder nicht mit meinen Vermutungen – schon der bloße Gedanke macht mich rasend. – Aber was wird Björn sagen –?« Plötzlich strahlte ihr Gesicht auf wie bei einer Entdeckung. »Dabei wird es sich ja herausstellen, ob er lügt oder nicht. Liebt er mich am meisten, so wird er einsehen, daß sie gehen muß. Liebt – er – sie – mehr –« sie würgte an dem Gedanken und dachte ihn nicht weiter. »Schließlich ist es doch recht unangenehm, wenn sie wirklich fortgeht, dann fängt meine Einsamkeit wieder an!«

Inzwischen stand Rottraut in der Vorratskammer und zählte die viereckigen, schön gelb glänzenden Seifestücke in den Korb.

›Ich muß es ihm sagen, heute noch. Ich muß es ihm sagen.‹ – Es war schon später Nachmittag, und den ganzen Abend fand sich keine Gelegenheit für sie, Björn zu sprechen. Es war ihr auch fast lieb, denn sie hatte noch keine Ahnung, wie und was sie ihm sagen wollte, was sie sagen mußte. Und hätte sie es gewußt, so hätte ihr der Mut gefehlt.

Julia war sehr freundlich gegen sie; als ob sie etwas wieder gut machen oder etwas aus ihr herausbekommen möchte. Aber Rottraut schien ihre Freundlichkeit gar nicht zu bemerken und that im übrigen, als sei nichts zwischen ihnen vorgefallen. Ebenso schien auch Björn den Auftritt, den Julia ihm gemacht hatte, überwunden und verziehen zu haben. Sonst freute sich Rottraut über solch großmütiges Einlenken seinerseits. Heute ließ es sie völlig kalt.

Sie sagte ihm Gutenacht, ohne daß sie ihr Anliegen hatte anbringen können.

›Also morgen –‹ sagte sie sich, als sie schweren Herzens ihr Giebelzimmer betrat.

In der Nacht kam ein Gewitter. Rottraut, die schlaflos auf ihrem Bette lag, hörte es von weitem leise grollen und murren. Sie setzte sich auf und sah es in dem dichtgeballten Gewölk zuckend leuchten. Sie liebte die Gewitter; heute besonders war ihr so recht danach zu Mut, es um sich herum toben und stürmen zu hören. Sie stand auf, kleidete sich notdürftig an und setzte sich an das offene Fenster. Und während das Wetter näher kam, die Wolken sich über den halben Himmel breiteten, die Blitze schärfer und der Donner lauter wurden, bewegte sie in ihrem Herzen immer nur die eine Frage:

»Wie sag' ich es ihm! Wie sag' ich es ihm! So, daß er es einsieht, und daß es ihn doch nicht kränkt! So, daß er mir den Willen läßt und Julia darum nicht zürnt!«

Aus der Ferne nahte sich ein hohles Brausen, das in wenigen Sekunden die Kronen der Bäume im Garten auseinanderbog. Große, schwere Tropfen fielen klatschend nieder. Welke Blätter wirbelten in der Luft herum und zum Fenster herein. Ein Fauchen und Heulen stob durch das ganze Haus, und dann flog mit lautem Klirren ein Fenster zu.

Rottraut fuhr erschreckt auf. Erst jetzt dachte sie daran, daß man vor dem Zubettgehen unten alles geöffnet hatte, um die Nachtkühle in die schwülen Stuben einziehen zu lassen. Schnell warf sie eine Jacke über und schickte sich an, hinunter zu gehen. Das Licht, das sie angezündet hatte, löschte der Zug ihr sofort wieder aus. Da tastete sie sich mit Leichtigkeit den wohlbekannten Weg im Dunkeln hinab.

Sie ging durch die ganze Zimmerreihe, behutsam ein Fenster nach dem andern schließend. Nur an Björns Stube ging sie vorbei. Sie wußte selbst nicht, warum – sie mochte da nicht ungerufen eintreten.

In Julias Zimmer war das Fenster zerbrochen. Als Rottraut den im Winde hin und her schwankenden Flügel zumachen und festriegeln wollte, fielen ein paar große Glasstücke mit lautem Geklimper zersplitternd auf die Diele.

»Wenn nur niemand davon aufwacht!« dachte sie unwillkürlich. Da kam wieder ein greller Blitz und gleich darauf ein heftiger Donner. Rottraut faltete unwillkürlich die Hände.

»Wäre es doch nur erst gesagt!« dachte sie mitten in allem Schreck und Schauder.

Plötzlich ging eine Thür auf, und ein blendender Lichtschein erfüllte die Dunkelheit. Björn stand im Zimmer, die Lampe in der Hand.

Er prallte förmlich zurück, als er Rottraut stehen sah. Sie selbst war in peinlichster Verlegenheit. Ihr unvollkommener Anzug, der lange Zopf, der ihr den Rücken hinunterhing, ihr verweintes, vergrämtes Gesicht – all das war ihr wohl bewußt und machte, daß ihr das heiße Blut bis in die Schläfen stieg. Sein Blick glitt erstaunt über sie hin.

»Aber Traute – was machst du denn hier – mitten in der Nacht?«

»Ich hörte das Fenster klirren – da fiel mir ein, daß alles offen stand – da kam ich herunter –« stotterte sie.

»So – nun, aus demselben Grunde bin ich hier. Es klirrte ja wohl schon zum zweitenmal –« er stellte die Lampe aus der Hand. »Laß mal sehen – ist das Fenster entzwei?« Er kam heran und untersuchte den Schaden. Es war zu merken, daß er es nur that, um die Zeit auszufüllen. Er faßte das Glas so gedankenlos an, daß es ihn in die Hand schnitt.

»Morgen müssen wir nach dem Glaser schicken. Das Wetter kann jähe Abkühlung bringen. – Fürchtest du dich oben allein, Traute?«

»O – keine Spur; ich will jetzt auch wieder gehen. Verzeih nur –« schloß sie mit einem beredten Blick auf ihren Anzug.

»Du siehst sehr angezogen aus,« tröstete er. Das schien sie zu beruhigen. Plötzlich, schon im Gehen begriffen, drehte sie sich um und stand still.

»Es ist zwar ein sehr unpassender Augenblick,« sagte sie und wagte nicht aufzusehen, »aber ich möchte es dir doch jetzt sagen – ich weiß nicht, wann ich sonst dazu komme. – Ich muß fort, Björn.«

Nun war es heraus, und sie fühlte sich fast erleichtert.

»Du mußt fort – so! Warum denn, wenn ich fragen darf?« Er stand breit und fest vor ihr und sah sie gleichfalls nicht an.

»Ich kann ja doch nicht dauernd hier bleiben – euch zur Last fallen – ich muß ordentliche Pflichten haben – mir etwas verdienen. Später werde ich ja doch wohl auf eignen Füßen stehen müssen – da ist es doch besser, ich gewöhne mich bald daran – statt mich hier von d– – von euch verziehen zu lassen –« stammelte sie immer verwirrter und unsicherer. Er hatte währenddessen langsam den Kopf gehoben und sah sie nun mit traurigen Augen an.

»Und das alles ist dir so plötzlich eingefallen – muß so eilig ausgeführt werden, daß du es mir mitten in der Nacht sagen mußt?« Sie wollte etwas erwidern, sah ihn aber nur kläglich an und schwieg. Da atmete er tief auf.

»Laß nur, mein Herzenskind,« sagte er. »Ich weiß schon, warum du gehen willst; ich kann es dir nicht einmal ausreden. Du bist die einzige von uns, die den Mut hatte, das Notwendige zu sagen und zu thun –«

Also er widersprach ihr nicht, legte ihr keine Schwierigkeiten in den Weg; er war einverstanden mit ihrer Absicht.

Sie sah zu ihm auf, erleichtert und doch sehr, sehr unglücklich. Er konnte es nicht mehr ertragen, sie so zu sehen. Seine Kraft wankte.

»Geh nur jetzt wieder zu Bett, Traute. Morgen besprechen wir das Weitere. Du kannst natürlich fort, wann und wohin du willst.«

Sie neigte ergeben das Köpfchen und wollte gehen.

Da öffnete sich noch einmal die Thür. Auf der Schwelle erschien Julia. Sie hatte ein ganz verzerrtes Gesicht und trug nur ein kurzes dünnes Röckchen über ihrem weißen Nachthemd. Björn schämte sich, als er sie sah.

»So!« rief sie und lachte mißtönend, »also darum warst du noch nicht müde, Björn! Die dunkle Nacht benutzt ihr zu eurem Treiben, und meine Zimmer entweiht ihr dazu?«

Rottraut stand wie gelähmt. Leichenblaß, starrte sie Julia an mit Augen, die ihr fast aus dem Kopf sprangen vor Angst und Zorn. Björn aber sagte mit unnatürlicher Ruhe:

»Du bist nicht gescheit, Julia! Das Fensterklirren – du hast es doch wohl auch gehört – rief sie und mich herbei –«

»Ich habe nichts gehört!« sagte sie feindselig.

»Du kannst dir ja die zerbrochene Scheibe ansehen,« meinte er mit einer lässigen Handbewegung. »Ich habe mich sogar in den Finger geschnitten,« fuhr er fort, und wickelte sein Taschentuch um die blutende Stelle. Sie zuckte die Achseln.

»Der Wind that euch vielleicht den Gefallen,« meinte sie boshaft. »Mich werdet ihr nicht dumm machen. Aber ich habe es jetzt satt –«

»Rottraut hat es auch satt,« sagte Björn und stellte sich unwillkürlich zwischen beide.

»Warum ist sie dann noch hier?« rief Julia trotzig.

»Aus Rücksicht auf mich wahrscheinlich.«

»Sie hat keine Rücksichten zu nehmen auf dich – nur auf mich!«

»Liebe Traute,« sagte Björn, sich zu dem Mädchen wendend, »ich bitte dich, geh hinauf! Thu es mir zuliebe!«

Rottraut ging ohne Widerrede.

»Wenn du wieder einmal nachts umgehst, so zieh dich wenigstens anständig an,« rief Julia ihr hämisch nach. Sie erwiderte keinen Ton; aber Björn sah noch, wie sie zusammenzuckte.

»Meinst du etwa, du seist anständig angezogen?« fragte er scharf. »Oder du betrügest dich anständig? Schämen solltest du dich, diesem Kinde einen solchen unwürdigen Auftritt zu machen.«

»Du brauchst sie gar nicht in Schutz zu nehmen –«

»Jawohl werde ich sie in Schutz nehmen. Ich werde es auf keinen Fall dulden, daß jemand, der unter meines Daches Schutz steht, schlecht behandelt und gar beleidigt wird. Und weil es nicht in meiner Macht steht, dies zu verhindern, so wird Rottraut dieses Haus morgen verlassen.«

Das kam ihr denn doch überraschend.

»Was hat sie dir gesagt –«

»Das kann dir ganz gleichgültig sein. Wenn du behauptest, du seiest nicht blind – nun, so bin ich es auch nicht. Sie hätte kein Wort zu sagen brauchen – sie hat auch, glaube ich, keins gesagt – es war nicht schwer zu erfahren, wie du mit ihr umgingst. Lange genug habe ich still geschwiegen. Und wenn sie mir nicht soeben selbst den Wunsch ausgesprochen hätte –«

»Aha – so war es doch nicht nur das Fenster!«

»– von hier fortzugehen, wer weiß, wann ich den Mut gefunden haben würde, ihr die Notwendigkeit auszusprechen. Denn weißt du, Julia, ich schäme mich; schäme mich ganz entsetzlich in deiner Seele!« Es war, als ob ihr diese Worte, mehr noch der sie begleitende Ausdruck einen Stoß versetzten.

»Björn – du bist doch nicht böse auf mich –«

»Ja, ich bin sehr böse. Ich bin außer mir über dich.«

»Björn – du kannst es mir nicht verdenken! Sie hat meinen Frieden gestört, mein Glück untergraben. Sie stiehlt mir deine Liebe.« Er fuhr auf, als wolle er sie schlagen.

»Du überlegst wohl nicht, was du sprichst,« sagte er eisig.

»Ja, ich überlege es wohl. Ich weiß, was ich damit sage. Und wenn ich ein wenig übertreibe – über kurz oder lang wäre es doch wahr geworden. Denke doch nicht immer nur an sie, denke doch auch an mich! Das einzige, was ich habe, bist du! Ich liebe dich, ich vergöttere dich. Und du ziehst mir eine andre vor, du nimmst sie in Schutz gegen mich, du schiltst mich ihretwegen –«

»Weil du mich fortwährend in die Notwendigkeit versetzt, sie gegen deine ungerechten Anschuldigungen zu verteidigen.«

»Wenn du mich allein liebtest, so wäre dir das alles gleichgültig. Du würdest gar nicht danach fragen, ob sie glücklich oder unglücklich ist.«

»Beruhige dich – das nimmt ja nun alles ein Ende. Sie geht morgen fort.«

»Wohin –«

»Das weiß ich noch nicht. Das muß ich noch mit ihr besprechen.«

»Natürlich. Nun – vielleicht habt ihr dann die Güte, es mir mitzuteilen.«

»Selbstverständlich. Ich bitte dich, Rottraut morgen nicht mehr zu sprechen. Diese letzte Rücksicht kannst du wohl noch auf sie nehmen.«

Julia wurde blaß.

»Es ist doch am Ende mehr ihre Sache, zu vermeiden, daß sie mir nochmals unter die Augen tritt!«

Er hatte nicht Lust, diese Unterhaltung fortzusetzen, nahm die Lampe und wollte gehen.

»Björn –« rief sie ängstlich, »willst du mich so verlassen?«

»Was erwartest du denn noch?« fragte er kalt.

»Ein gutes Wort, Björn –«

»Das verdiene dir erst wieder.«

»Björn –«

Er hörte nicht auf diesen klagenden Schrei. Er ging hinaus, schloß die Thür und dachte nicht einmal daran, daß er sie im Dunkeln sitzen ließ. In seinem Zimmer riegelte er sich ein.

Julia überließ sich einem wahren Verzweiflungsanfall. Daß sie ihn erzürnt hatte, das war ihr das ärgste von allem.

»Ach was –« dachte sie endlich – »wenn Rottraut erst fort ist, dann findet sich das alles wieder. Dann hat er ja nur noch mich – und ich werde ihn wieder haben!«

Und bei verliebten Träumereien beruhigte sie sich über die große Tragik, die unerkannt und schweigend im Hause lagerte.


Rottraut fand die ganze Nacht keinen Schlaf mehr. Als der Tag dämmerte, stand sie auf, zog sich vollständig an und begann ihre Sachen einzupacken. Es stand bei ihr fest, daß sie heute noch fort mußte; wohin – das würde ihr Björn schon sagen.

Das Fenster hatte dauernd offen gestanden; es hatte eingeregnet, Vorhänge und Fußboden waren naß; die Luft im Zimmer war erquickend kühl und that Rottrauts schmerzendem Kopf, ihren heißgeweinten Augen wohl. Sie ging geschäftig hin und her, und bemühte sich, mit rüstigem Thun die Gedanken zu bändigen.

Gegen sieben Uhr klopfte Björn bei ihr an. Er streifte sie mit einem besorgten Blick und sah sofort, wie elend ihr zu Mut war.

»Guten Morgen, Traute,« sagte er herzlich und unbefangen, wie in solchen Augenblicken nur Menschen miteinander reden können, die innerlich eins sind und einander felsenfest vertrauen. »Das war eine schlechte Nacht. Hast du noch ein wenig schlafen können?«

Sie schüttelte betrübt den Kopf. Mitten im Zimmer stehend, betrachtete er die unvermeidliche Unordnung des Packens.

»Du machst dich wohl schon reisefertig?« Sie nickte. Er trat ans Fenster und blieb dort eine Weile schweigend stehen. Dann setzte er sich auf das Fensterbrett, verschränkte die Arme über der Brust und sprach, ohne sie aus den Augen zu lassen:

»Ich habe mir überlegt, was nun werden soll. Ich habe dir einen Vorschlag zu machen. Ich bringe dich jetzt gleich zu meinen Eltern. Die Hauptsache ist, daß du schnell hier fortkommst. Einmal dort, kannst du in Ruhe weiter überlegen. – Bist du einverstanden?«

Es schien nicht ganz so. Sie ließ den Kopf tief sinken.

»Was wirst du deinen Eltern sagen, um mein Kommen zu erklären?«

»Die Wahrheit natürlich.« Sie schüttelte sich leicht.

»Es ist schrecklich –« hauchte sie.

»Warum ist es schrecklich?«

»Es ist so demütigend, gerade deinen Eltern gegenüber!«

»Gerade meine Eltern werden das alles sehr recht verstehen. Wo solltest du auch sonst hin, so plötzlich? Hier bleiben möchtest du doch gewiß nicht mehr?«

»O, nein – lieber auf der Landstraße!« rief sie erregt, und ihre Augen funkelten. Er hörte und sah es mit Herzweh, und da fühlte sie sofort, daß sie unzart gegen ihn gewesen war.

»Wenn du mich zu deinen Eltern bringen willst, und wenn deine Eltern mich eine Weile beherbergen wollen, so werde ich sehr, sehr dankbar sein,« sagte sie weich. Es that ihm so leid; er konnte es kaum noch mit ansehen.

»Du sollst sehen, Traute,« tröstete er, »du wirst dich bei meinen Eltern sehr bald wohl fühlen. Sie haben dich herzlich lieb, und an Litta wirst du eine muntere Gefährtin haben.«

Sie mochte nicht widersprechen; mochte nicht sagen, daß sie nirgends anders mehr glücklich werden zu können meinte, und nickte nur gedankenvoll mit dem Kopfe.

»Nun, es ist mir lieb, daß du einverstanden bist,« sagte er. »Ich werde gleich den Wagen bestellen. Wenn du fertig bist, dann komm doch herunter zum Frühstück. – Du brauchst ja nur das Nötigste mitzunehmen – alles andre schicken wir dir nach.«

Wie eilig er es hatte, sie zu entfernen! Aber sie freute sich doch sehr, daß er sie noch hinausbegleiten wollte. Ob Julia damit einverstanden war?

Sie fürchtete, Julia unten zu sehen. Aber als sie herunterkam, saß Björn allein am Frühstückstisch. Er hatte ihre Tasse bereits gefüllt und ihr sogar das Weißbrot zurechtgemacht.

»Julia läßt dir Lebewohl sagen,« bestellte er mit befangener Stimme, was ihm gar nicht aufgetragen worden war; denn seit sie erfahren, daß Björn Rottraut begleiten werde, hatte sie ihn keines Blickes mehr gewürdigt.

Um nichts zu versäumen, betrat er noch einmal ihr Schlafzimmer, als der Wagen schon vorgefahren war.

»Gott befohlen, Julia. Morgen zu Tisch bin ich wieder hier.« Sie antwortete nicht und drehte den Kopf weg.

»Hast du etwas zu bestellen an die Eltern oder Litta?« Sie schüttelte den Kopf.

»Na – dann lebe wohl.«

Sie hatte gehofft, er würde kommen und ihr einen Kuß geben. Nun er gegangen war, ohne es zu thun, war sie außer sich, daß sie ihn nicht geküßt hatte.

Björn hatte ein paar junge, flotte Pferde einspannen lassen und fuhr selber. Seine sichere Hand bändigte die übermütigen Tiere mit kräftigem Griff und weichem Spiel. Sie schäumten ins Gebiß und griffen aus, daß es eine Lust war.

Es war an und für sich schon schön, an diesem klaren Morgen durch die neugereinigte, starke Luft dahinzufliegen. Kein Wölkchen am Himmel, kein Staub auf der Erde. Aber Herbst war es geworden. Der Gewittersturm hatte das Laub der Bäume gelichtet, vom Horizont war der sommerliche Dunst verschwunden, und aus der Atmosphäre die sommerliche Schwüle. Die große Schwermut lagerte wieder in erhöhtem Maße über dem weiten Lande.

Björn und Rottraut sprachen wenig. Von dem, was ihre Herzen füllte, konnten sie nicht reden des Kutschers wegen; hätten es auch sonst vielleicht nicht gethan. Zu dem fröhlichen Geplauder sonstiger Zeit waren sie erst recht nicht aufgelegt. Er fragte nur manchmal, ob sie auch bequem säße, oder machte sie auf das und jenes in der Natur und der Umgebung aufmerksam. Im übrigen widmete er sich den Pferden.

Rottraut kämpfte anfangs fortwährend mit den Thränen. Allmählich beruhigte die kräftige Morgenluft ihre erregten Nerven.

Als der kleine weiße Kirchturm von Björns Heimatsdorf über den grünen Herbstweiden auftauchte, atmete sie hoch auf. Björn sah zu ihr nieder.

»Was hast du, Traute?«

»Ich freue mich, daß du mit mir bist!« sagte sie.

»Du Herzenskind –« murmelte er. Aber so leise es gesprochen war, sie hörte es doch; es freute sie; es bewies ihr, daß er ihr keine Schuld beimaß; denn so nannte er sie nur in seinen besten Augenblicken.

Man wollte eben zu Tisch gehen, als Björns Wagen vorfuhr. Den Schwarm von staunenden und erfreuten Fragen schlug er von vornherein nieder mit den lauten Worten:

»Ich möchte dich gleich einen Augenblick allein sprechen, Mutter!«

Während er sich mit ihr in ein anstoßendes Zimmer zurückzog, erzählte Rottraut ein wenig krampfhaft von Harry, von Julia, von der Wirtschaft und vom Garten. Endlich, endlich ging die Thür wieder auf. Björn kam heraus; er sah sehr bewegt aus – beinahe als ob er weinen wolle.

»Komm, Traute – geh einmal hinein zur Mutter!«

Sie gehorchte blindlings, aber ihr armes, wundes Herz hämmerte. Und da, mitten im Zimmer, stand Magna Heddenholm mit ausgebreiteten Armen.

»Mein Kind, mein gutes, liebes Kind!« rief sie mit Thränen in den Augen, »Björn bringt dich mir – komm, hab Vertrauen! Du sollst es nicht bereuen, ihm gefolgt zu sein!« Und Rottraut stürzte aufschluchzend in die geöffneten Arme, an das Mutterherz.

Rottraut bekam ein helles, freundliches Stübchen im Mansardenstock, mit Littas Zimmer durch eine Thür verbunden; das war fast so gut, als wenn sie zusammen wohnten. Magna Heddenholm hatte sofort beschlossen, sich liebevoll um das ihr anvertraute Mädchen zu bekümmern und es möglichst wenig sich selbst zu überlassen; Litta sollte sie darin unterstützen. In diesem Sinne war das Zimmer gewählt worden.

»Wir wollen hier oben gute Nachbarschaft halten, nicht wahr?« sagte Litta, die Rottraut hinaufbegleitet hatte. »Und allemal, wenn dir's einsam zu Mut ist, schlüpfst du schnell bei mir unter!«

Bei Tisch vereinigten sich alle stillschweigend in dem Bestreben, Rottraut die Situation zu erleichtern. Man unterhielt sich in gewohnter Weise, und an Rottrauts zurückkehrender Unbefangenheit merkte man, daß sie anfing, sich wohlzufühlen.

Björn richtete nicht ein einziges Mal das Wort an sie; es schien ihm überhaupt von allen am schwersten zu werden, an der allgemeinen Unterhaltung teilzunehmen. Manchmal ruhte sein Blick voll trauriger Gedanken auf dem Mädchen, das sich so tapfer zusammennahm.

Nachher fand er, daß sie etwas ruhen müsse nach der unruhigen Nacht und der langen Fahrt, und seine Mutter bestärkte ihn darin. Rottraut aber zögerte, obwohl sie sehr müde war.

»Ich möchte doch nicht die letzten Stunden unsers Zusammenseins verschlafen,« sagte sie unsicher, und nahm ihn zärtlich bei der Hand.

»Geh du nur und ruhe aus; ich bleibe bis morgen!«

Ein Lichtstrahl glitt über ihr Gesichtchen.

»Bis morgen – o, ich danke dir!« Er strich flüchtig mit der Hand über ihr Haar, und sah ihr nach, so lange er konnte.

Litta ging mit ihr hinauf und legte sie trotz ihres anfänglichen Sträubens aufs Bett. Dann setzte sie sich noch einen Augenblick zu ihr.

»Soll ich die Thür auflassen?« fragte sie.

»Wie du willst – du wirst doch wohl hinuntergehen zu den andern –«

»Wenn es dir lieber ist, bleibe ich ebensogern oben.«

»Nein – geh nur. Sage mir, Litta,« sprach sie lebhafter, während es heiß und rot in ihre Wangen stieg, »weißt du schon, weshalb ich hier bin?«

»Ja – so ungefähr. Das Nähere kann ich mir denken.«

»Ich wollte dir nur sagen, Litta – sei nicht böse, wenn ich nicht mit dir davon spreche. Ich kann nicht darüber reden, zu keinem, höchstens zu deiner Mutter. Du mußt versuchen, dir vorzustellen, wie schrecklich das alles für mich ist.«

Litta beugte sich über sie und küßte sie zärtlich.

»Sei unbesorgt, du scheuer Vogel – ich werde dich nicht quälen. Und das freut mich, daß du zur Mutter Vertrauen hast!«

Derweil sprachen sie unten von denselben Dingen. Björn war sehr bedrückt und gab sich jetzt, wo Rottraut nicht zugegen war, auch keine besondere Mühe, es zu verbergen.

»Ja, ja,« sagte Arwin Heddenholm in seiner gutmütigen Derbheit, »es ist allemal sehr peinlich für den Mann, wenn die Frau sich thöricht beträgt. Und deine Julia – du weißt, ich habe sie sehr gern und wir sind immer gut miteinander fertig geworden – aber sie ist doch in vieler Beziehung ein rechtes Kind!«

»Darum muß man ihr auch vieles verzeihen,« sagte Björn. »Ihre Fehler sind zum Teil auch meine Schuld.«

»Nun ja, ich weiß ja, du willst nie leiden, daß man etwas gegen sie sagt. Aber bei dieser Großmut ziehst du den Kürzern. Es thut mir wirklich leid für dich, daß du die Kleine hergeben mußt. Ist denn keine Aussicht vorhanden, daß sie wieder zurückkommt?«

»Nein. Ich will es nicht,« sagte Björn ungewöhnlich schroff.

»Nun – du mußt es ja am besten wissen. Aber schade ist es – schade! Litta sagte immer, sie sei ein Sonnenschein für euer Haus.«

Über Björns braunes Gesicht zuckte es verräterisch, und er seufzte tief.

»Für sie ist es am schlimmsten,« sagte er. »Sie hätte bei uns eine dauernde Heimat haben können; nun ist sie wieder einsam und schutzlos in die Welt hinausgestoßen. Und wenn die Thatsache schon traurig ist – die Art, in der das alles geschah, ist das Traurigste. Durch sie muß so ein reines, junges Gemüt in seinen zartesten Empfindungen tötlich verwundet werden!«

Arwin Heddenholm, der eine große Schwäche für das seinem Schutz so unerwartet übergebene Geschöpf hegte, schalt in seinem Innern in den härtesten Ausdrücken über Julias kindisches und selbstsüchtiges Benehmen. Magna dachte gar nicht an Julia. Die dachte nur an Björn. Sie sah ihn sitzen, gebückt, grüblerisch, kummervoll. Und sie sah tiefer, als irgend ein andrer. Sie wußte am besten, wie das alles hatte kommen können, und warum es ihrem Jungen so furchtbar nah ging. Sie hatte es schon lange kommen sehen – es hatte gar nicht anders werden können. Sie allein von allen hatte seine Ehe am richtigsten beurteilt; sie allein hatte sein Herz gekannt, kannte es auch heute, und wußte, warum es ihm fast brechen wollte. Am liebsten hätte sie ihn in ihre Arme genommen, schützend, tröstend und rettend, wie dazumal, als er noch ein ganz kleines Kind war. Sie konnte sich gar nicht darin finden, seinen Kummer machtlos und hilflos mit ansehen zu müssen.

»Mutter,« sagte Björn, und ergriff ihre Hand, »willst du mir etwas recht Liebes thun? – Sei gut mit dem Kinde, so gut du kannst. Ich weiß, du kannst sehr gut sein. Nimm dich ihres verwaisten Herzens an –«

»Es soll geschehen, mein Junge,« sagte sie mit erstickter Stimme, und wußte fortan, wie sie ihn in seinem Schmerz am besten trösten und beruhigen konnte.

Als Rottraut nach einigen Stunden wieder herunterkam, sah sie frischer aus. Ihr erster Blick suchte Björn und leuchtete auf bei seinem Anblick. Sie schien sich vorgenommen zu haben, ihm einzureden, daß sie ganz zufrieden sei und sich die Sache nicht so sehr zu Herzen nehme, denn sie plauderte ganz vergnügt. Sie wollte es ihm dadurch leichter machen. Aber Magna Heddenholm bemerkte wohl, daß sie alle Augenblick nasse Augen bekam.

»Wollt ihr nicht noch einmal durch den Garten gehen, ehe es dunkel wird?« sagte sie nach beendeter Vespermahlzeit. »Ihr habt gewiß noch dies oder das zu bereden!«

Sie hätten sich beide nichts Lieberes wünschen können, und gingen gleich durch die Glasthür hinaus ins Freie. Magna Heddenholm stand am Fenster und sah ihnen nach. Rottraut hängte sich zutraulich an Björns Arm; an ihrem zu ihm erhobenen Gesicht merkte man, daß sie zu ihm sprach. Und er ging nebenher, steif und aufrecht, aber mit tiefgesenktem Haupt.

»Schade – schade –« seufzte seine Mutter aus tiefster Seele.

Rottraut strengte ihre ganze Willenskraft an, um heiter und gefaßt zu bleiben und so auch Björn zu erheitern. Aber er blieb zerstreut und wortkarg, und kein Lächeln war ihm zu entlocken.

»Wir wollen nach dem Kiek-Öwer gehen,« schlug Rottraut vor. »Da sitzt man so hübsch und so ungestört.« Willenlos folgte er ihr.

Er konnte den Platz nie mehr betreten, ohne an jene Unterredung zu denken, die er hier vor Jahren mit seiner Mutter gehabt hatte. Er dachte auch jetzt wieder daran, als er mit Rottraut auf der schmalen Bank saß. Damals war Frühling gewesen voll schwellender Knospen und Vogelgesang. Heute war es Herbst; am Boden lagen welke Blätter, und durch die Luft zogen Kraniche mit sehnsüchtigem Geschrei dem entflohenen Sommer nach.

Er vertiefte sich so sehr in all diese Erinnerungen, daß er Rottrauts Gegenwart fast vergaß. Sie that auch lange nichts, um sich bemerklich zu machen; sie rang lautlos mit einem übervollen Herzen und wurde dabei immer blasser.

»Björn –« sagte sie endlich schüchtern. Er horchte auf.

»Björn – ich muß dir etwas sagen. Ich will dir noch danken für alles, was ich bei euch gehabt habe –«

Er ergriff die kleine Hand, die sich leise durch seinen Arm stahl, und drückte sie herzlich.

»Wir haben dir ebensoviel zu danken, Traute. Und dir obenein noch vieles abzubitten –«

»Ach – sprich davon nicht. – Björn,« fuhr sie fort, und man hörte an ihrer Stimme, wie bange ihr Herz klopfte, »nicht wahr, du glaubst es mir, daß ich keine Schuld habe, wenigstens keine wissentliche!« Sie beugte sich vor und schien ihm die Antwort aus dem Gesicht lesen zu wollen, ehe sein Mund sie sprach. Über alle andern Wünsche ging ihr der, vor seinen Augen rein dazustehen.

»Ja, Traute; ich bin fest überzeugt davon. Ich weiß es.« Sie atmete befreit auf.

»Und noch eins, Björn – versprich mir, daß du mit Julia nicht böse darum bist. Ich weiß, sie ist unglücklich in ihrem Innern. Nimm dich ihrer an, sie ist jetzt ganz allein auf dich angewiesen. – Es ist deine Pflicht, Björn!« schloß sie energisch, als er nicht gleich antwortete.

»Gewiß, mein Kind,« sagte er mechanisch.

»Und von mir kannst du Julia einen Gruß bestellen und ihr sagen, sie möchte sich nun keine Gedanken mehr über mich machen, sondern die Sache ausgestanden sein lassen. Es thäte mir ja sehr leid, daß wir so auseinander gegangen wären, aber ich würde meinen Weg schon finden. – Vielleicht kommen wir später noch einmal zusammen, wenn alles vergessen ist –«

Er sagte nichts, sondern streichelte nur ihre Hand. Die Rührung würgte ihm an der Kehle.

»Wenn du nach Hause kommst,« fuhr Rottraut fort, »so hole dir doch aus meiner Stube die Gartenbücher; ich habe sie auf meinen Schreibtisch gelegt. Es stimmt alles. Die letzten Einnahmen habe ich dir vorgestern noch abgegeben. – Ich habe auch ein Verzeichnis gemacht von dem Gemüse, das verkauft werden kann, und von dem Obst, das bist jetzt abgenommen ist. – Ich hätte so gern noch die Äpfel geerntet – ich werde immerfort denken müssen, ob es wohl auch rechtzeitig und gut gemacht wird! Ich bin recht eingebildet, nicht wahr? Als ob es nicht früher auch ohne mich gegangen wäre!«

»Ja – aber wie?« entfuhr es ihm.

»Du mußt nicht zu viel von Julia verlangen,« fuhr sie in ihrer rührenden, sanften Art fort. »Und wenn es jetzt manchmal in der Küche nicht recht klappt – drücke ein Auge zu, Björn, bitte! Du weißt doch – die junge Köchin – ich habe doch ziemlich viel selbst machen müssen seit sie da ist!«

»Nun – wenn es nicht geht, müssen wir eben wechseln.«

»Das wäre schade, sie hat sich schon ganz nett angelernt und ist willig und anstellig.«

»Aber wenn es für Julias Bequemlichkeit wünschenswert ist –«

»Ja – dann freilich wird es nichts helfen.« Rottraut mußte sich in solchen Augenblicken immer Gewalt anthun, um nicht auf Julia ernstlich böse zu sein.

»Dann wollte ich dich noch wegen meiner Sachen bitten – es ist alles eingepackt, aber ich brauche es vorläufig nicht; es hat Zeit, bis einmal Gelegenheit ist. Ein paar Kleinigkeiten habe ich auf dem Tische liegen lassen; die sind für Harry; er spielte immer so gern damit, wenn er mich oben besuchte –«

Björn konnte es gar nicht mehr mit anhören; es war gerade als ob sie ihr Testament machte.

»Nun, Traute,« sagte er, das Gespräch gewaltsam ändernd, »ich hoffe, es geht dir gut hier. Und wenn du dich einlebst, und gern hier bist, so bleibe, so lange du willst, und beschwere dir den Kopf einstweilen nicht mit Zukunftsgedanken.«

»Ach ja, Björn; das werde ich doch wohl thun. Wenn ich überhaupt einmal etwas Selbständiges ergreifen will – und darauf bin ich doch schließlich angewiesen – so ist es besser, keine Zeit zu versäumen. Das Herumsitzen kann ich nicht ertragen; man verwöhnt sich dabei und fühlt sich dennoch unbefriedigt. Ohne undankbar zu sein,« ergänzte sie schnell. »Du weißt, wie ich es meine.«

Ja, er wußte es, und er verstand es. Sie besprachen kühl und sachgemäß, welcher Beruf sich am besten für sie eignen würde. Er setzte ihr klar und objektiv die Vorzüge und Nachteile der verschiedenen Erwerbszweige auseinander, die für sie in Frage kamen. Die ganze Unterhaltung war ihm eine Qual; aber er ließ es sich in keiner Weise merken.

»Nun kannst du dir das alles überlegen,« schloß er endlich, »und dann nach eignem Ermessen Schritte thun. Mutter wird dir in allem mit Rat und That beistehen; habe nur immer Vertrauen zu ihr. – Und eins versprich mir noch, Kind: fasse keinen endgültigen Entschluß, sprich kein bindendes Wort, ohne mich vorher in Kenntnis zu setzen.«

Sie versprach es ihm und gab ihm die Hand darauf.

Dann schien es, daß sie einander weiter nichts mehr zu sagen hatten. Jeder hing den eignen Gedanken nach und sah schweigend vor sich nieder.

Plötzlich fing Rottraut an zu weinen. Stundenlang hatte sie sich zusammengenommen – nun ging es nicht mehr. Der Abschied rückte immer näher. Immer näher kam der Augenblick, der sie endgültig losreißen würde von dem Hause, in dem sie so glücklich gewesen war; von dem ernsten Mann, der neben ihr saß. – Hätte sie gewußt, daß sie ihn im Glück zurückließ, so wäre ihrem Abschiedsschmerz der bittere Stachel genommen gewesen. Aber sie wußte jetzt, daß er unglücklich war.

Eine dunkle Ahnung sagte ihr, daß sie die Macht gehabt hatte, ein wenig Sonnenschein in sein Leben zu zaubern und daß es jetzt um so dunkler und einsamer für ihn werden würde. Aber gerade, weil sie diese Macht besessen hatte, darum mußte sie nun fortgehen aus seinem Hause und aus seinem Leben.

Ihr Schluchzen wurde immer heftiger, je mehr sie sich mühte, es zu unterdrücken. Es schnitt ihm ins Herz; seine Hände zitterten ihm; aber er war nicht im stande, etwas zu thun oder zu sagen.

Da legte Rottraut ihren Kopf an seine Schulter, drückte ihr Gesicht gegen seinen Ärmel, und weinte leise weiter, ihr Schluchzen in den Falten seiner Joppe erstickend.

»Aber Traute – liebe einzige Traute –« sagte er mit schwankender Stimme. Er sah mit erregten Augen auf sie nieder, die sich wie schutzsuchend an ihn flüchtete – aber er rührte keinen Finger. Und als ob sie sich ihrer Schwäche und ihrer Vertraulichkeit schäme, richtete sie sich bald wieder auf.

»Mein Herzenskind,« sagte er, »du mußt dich nicht so grämen. Die Welt ist groß, und das Leben ist lang – es wird dir noch viel Schönes darin vorbehalten sein!«

»Ach – am liebsten wäre ich doch bei euch geblieben!« schluchzte sie. Er antwortete nichts; er ließ sie sich ruhig ausweinen. Und allmählich beruhigte sie sich.

»Wollen wir nun nach Hause gehen?« fragte er, sich erhebend. Sie stand gehorsam auf.

»Wir wollen das unsern Abschied gewesen sein lassen,« sagte sie. »Morgen, wenn die andern dabei sind, kann ich doch nichts thun und sagen.«

Wieder lag so ein seltsames Gemisch von Glück und Unglück in dem Blick, mit dem er sie schweigend betrachtete. Einmal schien es, als wolle er irgend eine Bewegung zu ihr hin machen; aber statt dessen wandte er sich schroff um.

»Wir sehen uns ja wieder –« sagte er, wie um eine Abschiedsscene zu vermeiden.

Der Abend verlief so, wie es in traulichen, harmonischen Familienkreisen zu sein pflegt, wo einer dem andern in verständnisvoller Liebe die Hände unterbreiten möchte.

Rottraut ging früh zu Bett und weinte sich in den Schlaf. Litta hörte es, nahm aber keine Notiz davon, weil sie wußte, daß es Rottraut eine Wohlthat war, sich ungestört auszuweinen.

Am andern Morgen frühstückten sie noch alle zusammen. Rottraut saß neben Björn und sorgte für seinen Teller. Einmal strich sie ihm leise und zärtlich über die Hand.

Dann fuhr der Wagen vor. Björn sagte Vater, Mutter und Litta Lebewohl und ließ sich von ihnen küssen. Dann kam er zu Rottraut. Sie sah erschreckend blaß aus und reichte ihm wortlos die Hand.

»Lebe wohl, meine Traute –« sagte er innig. Dann ging er. Er schwang sich auf den hohen Sitz, ergriff die Zügel und trieb die Pferde an. Im Galopp ging es zum Hofe hinaus. Vater, Mutter und Litta sahen ihm nach, jeder mit seinen eignen Gedanken. Als sie sich nach Rottraut umwandten, war sie nicht mehr da.


Als Björn nach vierstündiger Fahrt nach Hause kam, hatte seine Seele sich geklärt unter dem Sturm, der sie durchbrauste, und er hatte neuen Mut gefaßt, das verödete Feld seines Lebens wieder in Angriff zu nehmen.

Es kam ihm niemand entgegen an seines Hauses Thüre. Auf dem bereits gedeckten Eßtisch stand die Blumenschale, die Rottraut vorgestern noch frisch gefüllt hatte; aber die Blumen sahen welk und traurig aus.

Nach kurzem Besinnen öffnete Björn ohne weiteres die Thür zu Julias Zimmer. Sie stand am Fenster und war gut und sorgfältig angezogen. Bei seinem Eintritt wandte sie sich langsam um. Sie prüfte ihn mit einem kurzen, ängstlichen Blick; dann stürzte sie auf ihn zu und lag an seinem Halse, ehe er noch recht wußte, wie ihm geschah.

»Verzeihe mir, Björn! Bitte, verzeihe mir! Es thut mir so leid!«

»Ja – dazu ist es nun leider zu spät,« sagte er bitter.

»Wozu ist es zu spät? Zum Verzeihen?« Sie sah ihn mit zurückgebogenem Kopf angstvoll an.

»Zum Bereuen,« sagte er. »Du kannst das Geschehene nie wieder gut machen.« Sie ließ die Arme sinken.

»Ich will dir nur gleich sagen, Björn, daß ich das, was geschehen ist, durchaus nicht bereue. Es ist mir sehr lieb, daß Rottraut fort ist. Es kam ja etwas plötzlich – aber einmal hätte es doch kommen müssen. Und wenn alles, weshalb mich ihr Fortgang befriedigt, Einbildung wäre, so wäre doch mein durch solche Einbildung gestörter Frieden Grund und Notwendigkeit genug zur Trennung gewesen. Ich hoffe, du siehst das ein. – Aber daß ich dir mit alledem vielleicht weh gethan, daß ich dich erzürnt habe, das bereue ich, und das bitte ich dich, mir zu verzeihen.«

»Ja, ja – es ist schon gut –«

»Nein, es ist nicht gut!« rief sie heftig. »Du sollst mich nicht so abfertigen. Du sollst mir verzeihen, du sollst wieder gut zu mir sein!«

»Aber Julia – quäle mich doch nicht!«

»Du quälst mich viel mehr. Du spannst mich auf die Folter, indem du mich ewig an deiner Liebe zweifeln läßt!«

»Was verlangst du denn eigentlich –« fragte er ganz erschöpft.

»Liebe!« rief sie leidenschaftlich. »Nur Liebe!« Er fühlte Mitleid mit dem kindischen Geschöpf, das so zu ihm sprach.

»Es würde mir leichter werden, dich zu lieben, Julia, wenn du es nicht immer als einen schuldigen Tribut mit pünktlicher Beweisführung von mir verlangtest. Außerdem finde ich, daß es in der Ehe mehr darauf ankommt, aus Liebe zu handeln, als von Liebe zu sprechen.«

Sie schwieg beschämt. Dann that sie eine Frage nach Rottraut.

»Sie läßt dich grüßen,« sagte Björn. Es war ihm nicht möglich, noch mehr zu sagen.

»Und deine Eltern? Die nehmen natürlich ihre Partei. Sie haben ja von Anfang an mit ihr so eine Art Abgötterei getrieben!«

»Meine Eltern werden sie so lange bei sich behalten, bis sie irgend eine passende Anstellung gefunden haben wird.« Björn hatte nicht die geringste Lust, sich mit ihr auf Auseinandersetzungen einzulassen. – Julia machte große Augen.

»Also so ernst nimmt sie es mit der Trennung –«

»Wie soll sie es denn anders nehmen? Glaubst du, daß sie jemals hierher zurückkehren möchte – daß ich das erlauben würde?«

»Mein Gott, wie tragisch! Es ist ja auch viel besser, wenn von ihrer Rückkehr keine Rede gewesen ist. Es ist ganz, was ich mir wünsche.«

»Nun – so sind wir hierin wenigstens einig. – Wo ist Harry?«

»Im Kinderzimmer wahrscheinlich. Aber lauf' doch nicht schon wieder weg! Kannst du es denn gar nicht mehr mit mir aushalten!« Sie sah ganz verzweifelt aus. Und er erinnerte sich an seine Pflicht.

Das Mittagessen verlief sehr schweigsam. Nur Harry plauderte. Und daß er mit Vorliebe von der trauten Tante sprach, die nun nicht mehr da sei, die aber gewiß bald wiederkommen werde, machte seine Eltern nicht gesprächiger.

Nach Tisch, als Julia sich, wie gewöhnlich, zurückgezogen hatte, stieg Björn hinauf in Rottrauts Zimmer. Man hatte da schon aufgeräumt. Das Bett war abgezogen, die Vorhänge herabgelassen. Die Möbel standen in kahler Ordnung an den Wänden entlang. Der große Koffer versperrte fast den Durchgang. Auf dem Tisch in der Mitte standen und lagen ein paar Porzellanfigürchen, ein langer roter Bleistift und ein kleiner Taschenspiegel; das waren die Kleinigkeiten, die Harry haben sollte. Björn betrachtete sie gerührt. Dann ging er weiter.

Auf dem Schreibtisch lagen zwei Rechnungsbücher und einige lose Blätter, mit Zahlen bedeckt. Björn zog den Vorhang ein wenig zurück, setzte sich und begann in den Büchern zu blättern und zu lesen; lange, sehr lange. Und zuletzt klappte er die Bücher zu, stützte den Kopf in die Hand, und blieb so sitzen; ebenfalls sehr lange.

Endlich stand er auf, nahm die Bücher unter den Arm, zog den Vorhang wieder zu, steckte die bunten Kleinigkeiten zu sich und ging ins Kinderzimmer, wo Harry mit Bleisoldaten spielte.

»Hier, Junge,« sagte er und begann seine Taschen auszukramen. »Das hat die traute Tante für dich zurückgelassen. Ich soll es dir geben.« Harry jauchzte auf und stürzte sich auf die oft heimlich ersehnten Gegenstände.

»Warum bist du nicht draußen?« fuhr Björn fort. »Es kümmert sich wohl niemand um dich? Mach' schnell, komm, wir gehen einmal in die Koppeln – –«

Und so ging der einsame Mann mit seinem lachenden Kinde in den sonnigen Herbsttag hinaus.

Ja, die Sonne schien über Björns Hause – in seinem Herzen schien sie nicht. Sein Herz war beschwert und traurig, und sehnte sich mit seiner ganzen, reifen Kraft nach dem andern Sonnenschein, der ihm erloschen war. Er suchte sich wieder Arbeit, so viel er konnte, und zur Erholung ging er mit Harry spazieren. Abends las er bis in die Nacht hinein in Büchern, die er sich von auswärts verschaffte und die Julia ein Greuel waren. Er schlief schlecht und man sah es ihm an, daß er oft Kopfschmerzen hatte.

Julia bemerkte die Veränderung in seinem Wesen, und wußte auch, worauf sie dieselbe zu schieben hatte. Eine blinde, nagende Eifersucht, verschärft durch das niederdrückende Gefühl eignen Unwerts, bereitete ihr Qualen. Anfangs versuchte sie, Björns Aufmerksamkeit zu erregen, indem sie die Gekränkte spielte. Aber das machte auf ihn gar keinen Eindruck; er schien es nicht einmal zu merken, so gleichgültig war es ihm. Das verursachte ihr einen größern Schrecken, als wenn er heftig geworden wäre.

Nun fing sie es anders an. Sie begann, ihm nachzugehen auf alle mögliche Weise, und mit Worten und Thaten um seine Zufriedenheit, um seine Anerkennung zu betteln. All die kleinen Aufmerksamkeiten, über die sie anfangs gelächelt und dann gezürnt, wenn sie ihm von Rottraut kamen, die hatte sie jetzt für ihn; nur, daß sie alles ein wenig ungeschickter anfing. Sie lief in Hof und Garten herum, um wenigstens den Anschein zu erwecken, als thue sie etwas. Sie bestellte ihm seine Lieblingsgerichte, und konnte es freilich oft nicht ändern, daß sie mißraten auf den Tisch kamen. Ohne es sich recht einzugestehen, versuchte sie auf alle erdenkliche Art, ihm Rottraut zu ersetzen.

Björn hatte ihre Gekränktheit ebensowohl gemerkt, wie er jetzt ihre Bemühungen, ihm zu gefallen, bemerkte. Die erstere hatte ihn völlig kalt gelassen. Die letztern nötigten ihm nun doch eine gewisse Rührung ab – um so mehr, je weniger sich bei alledem ihr Wollen mit ihrem Können deckte.

Es kostete ihn indes eine mehrtägige Überwindung, bis er es vermochte, ihr ein anerkennendes Wort darüber zu sagen. Sie wurde rot vor Freude und hatte ordentlich Thränen in den Augen.

»Ach, Björn – wenn du doch immer zufrieden mit mir wärest!«

»Ich bin es ja eigentlich immer,« sagte er. »Ich kann es dir nur nicht fortwährend sagen.«

»Rottraut hast du so oft gelobt – wo es gar nicht nötig war!«

»Zieh doch nicht immer Vergleiche. Du bist meine Frau und sie war unser Gast. Wir wollen doch überhaupt fürs erste lieber nicht mehr von Rottraut reden.«

Das war eine sehr weise Maßregel; es ging nie ohne Aufregungen ab bei Nennung dieses Namens, die bei Julia um so bemerkbarer sich äußerten, je innerlicher sie bei Björn waren.

Julia sprach niemals den Wunsch aus, Rottraut noch einmal zu sehen, ehe sie vielleicht in kurzem ganz von hier fortging. Es schien ihr nichts daran gelegen, sich mit ihr zu versöhnen. So wenig sie das in Björns Meinung hob, so war er doch fast froh, die mit solchem Wiedersehen notwendig verbundenen Aufregungen und Aussprachen vermieden zu sehen.

Auch daß er selbst ohne alle Verbindung mit Rottraut war, dünkte ihn, obwohl das Schwerste, so doch das Beste. Nur keine halben Maßregeln. Wohl dachte er oft mit Unruhe an sie; namentlich nachts, wenn er Stunde um Stunde verwachte, glaubte er förmlich zu fühlen, daß sie traurig war; einmal bildete er sich sogar ein, sie weinen zu hören, und fuhr aus schwerem Halbschlaf entsetzt empor. Aber er wußte sie bei seiner Mutter in guten Händen; das war ein Trost; und wenn irgend etwas Wichtiges vorfiel, so würde man ihn schon benachrichtigen.

Julia in ihrem beständig wachen Mißtrauen konnte nicht glauben, daß er keinerlei Verkehr mit ihr unterhielt, die er mit That und Wort so kräftig gegen sie in Schutz genommen hatte. Sie war fest überzeugt, daß er heimlich Briefe mit ihr wechselte; aber sie spürte vergeblich nach einem Beweise. Endlich fragte sie ihn geradezu. Er sah sie sehr erstaunt an.

»Nein,« sagte er kurz. Zwei Tage später kam er gegen Mittag in ihr Zimmer.

»Du fragtest gestern, ob ich Nachricht von Rottraut hätte. Heute habe ich die erste bekommen. Hier ist ein Brief von meiner Mutter.«

»Darf ich ihn lesen?« fragte sie mit absichtlich zur Schau getragener Diskretion.

»Dazu bringe ich ihn dir,« erwiderte er ruhig. Nun begann sie zu fürchten, daß etwas Unangenehmes darin stehen könne, und entfaltete ihn mit schlecht verhehlter Hast.

Magna Heddenholm schrieb zunächst von allerhand nebensächlichen Dingen in gewohnter, vertraulicher Ausführlichkeit. Dann sprach sie von Rottraut, und daß es ihm gewiß lieb sein werde, von ihr zu hören, zumal sie selbst ihm wohl keine Nachricht gegeben habe. Es gehe ihr gut, aber sie könne den Abschied doch noch nicht recht verwinden, so tapfer sie sich zusammennähme. Sie stehe in eifrigem Briefwechsel mit verschiedenen Stellenvermittlungsinstituten, aber hoffentlich werde es ihnen gelingen, sie bis Neujahr zu halten, was ihnen um so erwünschter wäre, da sie ihnen täglich lieber würde, ja ein wahrer Schatz im Hause wäre.

Julia legte den Brief aus der Hand und wußte nicht recht, was sie darauf sagen sollte. Es war ihr, als läse sie in Björns Gesicht den stummen Vorwurf: ›und dieses Schatzes hast du dich und mich beraubt!‹

»Nun, sie scheint ja dort ganz am Platze zu sein,« meinte sie endlich ein wenig unsicher. Auf diese Worte hin drehte sich Björn nach ihr um, und sah sie lange an mit einem Blick, aus dem sie nichts Rechtes zu machen wußte.

»Sage mal, Julia,« sprach er endlich sehr ernst, »ist es dir wirklich gleichgültig, daß deine Schwester –«

»Stiefschwester,« unterbrach sie.

»Der du selbst eine Heimat in deinem Hause angeboten hast, nun gezwungen ist, sich bei fremden Leuten ihr Brot zu verdienen, weil es dir beliebt, ihr diese Heimat wieder zu nehmen?«

Julia fühlte sich ein wenig in die Enge getrieben.

»Wenn ich sie nicht hierher gebracht hätte,« wehrte sie sich, »so wäre sie wahrscheinlich gleich zu fremden Leuten gegangen, und die Sache wäre dieselbe geblieben.«

»Nein, dann wäre sie ganz anders gewesen,« sagte er und steckte den Brief wieder ein. Im Grunde war er überzeugt, daß sie den Unterschied nicht verstehen würde.

Sie dachte nicht einmal darüber nach. Sie sah nur mit neu genährter Eifersucht den harmlosen Brief in seine Rocktasche gleiten. Den wird er nun aufbewahren wie ein kostbares Schriftstück, dachte sie ingrimmig. Sie konnte nicht den Mund halten.

»Du legst ihn dir wohl heute abend unters Kopfkissen!« spottete sie. Sein Gesicht wurde steinern.

»Du hast wohl vergessen, liebes Kind, daß ich mir diesen Ton und diese Redensarten verbeten habe,« sagte er, und wollte hinausgehen. Da stürzte sie ihm nach. Eine leidenschaftliche Zärtlichkeitsscene war das Ende; und solche waren ihm schwerer zu ertragen, als ihre heftigen Ausbrüche von Ärger und schlechter Laune.

Mit der Zeit fing Björn an, zu wünschen, Rottraut möchte nicht noch bis Neujahr bei seinen Eltern bleiben. Das Weihnachtsfest würde sie unfehlbar wieder zusammenführen, und es war besser, wenn das vermieden wurde. Er hoffte auch, eher wieder ruhig und zufrieden zu werden, wenn er Rottraut nicht mehr immer in erreichbarer Nähe wissen mußte. Er hoffte von Tag zu Tag auf einen Brief von ihr oder seiner Mutter, der ihm eine Entscheidung vorlegen sollte. Aber Tag um Tag verging; solch ein Brief kam nicht; und er rieb sich innerlich auf in täglich sich erneuerndem Kampf.

Dazu kam noch, daß sein altes Leiden, das ihn vor mehreren Jahren einmal monatelang schmerzhaft gepeinigt hatte, sich plötzlich infolge einer Erkältung wieder einstellte und ihn mehrere Tage ans Zimmer fesselte. Die zwangsweise Unthätigkeit war für ihn, der schon in zufriedenen Zeiten die Thätigkeit nicht entbehren konnte, doppelt schwer zu ertragen.

Julia schien gerade hier noch einmal ihre Macht erproben zu wollen. Sie pflegte ihn mit einer bei ihrem Charakter geradezu überraschenden Geduld und Selbstlosigkeit. Den ganzen Tag dachte sie nur darüber nach, was sie für ihn thun könne. Sie las ihm vor, sie schrieb für ihn; sie rührte ihm mit anerkennenswerter Pünktlichkeit die schmerzstillenden, einschläfernden Pulver ein, die der Arzt ihm verschrieb. Sie lief in Hof und Ställen umher, ja sogar bis hinaus in die Koppeln, um ihm die Nachrichten und Neuigkeiten aus der Wirtschaft zusammenzutragen, von denen sie glaubte, daß sie ihm von Interesse und Wichtigkeit sein könnten. Sie kam sogar auf den Gedanken, ihm die Mutter einzuladen, überhaupt die Seinen; aber sie ließ bald wieder ab davon. Rottraut hätte auf den Einfall kommen können, sie zu begleiten; oder mindestens wäre dann immerfort von ihr gesprochen worden; und schließlich schämte sich Julia doch ein wenig vor ihnen. – Sie wollte abwarten, bis Björn selbst den Wunsch aussprechen würde, die Seinen zu sehen; aber zu ihrer Freude wartete sie vergebens.

Hätte Björns Leiden in irgend einer Weise bedenklich werden können, so hätte die haltlose Angst, die Sorge, der sie noch nie gewachsen gewesen war, es ihr unmöglich gemacht, ihn so zu pflegen. Sie wußte aber, daß die Sache ungefährlich war, und benutzte seine Krankheit nur als Gelegenheit, sich bei ihm einzuschmeicheln.

Bei jeder andern Frau wäre solch Benehmen dem kranken Geliebten gegenüber natürlich und selbstverständlich gewesen. Bei Julia war es immerhin anerkennenswert, und Björn erkannte es auch voll an. Er hatte sich so daran gewöhnt, nichts von ihr zu verlangen, daß auch ihre geringen Leistungen ihn erstaunten und rührten. Es war etwas Niedagewesenes, daß sie die eigne Bequemlichkeit aufgab um eines andern Bequemlichkeit willen. Zum erstenmal schien sie etwas davon zu ahnen, daß vor allem in der Liebe Geben seliger sei als Nehmen.

Aber es machte ihn nicht glücklich; es machte ihn nur noch trauriger. Ja, wenn sie vor sechs Jahren auch schon so gewesen wäre!

Immerhin rührte es ihn. Es kann etwas Ergreifendes haben, wenn große Leute sich noch mit dem Lernen quälen, und wenn in ihren Augen die Furcht vor dem Mißlingen, die Sehnsucht nach Lob geschrieben steht!

»Du pflegst mich so schön, Julia,« sagte er eines Tages und zog sie zu sich nieder auf die wuchtige Armlehne seines breiten Sessels. »Ich bin nun auch bald wieder gesund und werde dir keine Mühe mehr machen.« Sie errötete vor Freude.

»O – ich wollte du wärest immer krank!« rief sie.

»Warum denn?« meinte er lächelnd.

»Damit ich dich immer ein wenig verziehen könnte!«

»Aber das kannst du doch auch, wenn ich gesund bin!«

»Ach nein. Dann wage ich es nicht.«

»Warum nicht?«

»Du kommst mir so vor – so – ich weiß nicht – so erhaben über mir, als wenn ich mich gar nicht an dich herannahen dürfte –«

»Aber Julia, mein Herz, das ist doch wohl nicht dein Ernst! Wenn wir Männer auch noch so klug und groß und erhaben sind – und ich bin nichts von alledem – für eins sind wir doch alle zugänglich und dankbar und oft gar waffenlos: für die zarte Verwöhnung einer treuen, verständnisreichen Frauenliebe« –

Sein Auge schweifte ins Weite mit einem verträumten Ausdruck; sein Mund, um den Körper- und Seelenschmerz seine Falten gezogen, lächelte verklärt. Julia barg den Kopf an seiner Brust.

»Es ist doch am schönsten, wenn wir beide ganz allein sind!« sagte sie.

Sie hätte es nicht sagen sollen. Sie erinnerte ihn an etwas, an das sie ihn lieber nicht hätte erinnern müssen.

Das Lächeln erlosch in einem wehen Lippenzucken.


Es wurde immer mehr Herbst. Der Himmel war meist von dicken Wolken verhüllt, wilde Stürme tobten über das Land mit klagendem Heulen, als trügen sie von Meer zu Meer eine traurige Kunde. Es war ein Wetter, das auf die Dauer selbst ein fröhliches Gemüt bedrücken kann.

Björn war wieder hergestellt und lief trotz Sturm und Wetter stundenlang im Freien umher; als könnte er sich die Gedanken hinausbrausen lassen aus Kopf und Herzen, oder als treibe ihn eine verzehrende Rastlosigkeit.

Er fürchtete sich vor dem Winter mit seiner totenstillen Verschneitheit, mit seinen langen, dunkeln, einsamen Abenden. Es war ihm, als würde er das nicht ertragen können; als würde er dann eines Tages sich selbst untreu werden. Und er begann auf Mittel und Wege zu sinnen, wie er dem schrecklichen Einerlei dieses Winters entfliehen könne.

»Was meinst du, Julia,« sagte er eines Abends, als es draußen wieder fegte und stürmte und ein schwerer Regen an die Scheiben klatschte, »wenn wir in diesem Winter eine recht schöne Reise machten?« – Sie sah ihn ungläubig an. Bis jetzt hatte er nie vom Reisen etwas wissen wollen. Aber sie strahlte vor Entzücken bei dem Gedanken.

»Wir sind jahrelang häuslich gewesen,« fuhr er fort, »und haben nichts für unser Vergnügen ausgegeben. Du hast lange genug diese Einsamkeit mit mir geteilt – wirklich, du hast dir eine solche Abwechselung verdient. Früher warst du es doch ganz anders gewohnt!«

»Früher hatte ich dich nicht,« fiel sie ein, mit einem mädchenhaften Erröten und in glücklichem Stolz.

»Nun, und jetzt sollst du noch eine schöne Reise dazu bekommen,« antwortete er fast fröhlich. »Wir wollen nach Italien gehen, dahin, wo der Winter warm und schön ist. Den Jungen nehmen wir natürlich mit.«

»O, Björn – es wäre über die Maßen herrlich!« rief sie außer sich vor Freude. »Aber ich möchte nicht, daß du nur meinetwegen –«

»Bewahre!« rief er heiter. »Ich wünsche es ebensosehr meinetwegen. Auch ich sehne mich nach Abwechselung. Außerdem bin ich doch etwas angegriffen nach meinem letzten Kranksein; die warme Sonne da unten wird mir gut thun.«

»Und wo nehmen wir denn plötzlich soviel Geld her?«

»Das richte ich schon ein,« tröstete er. »Ich habe in diesem Herbst sehr gute Geschäfte mit dem Torf gemacht. Großen Aufwand dürfen wir natürlich nicht treiben!«

»Das ist auch gar nicht nötig –«

»Und dann, meine ich, reisen wir bald. Oder hängst du sehr daran, Weihnachten hier zu verleben?«

»Aber gar nicht!« rief sie schnell. »Die Leute können wohl auch einmal ohne uns feiern, und wir können uns unser Bäumchen ebensogut wo anders schmücken.« Im stillen dachte sie daran, daß sie auf diese Weise um so eher aus Rottrauts Nähe kommen würden.

Nun machten sie jeden Abend Pläne mit Landkarten und Reisebüchern. Nie noch hatten sie ein so gemeinsames Interesse gehabt; es machte sie fast glücklich, und nach langer Zeit flog dann und wann wieder ein ungetrübtes Freudenlicht über Björns ernste Züge. Er hoffte Genesung von dieser Reise, nicht nur für seinen Leib, sondern vor allem für seine Seele; und er freute sich auf diese Genesung.

Am ersten November wollten sie reisen; bis dahin waren noch acht Tage. Selbstverständlich mußte Björn, ehe er sich auf mehrere Monate von Hause entfernte, noch einmal zu den Seinen, die bis jetzt noch nichts von diesem schnell gereiften Plan wußten. Er mußte seinen Vater bitten, sich seiner Angelegenheiten inzwischen anzunehmen; es wäre auch gut, wenn seine Mutter einmal herüberkäme, um das Haus und die Dienstboten zu mustern. Vor allem aber wollte er sich noch um Rottrauts Zukunftspläne kümmern.

Trotzdem konnte er sich nicht entschließen, diese Fahrt anzutreten, sondern verschob sie von einem Tage zum andern. Er konnte sich nicht einmal entschließen, davon zu sprechen. Er hoffte, Julia würde von selbst auf den Gedanken kommen, daß er hinüber müsse, und davon reden, und sich erbieten, mitzufahren. Aber er überschätzte sie; den Gedanken hatte sie wohl – aber sie hütete sich, ihn auszusprechen. Sie zitterte davor, daß er Rottraut noch einmal sehen könne; sie glaubte, seine gute Laune, am Ende gar seine Reiselust würden an solchem Wiedersehen unfehlbar scheitern.

Da Björn wieder einen kleinen Schmerzenanfall gehabt hatte, war er einen Tag im Zimmer geblieben. Er saß mit Julia am Tisch bei den Reisebüchern; sie hatte rote Backen vor Eifer und Freude; aber er war zerstreut; er fühlte sich unfrisch, und der Gedanke an die immer dringender werdende Notwendigkeit jenes Besuches beunruhigte ihn. – Auf der Erde saß Harry und baute aus Büchern und Bauklötzen Brücken und Bahndämme.

Als die frühe Dämmerung anbrach, trat Björn ans Fenster. Der Himmel hatte sich bezogen. Im Westen ballten sich dicke, bleigraue Wolken in schwerfälligen Massen.

»Es wird Schnee geben, oder irgend ein Unwetter,« sagte Björn.

»Ach,« rief Julia und blickte von ihrer Lektüre auf, »und wir wollten doch morgen zur Stadt fahren, um die letzten notwendigen Einkäufe zu machen!«

»Wir hätten es heute thun sollen. Aber ich habe nicht daran gedacht. Nun ist es zu spät.«

In diesem Augenblick wurde ihm ein Brief von seiner Mutter eingehändigt, den soeben ein reitender Bote gebracht hatte. Mann und Frau sahen einander unwillkürlich an.

»Von der Mutter – durch einen Boten – das muß etwas Eiliges, mindestens etwas Wichtiges sein,« sagte Björn und brach den Brief auf; dabei verriet nichts die Aufregung, die sich seiner bemächtigte. Julia war blaß geworden und beobachtete ihn in ängstlicher Spannung.

Magna Heddenholm schrieb ihm, daß sich für Rottraut eine sehr passende und vorteilhafte Stellung gefunden habe, die sie auch gesonnen sei anzunehmen. Da sie aber versprochen habe, keine endgültige Entscheidung ohne Björns Urteil und Einwilligung zu treffen, so bäte sie ihn, zu diesem Zweck hinüberzukommen, und zwar möglichst bald; denn wenn Rottraut nicht binnen acht Tagen erklärt haben würde, daß sie die Stellung annähme, so würde man ihre Bewerbung nicht weiter berücksichtigen können.

»Es ist gut,« sagte Björn, nachdem er den Inhalt überflogen, zu dem wartenden Dienstmädchen. »Der Bote kann natürlich hier nächtigen.«

Das Mädchen aber sagte, daß der Mann es vorziehe, nur eine Stunde zu ruhen und heute noch zurückzukehren, da voraussichtlich morgen sehr schlechtes Wetter sein würde.

»So soll er bestellen, daß ich kommen würde,« sagte Björn. »Es trifft sich ganz gut,« fuhr er dann zu Julia gewendet fort. »Ich hätte doch noch einmal hinüber gemußt vor der Reise.«

»Die Eltern hätten ja auch herkommen können,« bemerkte Julia gereizt; ihre heitere Stimmung war wie weggeblasen; sie zitterte vor Ungeduld.

»Das kannst du doch kaum verlangen. Wir waren seit Monaten nicht dort. Außerdem handelt es sich hier zunächst um Rottraut, und du mußt einsehen, daß sie die nicht mitbringen können.«

»Warum kann Rottraut ihre Angelegenheiten nicht allein besorgen?« sagte Julia hart. »Sie ist alt genug dazu. Außerdem hat sie deine Mutter, die ihr helfen kann.«

»Ich habe ihr das Versprechen abgenommen, nichts ohne mich zu beschließen; ich bin also gezwungen –«

»Warum verlangst du ihr solche Versprechungen ab?«

»Weil mir ihr Wohl am Herzen liegt, und weil ich mich nach dem Vorgefallenen geradezu verpflichtet fühle, ihr zu einer angenehmen und sichern Lebenslage zu verhelfen.«

»So müßte sie taktvoll genug sein, solche Versprechungen nicht zu geben. Warum that sie es?!«

»Weil sie Vertrauen zu mir hat.«

»Ich finde es ganz und gar unpassend,« rief Julia, die ihre Erregung nicht mehr meistern konnte, »daß du einen Verkehr weiter unterhältst, den ich abgebrochen habe!«

»Das mußt du meinem Gutdünken überlassen,« sagte Björn mit unerschütterlichem Gleichmut, beinahe kalt. Sie schwieg; aber er sah, daß sie vor Aufregung bebte.

»Ich muß dich sogar bitten, mitzukommen,« fuhr er fort. »Es wäre doch sehr unhöflich von dir gegen meine Eltern, wenn du ohne Abschied abreistest.«

»So muß ich diesmal leider unhöflich sein. Übrigens wird ihnen nicht viel daran liegen, mich noch zu sehen. Rottraut wird dafür gesorgt haben.« Björn überhörte diese gehässige Bemerkung und sagte, um dem Streit ein Ende zu machen:

»Nun – dann werde ich also allein fahren. Und zwar heute noch.« Julia wußte vor Schreck nicht gleich, was sie sagen sollte.

»Heute noch –« stotterte sie – »aber du sagtest doch eben, es sei zu spät, um nach der Stadt zu fahren – und der Weg zur Stadt ist kürzer –«

»Aus der Stadt hätten wir heute zurückkommen müssen; das macht vier Stunden Fahrzeit. Dazu die Zeit für die Besorgungen. Zu den Eltern gebrauche ich kaum vier Stunden und kann den Rückweg morgen antreten. Ich würde sowieso dort zur Nacht geblieben sein.«

Julia hatte auf diese sachliche Erklärung nichts zu erwidern; sie fühlte aber, wie ihre Erregung wuchs; alle ihre Sinne suchten nach einem Mittel, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten. Sie verfiel in den Ton eines verzogenen Kindes.

»Morgen können wir dann auch nicht zur Stadt fahren,« klagte sie, »und übermorgen werden die Pferde ruhen müssen – da geht es wieder nicht.«

»So fahre morgen allein; du kannst die Pferde bekommen. Ich werde reiten.«

»Nein – ich will aber eben mit dir fahren!« Björn unterdrückte ein unmutiges Seufzen.

»So mußt du bis übermorgen warten; ich verspreche dir –«

»Ich will aber nicht warten!« rief Julia heftig aufspringend. »Ich brauche nicht auf dich zu warten – wegen dieser andern! Ich stehe dir näher als sie, und ich kann verlangen, daß du mich vor ihr berücksichtigst!«

»Aber Julia – darum handelt es sich doch nicht! Rottrauts Angelegenheit erfordert eine schnelle Erledigung –«

»Auf einen Tag wird es dabei wohl nicht ankommen –«

»Deine Fahrt zur Stadt kann ebensogut einen Tag aufgeschoben werden!«

»Nun gut, wenn es sich in beiden Fällen um einen Tag nicht handelt, so kannst du um so eher zuerst meine Wünsche berücksichtigen!« Björns Glieder zuckten ungeduldig; aber noch bezwang er sich.

»Ich möchte gern heute noch fahren,« sagte er, »weil mich morgen vielleicht das schlechte Wetter daran hindert.«

»So wird es dich morgen am Wiederkommen hindern – aber das hoffst du vielleicht – damit du um so länger –«

Er warf ihr einen strengen Blick zu, vor dem sie verstummte.

»Meinetwegen – so fahre!« rief sie unter ausbrechenden Thränen. Dann lief sie hinaus und machte heftig die Thür zu.

Das Kind, das schon lange mit neugierigen Augen die Mutter beobachtet hatte, richtete nun einen ängstlichen Blick auf Björn.

»Ist Mutter böse?« fragte es.

»Nein – Mutter spaßt nur. Mutter wird doch nicht mit mir böse sein!« scherzte Björn; dabei standen dem Manne die Thränen in den Augen. Arme, kleine Traute! dachte er.

Indes irrte Julia im Hause umher, von allen Furien ohnmächtiger Eifersucht und von ohnmächtiger Auflehnung gegen Björns ruhigen Willen geplagt. All ihr Denken gipfelte darin, wie sie ihn hindern könne, hinüber zu fahren; und dabei wußte sie, daß es ihr ganz gewiß nicht gelingen würde.

Sich selbst zur Qual malte sie sich fortwährend sein Wiedersehen mit Rottraut aus; wie sie sich begrüßen – wie ihre Augen dabei strahlen würden; wie sie miteinander reden würden, und was? Ob auch von ihr? Wahrscheinlich – natürlich. Und dann beim Abschied – wie sie sich die Hände drücken, was sie einander alles Schöne sagen würden! – Ob sie sich wohl auch einen Kuß gaben?

Julia hätte aus der Haut fahren mögen bei dem Gedanken. Sie schämte sich nicht einmal, mit solchen Phantasien ihren Gatten zu beleidigen. Sie war ganz aus den Fugen. Sie faßte sogar vorübergehend den Entschluß, ihn zu begleiten.

Sie sah zum Fenster hinaus auf den Hof und wartete, daß sein Wagen angespannt würde. Aber das geschah nicht. Sie sah den Boten, der den Brief gebracht hatte, zum Thore hinausreiten. Die Stallthüren wurden geschlossen; es wurde dunkel und still draußen. Da ging Julia hinunter ins Wohnzimmer.

Hier war inzwischen die Lampe angezündet worden; Björn saß am Tisch und spielte mit Harry; es sah nicht aus, als ob er heute noch etwas vorhabe. Julia stellte sich vor ihn hin und sah ihn neugierig und ein wenig mißtrauisch an.

»Nun?« fragte sie gedehnt. Er antwortete nicht gleich. Dann blickte er mit unendlich sanften und dabei sehr traurigen Augen zu ihr auf und sagte:

»Ich möchte dich nicht betrüben. Ich will morgen mit dir zur Stadt fahren.«

Mit einem erstickten Aufschrei fiel sie ihm um den Hals. Nun war alles gut – wenigstens augenblicklich. Sie war zufrieden, verliebt und selig, und merkte nicht, daß er schwermütig aussah.

Über Nacht kam der Schnee mit einem wütenden Sturme. Am andern Morgen waren Wege und Plätze dick verschneit, und an allen Ecken hohe Schanzen aufgetrieben; die Knechte schaufelten Steige. Dabei dauerte das Wetter ungemildert an.

Björn erklärte beim ersten Frühstück, daß es heute unmöglich sein würde, zu fahren, und zuerst war Julia ganz einverstanden damit. Bald aber fing sie wieder an, sich innerlich aufzuregen.

Einen Tag Aufschub duldete Rottrauts Angelegenheit; ob aber zwei, drei Tage? Es war nicht anzunehmen, daß Björn sie solange auf sich warten lassen würde. Wenn das Wetter sich gebessert, würde er also doch zuerst zu ihr fahren wollen.

Schließlich – was änderte es an der Sache, ob er sie einen Tag früher oder später sah? Was war gewonnen, wenn es gelang, das Wiedersehen hinauszuschieben! Es zu verhindern, darauf kam es an!

Wie Julia in den kalten Wind hinaussah, in dem die schweren, feuchten Flocken unmutig tanzten, durchblitzte sie plötzlich ein Gedanke, der so verblüffend war, daß ihr sekundenlang der Atem stockte vor Schreck. Sie erschrak vor Freude und zugleich vor Angst. Dieser Gedanke sprach:

Wenn ich ihn nun doch bewegen könnte, heute zur Stadt zu fahren – er ist ohnehin nicht ganz wohl – so würde er sich bei diesem Wetter zweifellos erkälten. Dann bekäme er seine Schmerzen. Die würden ihn mehrere Tage ans Haus fesseln, jedenfalls an einer abermaligen Fahrt hindern. Dann müßte Rottraut allein entscheiden. Das Wiedersehen wäre nicht mehr sachlich notwendig. Dann würde Björn vielleicht überhaupt auf dieses Wiedersehen verzichten und ohnedem abreisen. Seine Eltern, wenn er es wünschenswert fand, sie noch zu sprechen, würden sicher gern zu ihm kommen, wenn Julia ihnen schriebe, daß die weite Fahrt ihm jetzt nicht zuträglich sei.

Julia stand lange regungslos; nur in ihren Augen zuckte und brannte ein unheimliches, verborgenes Leben.

Um die Mittagsstunde legte sich der Wind, und es hörte auf zu schneien; aber der Himmel blieb dunkel und drohend.

Julia ging zu Björn und bat ihn, nun doch die Fahrt zu wagen. Er blieb dabei, daß es Unsinn sei; außerdem habe er Schmerzen. Sie glaubte ihm nicht – wollte ihm nicht glauben, und fuhr fort, zu bitten. Schließlich machte sie ihm eine Scene; eine jener Scenen, die er haßte, die sein innerstes Gefühl verletzten, und in denen er doch oft nachgab, nur um sie zu beendigen.

Heute, wo er mehr denn seit lange an Rottraut dachte, wo sein Herz voll war von friedlichen, erquickenden Bildern, deren Mittelpunkt sie war, that ihm Julias Art doppelt weh. So gab er denn auch heute nach und bestellte aller Vernunft zum Trotz das Anspannen.

»Wir werden nicht weit kommen,« sagte er sich. »Und dann wird sie ihre Thorheit einsehen und sich fügen müssen.«

Sobald Julia ihren Willen durchgesetzt hatte, war sie die Liebenswürdigkeit selber; um so liebenswürdiger, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte und auf diese Weise gut machen wollte, was sie an ihm heimlich zu sündigen im Begriff war. Björn ging kaum auf ihr Geplauder ein; er war müde und mürbe.

Gleich nach dem Essen fuhren sie fort. Das Wetter war ganz leidlich; auch der Weg ließ sich besser an, als man dachte.

»Siehst du wohl?« sagte Julia übermütig und ein wenig nervös; denn wenn es so blieb, erreichte sie am Ende ihren Zweck nicht.

Als sie eine halbe Stunde gefahren waren, fing es wieder an zu schneien; gleich darauf setzte der Wind ein – mit einem heulenden Ton, wie Tauwind. Björn schlug vor, umzukehren; Julia bestand darauf, weiterzufahren.

Der Weg wurde zusehends schlechter. Die Pferde arbeiteten angestrengt, um den Wagen durch die querüber gewehten Schanzen zu ziehen; einen Schlitten hatte man des ungleichen Schneefalles und des aufgeweichten Bodens wegen nicht nehmen können. Björn führte die Zügel, lenkte die Tiere und half ihnen, so gut es ging; er sprach kein Wort mehr. Julia warf ihm manchmal einen scheuen Seitenblick zu; sie begann, sich ungemütlich zu fühlen; aber sie war zu eigensinnig, um ihre Tollheit einzusehen.

Nach einer weitern Viertelstunde saßen sie im Schnee fest. Die Pferde zogen, bis ein Strang platzte. Sie waren aufgeregt geworden, stampften ungeduldig und hoben sich auf die Hinterbeine.

Ohne ein Wort zu sagen, sprang Björn vom Wagen herunter, bis über die Knie in den Schnee. Julia schrie auf vor Schreck und machte Miene, aufzustehen.

»Bleib sitzen!« herrschte er sie an. Dann bemühte er sich gemeinsam mit dem Kutscher, das Gefährt herauszuarbeiten. Der geplatzte Strang wurde durch Stricke ersetzt. Mit den bloßen Händen schaufelten sie den Schnee von den Rädern. Zwischendurch beruhigten sie die schnaubenden Tiere.

Julia stand eine große Angst aus – nicht nur um Björn, sondern auch um sich, denn sie war bei solchen Gelegenheiten nie tapfer. Aber sie wagte sich nicht zu rühren und nicht zu sprechen.

Einmal stieß Björn, der am Vorderrade beschäftigt war, einen dumpfen Laut aus – in demselben Augenblick hatte das Pferd, hinter dem er stand, ausgeschlagen – griff sich an die linke Seite und taumelte ein wenig. Dann arbeitete er weiter; aber sein Gesicht war leichenblaß und schmerzverzogen. Julia starrte mit verängstigten Augen nach ihm hin, getraute sich aber nicht zu fragen.

Endlich gelang es, Wagen und Pferde freizubringen, indem man kurz umwendete, die Pferde am Zaum führend.

»Du hast nun wohl nichts mehr dagegen, daß wir nach Hause fahren,« sagte Björn, indem er einstieg, sehr ruhig, aber mit großer Schärfe. Julia senkte den Kopf und schwieg. Sie schämte sich und empfand nebenbei eine unbestimmte Angst.

Als Björn sich in die Decke wickelte, sah sie, daß er bis über die Knie durchnäßt war von dem an der Körperwärme geschmolzenen Schnee, und daß jede Bewegung ihm heftige Schmerzen zu verursachen schien. Weiterhin fiel ihr auf, daß er sich ab und zu schüttelte, wie vor Frost.

Der Schnee hatte sich in Regen verwandelt, der in großen, kalten, vom Wind getriebenen Tropfen niederfiel; sie liefen Björn über das nur von einem schmalen Hut bedeckte Gesicht; es machte Julia einen so kläglichen Eindruck – sie wußte selbst nicht, warum. Es dünkte sie eine Ewigkeit, bis sie wieder vor ihrer Thüre hielten; sie litt Folterqualen auf dieser kurzen Rückfahrt.

Björn stieg langsam und vorsichtig vom Wagen, wie ein Verwundeter, und begab sich, ohne ein Wort zu sagen, in sein Ankleidezimmer, aus dem er fürs erste nicht wieder hervorkam. Nachdem Julia in verzehrender Ungeduld vergeblich auf ihn gewartet hatte, schickte sie ihm einen heißen Trunk; sie konnte sich nicht entschließen, ihn ihm selbst zu bringen; sie fürchtete sich.

Bald darauf glaubte sie draußen auf dem Gange seinen Schritt zu hören. Sie lief hinaus, um nachzusehen.

Es war in der That Björn, der augenscheinlich mit großer Mühe und mit unfreien Bewegungen einen Fuß vor den andern setzte. Sie blieb stehen und sah ihn ängstlich an.

»Ich will zu Bett gehen,« sagte Björn ruhig. »Das wird besser sein.« Dabei ging er langsam weiter.

»Was ist dir –« stammelte Julia, »hast du deine alten Schmerzen –?«

»Ja; und noch andre dazu. Ich glaube, ich habe irgend eine innere Verletzung.« Sie dachte an das ausschlagende Pferd und an den dumpfen Laut, den er ausstieß.

»Fühlst du das jetzt erst?« fragte sie.

»Nein – schon auf der Fahrt. Aber es ist nicht schlimm; es wird vorübergehen. Ich denke, völlige Ruhe wird mir gut thun.«

Sie ging hinter ihm her, machte alles zurecht und half ihm beim Auskleiden, wobei er scheinbar heftige Schmerzen empfand. Sie wagte nicht weiter danach zu fragen; sie wollte nicht zu fürchten gezwungen sein, daß ihr frevelhafter Leichtsinn schlimme Folgen haben könne; sie klammerte sich an seine beruhigenden Worte: es ist nicht schlimm.

Als er sich niederlegte, schien indes sein Gesicht diese Worte zu widerrufen; sein Mund verzog sich, seine Züge schienen verfallen. Er unterdrückte wohl nur mit Mühe einen Wehelaut. Dann sah er, wie Julia ihn anstarrte.

»Siehst du – das hast du nun davon,« sagte er, halb ärgerlich halb scherzend. »Nun mußt du doch ohne mich zur Stadt fahren; denn einige Tage wird es wohl dauern –«

Julia konnte kaum ihre Freude verbergen. Wenn es wirklich ein paar Tage dauerte – um so besser. Zeit gewonnen – alles gewonnen. Trotzdem empfand sie ein fröstelndes Unbehagen. Wenn Björn wüßte, daß es ihre Absicht gewesen sei, ihn krank zu machen, nur damit er nicht zu Rottraut fahren könne, würde er sehr, sehr böse mit ihr sein. Aber sie wollte das kleine Unrecht, die kleine List gern heimlich – zu ihrer eignen Beruhigung – abbüßen. Sie wollte ihn pflegen – o, mit so viel Liebe!

Sie, und nicht Rottraut.

In der Nacht bekam Björn heftiges Fieber, und die Schmerzen steigerten sich. Gegen Morgen schickte man nach dem Arzt.

Der Himmel hatte sich aufgeklärt, der Wind gelegt. Die Sonne schien, und der Schnee war schon wieder zum großen Teil geschmolzen. Julia stand im Krankenzimmer am Fenster und versuchte, ihre innere Angst mit allerhand Nachgedanken zu zerstreuen.

»Wenn er vorgestern hinübergefahren und gestern zurückgekommen wäre, hätte er sich auch erkältet. Aber dann könnte ich nichts dafür. – Vielleicht auch wäre er des schlechten Wetters wegen erst heute zurückgefahren. Dann hätte er einen ganzen Tag und zwei Nächte mit ihr unter einem Dache geweilt; wer weiß, was dann alles geschehen wäre. Nein, es war viel besser, daß er hier lag; er könnte es ihr noch danken, daß sie ihm auf diese Weise davonhalf.

Es wurde Mittag, ehe der Arzt kam. Er fand einen akuten Gelenkrheumatismus, der auch das Herz ergriffen hatte. Außerdem hatte sich Björn einige linke Brustrippen gebrochen.

So schonend dies alles auf seinen Wunsch Julia mitgeteilt wurde, merkte sie doch, daß er in Lebensgefahr schwebte. Sie fragte den Arzt geradezu, als sie mit ihm allein war, und er hielt es für seine Pflicht, ihr die volle Wahrheit zu sagen.

Unter dieser Wahrheit brach Julia haltlos zusammen.

»Rufen Sie einen seiner Angehörigen – seine Mutter – damit Sie nicht so allein sind,« riet der Arzt, als er sah, wie sie kaum noch im stande war, seine Anordnungen zu vernehmen – geschweige denn im stande sein würde, sie auszuführen.

Sie sah ihn geistesabwesend an; dann, als er fort war, schlich sie hinauf; an allen Gliedern zitternd, kreideweiß im Gesicht; als gehe sie, um einem Gespenst ins Gesicht zu sehen.

»Du mußt nach Hause schreiben,« sagte Björn, als sie wieder an sein Bett trat, »daß und warum ich nun doch fürs erste nicht kommen kann. Es wäre vielleicht auch gut, wenn du die Mutter bätest, zu kommen – zur Unterstützung für dich. Ich fürchte, ich werde dir viele Mühe machen.«

»Ich möchte dich lieber allein pflegen,« sagte Julia. Als er sie darauf gerührt ansah, schlug sie die Augen nieder.

»Unsre Reise wird einen langen Aufschub erfahren,« sprach er matt weiter. »Wie mir das leid thut – du freutest dich so darauf!« Kein Wort des Vorwurfs; als sei er noch gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß sie schuld sei an seiner Erkrankung. Julia weinte beinahe vor Qual.

»Und um Rottraut kann ich mich nun auch nicht kümmern –« sagte er seufzend und schloß die Augen dabei.

Julias Gesicht wurde hart und böse. Aber er sah es ja nicht.

Sie pflegte ihn den ganzen Tag mit anerkennenswerter Aufopferung und Pünktlichkeit. Trotzdem, und obgleich sie sich der eignen Sorgen möglichst zu erwehren suchte, hatte sie die Überzeugung, daß es stündlich schlechter mit ihm wurde.

Sie verbrachte eine unruhige, schwere Nacht an seinem Krankenlager; voll leidenschaftlicher Angst, und voll ebenso leidenschaftlicher Abwehr gegen diese Angst; gegen die Angst, daß aus ihrem freveln Spiel fürchterlicher Ernst werden könne.

Mehr als einmal zog es sie neben ihm auf die Knie nieder, mit dem Wunsch, ihm alles zu gestehen. Aber sie that es nicht; sie wußte, daß er sie verachten würde.

Am Morgen fragte Björn, ob Julia den Seinen geschrieben habe. Sie verneinte, ohne ihre Verlegenheit verbergen zu können.

»Warum nicht?« fragte er; es klang wie eine traurige Klage. »Ich kann ja leider nicht selbst schreiben,« fügte er hinzu, mit einem Blick auf seine eingewickelten Handgelenke. »Also bitte, thu es heute; schicke einen Boten!« Sie nickte.

Der Arzt, der im Laufe des Vormittags wiederkam, mußte zwar mit der Pflege zufrieden sein, fand aber den Kranken schlechter. Er beruhigte Julia; sagte ihr, es sei ganz natürlich, daß das Fieber und die Schmerzen zunächst stiegen; nur das Herz mache ihm Sorge; er verordnete Eisumschläge. Er war sehr ungehalten, daß Julia noch keine Hilfe in der Pflege habe, und machte es ihr zur Pflicht, sich eine solche schnellstens zu verschaffen.

Julia hätte indes weder ihres Mannes Bitte noch seines Arztes Wunsch berücksichtigt, wenn nicht Björn im weitern Verlauf des Tages so starke Fieberanfälle bekommen hätte, daß sie jeden Augenblick glaubte, ihn vor ihren Augen sterben zu sehen. Unter dem Zwang der schlimmsten, feigsten Angst schrieb sie abends an Magna Heddenholm; der Brief konnte indes erst am andern Morgen befördert werden.

Zur Nacht wurde Björn ruhiger. Er bat Julia dringend, sich zu Bett zu legen; er fühle sich ganz wohl und bedürfe nichts. Als sie sah, daß er wirklich schlafen zu können schien, legte sie sich nebenan in den Kleidern auf ihr Bett und fiel nach wenigen Augenblicken in einen tiefen, schweren Erschöpfungsschlaf.

Nach einer Stunde etwa fuhr sie erschrocken auf; sie hatte verworrenes, ungemütliches Zeug geträumt; von durchgehenden Pferden, daß Rottraut geweint und Björn heftig gescholten habe.

Björn!

Eine kalte Angst überlief sie. Beim Schein der Nachtlampe sah sie nach der Uhr; es war Mitternacht vorüber. Sie sprang aus dem Bett und schlich sich leise zu ihm.

Er schlief; er lag auf dem Rücken, die Hände mit den verbundenen Gelenken fest ineinandergegriffen, den Kopf ein wenig zur Seite. Er sah nicht mehr so fieberrot aus, und Julia atmete auf in schnell genährter Hoffnung. Ganz vorsichtig schlich sie wieder zurück, legte sich nieder und schlief abermals ein.

Diesmal erwachte sie erst nach mehreren Stunden und machte sich die bittersten Vorwürfe darüber.

Merkwürdig – Björn lag immer noch so, wie vorhin; er hatte nichts an seiner Stellung geändert; sein Schlaf mußte ein sehr ruhiger sein. Vielleicht war das gestern schon die Krisis gewesen und dies der Genesungsschlaf.

Als gegen Morgen die Leute im Hause erwachten, ging Julia hinaus und befahl ihnen, leise und vorsichtig zu sein, damit sie den schlafenden Herrn nicht störten. Alle Viertelstunde horchte sie an seiner offenen Thüre; wenn nichts sich regte, ging sie befriedigt auf ihr Bett zurück.

Als es hell wurde, fing sein Schlaf an, sie zu beunruhigen. Er mußte endlich einmal wieder seine Arznei nehmen, einen neuen Eisbeutel bekommen.

Die Vorhänge vor den Fenstern hüllten das Krankenzimmer noch in tiefe Dämmerung. Sie sah, daß Björn sich immer noch nicht bewegt hatte; es kam ihr vor, als sei er blaß; die Augen eingesunken.

Sie ging hin und zog den nächsten Vorhang auf. Sie ärgerte sich, weil ihr die Hand dabei zitterte. Dann ging sie zurück zu ihm.

Die Veränderung war nun noch auffallender. – Sie neigte ihr Ohr an seinen Mund – sie hörte ihn nicht atmen. Es dünkte sie auch, als hauche er eine so eigentümliche Kälte aus. Unwillkürlich erfaßte sie seine verschlungenen Hände, als wolle sie dieselben auseinanderreißen, um ihn zu wecken.

Die Hände waren steif und kalt und gaben nicht nach.

Mit einem fürchterlichen Schrei taumelte Julia bis an das Fenster zurück. Ihre gellenden Hilferufe riefen das ganze Hauspersonal zusammen.

Sie schrie und jammerte, man solle seine Eltern rufen und den Arzt. Sie lag neben dem Bett auf der Erde in wilden, beängstigenden Verzweiflungsanfällen. Es dauerte lange, bis sie begriff, daß er eine Leiche war.

Wohlweislich hatte man das Kind ferngehalten. Aber geängstigt durch die allgemeine Verstörtheit und Unruhe im Hause, und gelangweilt, da niemand sich mit ihm beschäftigte, fand es doch endlich den Weg zur Mutter. An der Thür blieb es stehen, eingeschüchtert durch den Anblick, der sich ihm bot. Als man es wegführen wollte, wehrte es sich weinend. Dadurch wurde Julia aufmerksam gemacht. Als sie den Knaben erblickte, rief sie ihn zu sich.

»Komm!« sagte sie, zerrte ihn hart an der Hand und zog ihn neben sich vor dem Bett auf die Knie nieder. »Hier gehörst du hin! Sieh dir deinen Vater an, wie er aussieht! Hast du ihn schon einmal so gesehen?« Ihre leidenschaftliche Art, ihre starren Augen, ihr von Verzweiflungsthränen verzerrtes Gesicht entsetzte Harry. Seine Blicke wanderten wie schutzsuchend umher.

»Tot ist er!« stöhnte Julia. »Weißt du, was das ist: tot?« Sie schüttelte ihn rauh; dann riß sie ihn heftig an sich und erdrückte ihn fast in ihren Armen.

»Tot – –« wiederholte Harry, mehr neugierig als erschrocken.

»Ja! Tot! Tot! – Und weißt du auch, wer das gethan hat?« raunte sie heiser und sah das Kind wild und bange an.

»Der liebe Gott!« sagte der Knabe feierlich, faltete unwillkürlich seine Hände und sah seinen lieben Vater ehrfürchtig an.

Julia ließ ihn los und stieß ein schreckliches Hohngelächter aus. Harry aber schien allmählich das Furchtbare wenigstens einigermaßen zu begreifen. Seine Augen füllten sich mit Thränen und wurden immer ängstlicher. Endlich legte er seinen Kopf auf die Betten und schluchzte bitterlich.

Zwei Boten waren entsandt worden; einer zu Björns Eltern, der andre zum Arzt. Als letzterer um Mittag eintraf, fand er Julia noch in derselben, haltlos verzweifelten Stimmung. Auf ihre flehentlichen Bitten schickte er sich zu ihrer Beruhigung an, das völlig Überflüssige zu thun: Björn zu untersuchen, um etwaige Belebungsversuche anzustellen. Mit Schauder wandte sie sich ab, während er um den Toten beschäftigt war.

Endlich deckte der Arzt das Betttuch wieder über den stillen Mann und wandte sich tief aufseufzend zu Julia, die ihn nicht anzusehen wagte.

»Hat er irgend eine heftige Erregung gehabt – irgend eine unvorsichtige Anstrengung gemacht?« fragte er.

»Nicht, daß ich wüßte,« erwiderte sie.

»Ich sah schon im Anfang, daß die Krankheit das Herz ergriffen habe; ich glaubte aber nicht, daß die Widerstandskraft seiner gesunden Organe eine so geringe sein würde. Der Tod ist durch Herzlähmung eingetreten. Ich glaube Ihnen die tröstliche Versicherung geben zu können, daß sein Ende ein sanftes, von ihm selbst vielleicht nicht empfundenes gewesen ist. Seine friedlichen Züge zeugen davon.«

Was galt ihr diese tröstliche Versicherung gegenüber den Qualen, die ihr Gewissen zerrissen!

Sie hielt sich aufrecht, solange der Arzt da war. Auf seine Frage, ob er ihr noch in irgend einer Weise behilflich sein könne, schüttelte sie stumm den Kopf. Sie hatte keine Ahnung von allem, was nun zu thun sei; nicht die Kraft, darüber nachzudenken.


Die Nachricht, die ohne alle Vorbereitung und ohne alle Schonung am späten Nachmittage in Björns Elternhause eintraf, hatte zunächst ein allgemeines, schreckliches Verstummen zur Folge.

Man saß zusammen; man hatte seit drei Tagen auf ihn gewartet. Man war fest überzeugt, daß er kommen würde, wenn nicht ein unüberwindliches Hindernis ihn zurückhielte. – Nun wußten sie, was für ein Hindernis eingetreten war.

»Mein Junge! Mein lieber, einziger Junge!« sagte endlich Magna Heddenholm leise aus tiefstem Mutterschmerz heraus, und die Thränen begannen ihr über das Gesicht zu perlen. Aufschluchzend stürzte ihr Litta an die Brust. Und der Vater stützte die Arme auf den Tisch und barg das Gesicht in den Händen, damit niemand sähe, wie der Schmerz ihm ins Innerste riß. So erduldeten und überwanden sie den ersten Anprall.

Plötzlich richtete sich Magna Heddenholm auf und sah sich nach Rottraut um. Niemand hatte in diesem Augenblick an sie gedacht.

Sie stand an der Wand, die Hände nach hinten gestützt, sah fahl und empfindungslos aus und starrte mit leeren Augen ins Ungewisse. Sie war wie ein Mensch, den etwas Unerwartetes, Unbekanntes überfällt, und ihm mit rohem Schlage den Verstand zertrümmert, womit er es begreifen möchte.

»Rottraut!« rief Magna Heddenholm ganz entsetzt bei diesem Anblick. Sie zuckte sichtlich zusammen, und ihre Augen wanderten langsam herum, ohne an Ausdruck zu gewinnen.

»Nun müssen wir wohl hinüberfahren?« sagte sie. Der merkwürdige, trockene Ton machte alle stutzig, die ihn hörten. Rottraut ward sich plötzlich ihres seltsamen Benehmens bewußt. Sie errötete kaum merklich, sah sich mit einem hilflosen Blick im Zimmer um und ging langsam hinaus.

Natürlich, nun mußten sie hinüberfahren. Sie wußten ja nichts; nichts als die nackte Thatsache, daß er krank gewesen, daß er gestern abend eingeschlafen und am andern Morgen nicht mehr aufgewacht sei.

Eine Stunde später klopfte Litta an Rottrauts Thür. Sie klopfte sonst nie; aber es war ihr, als sei es heute angebracht.

Rottraut saß im Halbdunkel am Fenster; so saß sie schon, seit sie heraufgekommen war. Sie stand auch bei Littas Eintritt nicht auf. – Litta trug schon schwarze Kleider.

»Mutter läßt fragen, ob du mit uns fahren willst?« Rottraut hatte gar nicht überlegt, daß dies irgend welchen Zweifel zulasse. Jetzt fiel es ihr schwer aufs Herz, daß es am Ende richtiger und besser sein könne, wenn sie zurückbleibe.

»Ich will thun, was deine Mutter mir rät,« sagte sie.

»Mutter meint, du möchtest ganz nach deinem Herzen handeln; und es würde wohl in Björns Sinne sein, wenn du mitkämst.«

Das entschied für sie.

Es war eine traurige Fahrt. Der Abend war windstill, aber feucht, dunkel und sternenlos. In rasender Eile jagten die Pferde den ebenen Weg entlang; nasser Sand und gelbe Wassertropfen spritzten umher. – Rottraut saß auf ihren eignen Wunsch vorn neben dem Kutscher und sprach während der ganzen Fahrt nicht ein einziges Wort. Magna Heddenholm sah oft liebevoll besorgt nach ihr hin.

Als sie ankamen, war anfangs niemand da, ihnen das Haus zu öffnen, das ihnen düster und fast lichtlos entgegenstarrte. Sie mußten lange klopfen und sich bemerklich machen. Man fühlte sofort, hier hatte jeder den Kopf verloren.

Julia war die einzige, die den Wagen hatte vorfahren hören. Aber sie fand nicht den Mut, Björns Eltern entgegenzugehen. Bei der Leiche auf dem schmalen, kleinen Bettteppich zusammengekauert, die Stirn gegen das Holz gepreßt, unfähig sich zu rühren oder zu sprechen – so fand man sie.

Das Schlafzimmer war noch unverändert seit heute früh. Es hatte noch niemand eine liebevoll pflegende Hand an den Toten gelegt. Magna Heddenholms Mutterherz litt darunter, obwohl sie es kaum anders zu finden erwartet hatte.

Nachdem man Julia mit vieler Mühe und unendlicher Geduld die wichtigsten Umstände seiner letzten Lebenstage, sowie das Urteil des Arztes abgefragt hatte, brachte Magna Heddenholm sie halb mit Liebe, halb mit Gewalt ins Nebenzimmer und zu Bett, wo sie sich alsbald einer völligen Apathie hingab. Dann machte sie sich daran, »ihrem Jungen« die letzten Liebesdienste zu erweisen. – Litta sollte ihr alles Nötige herbeischaffen.

»Nimm den Schlüsselkorb – er steht da auf dem Ecktisch – und hole dir Rottraut; die weiß Bescheid. Ja – wo ist denn eigentlich Rottraut?«

Seit man den Wagen verlassen, hatte sie niemand mehr gesehen.

»Geh, bekümmere dich um sie,« drängte Magna. »Sie macht mir Sorge.« Litta ging.

Lange suchte sie vergebens in den dunkeln Zimmern. Endlich fand sie die Vermißte, in der Kinderstube, wo nur ein mattes Licht brannte. An Harrys Bettchen, das man hier heruntergestellt hatte, der bessern Ruhe wegen, saß sie wie ein stiller, schwarzer Schatten, in der unbequemsten Stellung, halb über das Kind geneigt, das ihre Hand fest gepackt hielt.

»Er lag hier ganz allein und weinte, weil man sein Bett heruntergetragen hatte und niemand bei ihm war. Er freute sich so sehr, als ich kam, und ist dann gleich eingeschlafen,« flüsterte Rottraut. Es war das erste, was sie wieder sprach; Litta war ordentlich glücklich.

»Ach – es war solche Wohlthat!« seufzte Rottraut.

»Was war eine Wohlthat?«

»Die Freude von dem Kinde!« Litta verstand das nicht ganz.

»Du mußt jetzt kommen, Rottraut, und mir die verschiedenen Schlüssel zeigen. Mutter braucht dies und das –«

Vorsichtig löste Rottraut die Kinderfinger von ihrer Hand und kam, an der Thür noch einen lauschenden Blick zurückwerfend.

Sie suchten alles Nötige zusammen; Rottraut wußte ganz genau in jedem Winkel Bescheid. Mit grauser Scheu sah sie, wie Litta sich mit Dingen belud, nach deren Verwendung sie nicht fragen mochte.

»Willst du ihn nicht sehen?« fragte Litta einmal leise. Rottraut antwortete nicht gleich. Ach ja, sie möchte ihn gern sehen, wiedersehen! Aber nicht, wenn all die andern dabei waren.

»Vielleicht nachher –« sagte sie. Und dann fragte sie nach Julia.

»Sie ist ganz unzugänglich, wie gelähmt. Mutter hat sie zu Bett gebracht.«

»Weiß sie, daß ich hier bin?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»So sagt es ihr lieber noch nicht. Und wenn ihr zu der Überzeugung kommt, daß ihr meine Gegenwart unangenehm sein könnte, dann sage es mir, Litta. Ich gehe dann wieder.«

»O – du –« Litta hatte in der letzten Zeit eine förmliche Schwärmerei für Rottraut gewonnen.

»Laß mir die Schlüssel hier,« sagte diese, als Litta sich entfernen wollte. »Ich kann gleich die Betten für euch zurechtmachen lassen.«

»Du bist doch ein tüchtiges Menschenkind!« sagte Litta zärtlich bewundernd.

Man beschloß, gleich hierzubleiben, bis das Begräbnis vorüber sein würde. Bei der weiten Entfernung war es das Einfachste, und dem Gefühl entsprach es am meisten so. Außerdem war es notwendig.

Julia war vollständig unfähig, irgend etwas anzuordnen, zu bedenken, zu leiten oder gar selbst zu thun. Sie verließ ihr Bett nicht wieder, lag entweder gänzlich teilnahmlos, oder in Thränenströmen, die geradezu in Weinkrämpfe ausarteten. Weder liebreiches noch ernstes Zureden hatte den geringsten Einfluß. Sie selbst konnte oder wollte nicht sprechen, und so prallten auch Worte wirkungslos an ihr ab.

Man verargte es ihr nicht. Man hatte nicht einmal in guten Tagen Leistungsfähigkeit und Tüchtigkeit von ihr verlangt; geschweige denn jetzt in diesen schlimmsten. Man kannte ihre haltlose Seele, deren einzige Stärke mit Björn dahingestorben war. Man verstand, daß dieses Unglück für sie ganz besonders schrecklich war. Und so umgab man sie mit liebevollster Schonung und zartester Rücksichtnahme. Besonders Magna Heddenholm zeigte ihr ein immer gefaßtes Gesicht, hatte immer ein ermutigendes Trostwort für sie, obwohl ihr selbst um Trost sehr bange war. – Litta hatte ihr Nachtlager bei Julia aufgeschlagen; man hielt es für besser, sie nicht allein zu lassen. Und Julia ließ auch dieses ohne Widerspruch und ohne Dank geschehen.

Durch eine Unvorsichtigkeit des sie bedienenden Mädchens erfuhr Julia bereits am ersten Tage von Rottrauts Anwesenheit. Sie war weder erstaunt noch erregt; vielleicht war es ihr jetzt gleichgültig; vielleicht hatte sie es nicht anders erwartet und sich schon vorher damit abgefunden. – Litta war zugegen, als sie es erfuhr, und freute sich im stillen, daß es ihr gar keinen Eindruck zu machen schien; nicht ein einziges Wort verlor sie darüber.

Am Abend des zweiten Tages kam Rottraut zu den trauernden Eltern, die unten betrübt zusammensaßen.

»Ich wollte etwas bitten,« sagte sie bescheiden, und doch so, als erwarte sie unbestrittene Gewährung. »Ich möchte diese Nacht bei ihm wachen.«

Arwin und Magna Heddenholm sahen einander betroffen an.

»Ich habe ihn überhaupt noch nicht gesehen,« fügte Rottraut hinzu.

»Aber, mein Kind – daran hätten wir dich doch nicht gehindert!«

»Ich mochte nicht hineingehen, Julias wegen. Ich fürchtete, die Thür möchte offen stehen, oder sie würde mich nebenan hören und sich darüber aufregen. Aber Litta hat mir heute gesagt, daß sie um mein Hiersein wisse und nichts dagegen eingewendet habe.«

Sie hatten allerlei Bedenken gegen die Erfüllung ihres Wunsches. Endlich sagten sie es ihr zu; wenigstens für die ersten Nachtstunden.

»Willst du bei Harry schlafen – oder ihn zu dir nehmen?« bat Rottraut weiter, gegen Magna gewendet. »Er fürchtet sich, wenn er allein bleibt!« Sie versprach ihr auch dieses.

Bis jetzt hatte Rottraut bei ihm geschlafen; sich überhaupt fast ausschließlich mit ihm beschäftigt, als ob das ihre einzige Beruhigung wäre. – Um acht Uhr abends trat Rottraut ihr trauriges Amt an.

Björn lag noch in seinem Schlafzimmer. Man hatte sein Bett frisch bezogen, und die dünne Decke, die man über ihn gebreitet, war mit wintergrünem Laub besteckt. Zu seinen Häupten brannte ein vierarmiger Leuchter, den Magna Heddenholm jeden Abend mit frischen Kerzen besteckte. Das eine Fenster war ein klein wenig geöffnet; die Thür zu Julia hin fest geschlossen.

Seine Mutter führte das Mädchen herein, bis an sein stilles Lager. Rottraut zitterte, vor Kälte oder vor Erregung. Sie sprach kein Wort; sie gab überhaupt keinen Ton von sich. Sie stand regungslos da, mit gefalteten Händen und tief gesenktem Kopf.

»Soll ich nicht doch lieber bei dir bleiben?« fragte seine Mutter leise. Rottraut bewegte verneinend das Haupt.

»Wirst du dich nicht fürchten?« Es klang so besorgt; aber Rottraut verneinte wieder stumm und bestimmt.

»Hier hast du einen bequemen Stuhl,« fuhr seine Mutter im Flüsterton fort. »Und da liegt auch eine Decke – es ist kühl hier, und man friert ohnehin leichter zur Nacht.« Dann stand sie noch eine Weile neben dem Mädchen, als warte sie auf irgend eine Äußerung. Als keine kam, schlich sie schwerfällig hinaus.

Als die Thür sich leise hinter ihr geschlossen hatte, blieb Rottraut noch geraume Zeit in sich versunken stehen. Dann seufzte sie langsam, hob den Kopf und sah sich mit verschleierten Augen um, als erwache sie aus tiefem Traum in einer fremden Umgebung.

Endlich fielen diese Augen auf Björn. Und je länger sie da ruhten, um so feierlicher und trauriger wurde ihr Gesicht.

»Bist du wirklich tot?« hauchten ihre Lippen, sich bewegend ohne einen Laut zu bilden. »Was soll denn nun aus uns werden –« Und wie sie stand und stand und ihn immerfort ansah, als wolle sie diesen Anblick für ewige Zeit in ihrer Seele festhalten, sammelten sich Thränen in ihren Augen und lösten sich und fielen nieder, eine nach der andern. Es waren die ersten, die sie um sein Sterben weinen konnte, und sie thaten ihr wohl – fast so wohl, als ob er sie getrocknet hätte.

»Lieber Björn!« sagte sie zärtlich, als sie sich sattgeweint hatte; und dann streichelte sie scheu und leise seine gefalteten Hände; sie fühlte deren Kälte nicht, denn auch die ihren waren ohne Wärme.

Und endlich bückte sie sich und küßte seine Hände, ebenfalls scheu und leise, wie man etwas Heiliges küßt.

Dann rückte sie den Stuhl so, daß sie das Bett im Auge behalten konnte, und setzte sich. Es war ihr ordentlich erleichtert zu Mut.

Ob sie sich fürchten würde? Ach, ihr war ja so wohl zu Sinn, so friedlich wie lange nicht. Es kam ihr vor, als ob die heilige Nähe dieses Toten sie gegen alle Unbill der Welt, alle Rauheit des Lebens beschütze. Wer liebt, der fürchtet sich nicht.

Er sah so ernst und so gut aus – so gut wie in seinen besten Stunden. Ein wenig spitz und scharf, als ob er sehr, sehr müde sei. Und die große Schwermut hatte selbst im Tode noch ihren Platz auf seiner geraden Stirn behauptet.

Sie dachte an alles, was sie mit ihm und bei ihm erlebt; wie sie sich erst vor ihm gefürchtet, und wie sie ihn dann so herzlich lieb gehabt; wie sie ihn geachtet und bewundert; wie es sie zuletzt innerlich fast zerbrochen hatte vor Mitleid und vor Zorn, weil sie sah, daß er nicht glücklich war.

Und da nebenan, hinter dieser dünnen Wand, da lag sein Weib, dieses unreife, kindische, untüchtige Weib, das es nicht vermocht hatte, ihn zu beglücken; das ihn selbst und sein großes Herz niemals verstanden und begriffen hatte; das ihn nur quälen konnte mit ihrer ungleichmäßigen Stimmung, ihrer schnell erregten Leidenschaftlichkeit, ihrer selbstischen, genußsüchtigen Liebe. Und er hatte sie getragen mit himmlischer Geduld, mit frauenhafter Selbstlosigkeit, Güte und Schonung. Und warum? Weil er ihre Schwäche kannte; weil er wußte, daß sie nicht mehr anders sein konnte; weil er wußte, daß sie ihn liebte; daß er das einzige war, was ihrem Leben Halt und Richtschnur gab; daß ihre Liebe zu ihm die einzige gute und thatkräftige Empfindung war, die sie beseelte. Weil er ihr Leben mit dem seinen vereint hatte und es nun seine heilige Aufgabe war, ihr Leben zu schützen und zu schmücken. Und endlich, weil er sie liebte. Denn kann sich soviel göttliches Erbarmen mischen in menschliches Thun, ohne große, große Liebe? Ohne die Liebe, mit der er beglückt und – gelitten hatte?

Das stille Totenzimmer wurde ihr zur Kirche, in der sie eine fromme Andacht verrichtete.

»Litta –« rief Julias Stimme im Nebenzimmer, ängstlich und klagend. Und noch einmal: »Litta!« schon lauter und ungeduldiger. – War Litta noch nicht oben?

Rottraut zögerte noch, sich zu melden. Dann, als das Rufen sich wiederholte, stand sie auf, ging leise zur Thür und öffnete sie ein wenig.

»Litta ist nicht hier. Aber ich bin da! Rottraut!«

Ein langes, banges Schweigen folgte.

»So – du –« sagte Julia endlich aus dem matt erleuchteten Schlafzimmer heraus. »Was machst du denn da drin –«

»Ich löse die Eltern ab, für die erste Hälfte der Nacht.«

»Die Eltern,« sagte sie. Sie schien ja recht intim zu sein mit ihnen. »Ist denn immer einer von euch da drin?«

»Nachts – gewiß.« Wieder eine lange Pause.

»Komm doch mal her, Rottraut!« Sie kam, ohne Zögern, mit ihren leisen, leichten Schritten. Sie erschrak tief, als sie Julias Gesicht, von der Nachtlampe beschienen, erblickte. Es sah grau und verfallen aus, wie das Gesicht einer alten Frau. Ein großes Mitleid ergriff sofort Besitz von ihrem Herzen.

Julia sah mit heißen, unglücklichen Augen lange zu ihr auf.

»Woher hast du nur den Mut genommen, wiederzukommen!« sagte sie dann.

»Aus Liebe,« erwiderte Rottraut ohne Besinnen.

»Aus Liebe – zu wem? Zu Björn oder zu mir?«

»Zu euch beiden.« Julia zuckte unruhig mit den Füßen.

»Fürchtest du dich nicht – ganz allein mit ihm?«

»Aber Julia –« es that ihr weh, sie so sprechen zu hören.

»Ich fürchte mich entsetzlich, sogar hier nebenan. – Wie lange bleibt er noch hier oben –«

»Morgen früh kommt der Sarg,« würgte Rottraut heraus. »Dann holen sie ihn hinunter.« Julia stöhnte.

»Ich werde zum Begräbnis nicht aufstehen können, Rottraut!« Das Mädchen war empört; aber es schwieg rücksichtsvoll.

»Wäre es sehr schlimm, wenn ich nicht mitginge?«

»Wenn du dich zu schwach fühlst, so kann es niemand von dir verlangen,« erwiderte Rottraut sanft. Und abermals nach einer langen Pause sagte Julia und haschte nach Rottrauts Hand:

»Ich möchte ihn noch einmal sehen. Aber du mußt dabei sein.« Rottraut half ihr, aufzustehen und zwang sie, etwas Warmes überzuziehen. Auf ihren Arm gestützt, halb von ihm getragen, schwankte Julia an ihres Geliebten Totenbett.

Sekundenlang stand sie wie erstarrt. Dann brach sie in die Knie und überließ sich einem Schmerzensausbruch, der schrecklich anzusehen war und der sogar für Rottrauts unbefangenes Ohr und Auge einen starken Beigeschmack von Reue hatte. Aber Rottraut fand diese Reue ganz am Platz; sie hob Julia in ihrer Achtung. – Endlich konnte sie es nicht mehr mit ansehen und fing an, ihr liebreich zuzureden. Merkwürdig – es hatte einen beruhigenden Einfluß.

»Und nun komm – leg dich wieder hin, liebe Julia. Du machst dich unnütz schwach und elend.« Julia gehorchte mechanisch.

»Soll ich bei dir bleiben, bis Litta heraufkommt?« fragte Rottraut, als sie Julia sorglich gebettet hatte.

»Wenn du das wolltest – ich danke dir. Setz dich hier neben mich.« Rottraut setzte sich zu ihr; sie sprach nicht, in dem Gefühl, daß möglichste Stille jetzt für Julia das beste sei. – Da fing diese an:

»Fahrt ihr nach dem Begräbnis wieder fort?«

»Ich weiß nicht. Ich denke, einer von uns wird bei dir bleiben, wenn du es möchtest.«

»Ach, wie soll das nur alles werden!« jammerte Julia.

»Das wird sich schon finden,« beschwichtigte Rottraut. »Darum mußt du dich jetzt noch nicht sorgen. Verbittere dir nicht deinen Schmerz mit Zukunftsgedanken. Seine Eltern werden dir alles aufs beste und angenehmste gestalten.«

»Wer von euch wird denn hier bleiben?« fragte sie nach einer Weile.

»Wen du am liebsten hierbehalten willst,« versicherte Rottraut eigenmächtig.

»Dann möchte ich, daß du bei mir bleibst, Rottraut!« rief Julia schnell. Sie forderte es im Ton eines kranken, verzogenen Kindes. Es überraschte Rottraut, ohne sie zu erfreuen.

»Gewiß, sehr gern,« willigte sie trotzdem sofort freundlich ein. »Ich kann ja auch am besten abkommen.«

Darauf schloß Julia beruhigt die Augen und sprach nicht mehr. – Wenn sie so aus der Erinnerung und aus ihrem beiderseitigen Verhältnis streichen wollte, was zwischen ihnen vorgefallen war, so wollte Rottraut dasselbe thun; um Björns willen, und um sein Andenken in Ehren zu halten.

Als Litta heraufkam, war sie sehr erstaunt über das, was sie sah. Aber sie äußerte nichts, sondern tauschte nur mit Rottraut einen innigen, verständnisvollen Blick und Händedruck.


Björn wurde begraben, und sein Weib ging nicht hinter seinem Sarge. Seine Eltern folgten ihm hinaus, und hinter ihnen, Arm in Arm, Litta und Rottraut; die eine bitter weinend, die andre still und blaß, mit einem jämmerlichen Ausdruck in den schönen, sanften braunen Augen.

Und dann kam ein zahlreiches Trauergefolge; lauter derbe, biedere Gestalten, kleine Bauerngutsbesitzer, Pächter und Handelsleute aus der Umgegend. Soweit Björn bekannt war, soweit seine Thätigkeit und sein Einfluß reichten, war er geachtet und geliebt, und keiner wollte fehlen bei der letzten Gelegenheit, einen Beweis davon zu geben. – Und hinter ihnen kam das ganze Dorf; vom ältesten Greise bis herunter zu den Kindern; und alle sahen ernst und traurig aus, und viele weinten.

Sie versenkten Björn auf dem kleinen Dorfkirchhof am Kirchengiebel unter einer alten Linde. Als die ersten Schollen auf den Sarg fielen, zerrissen am herbstlichen Himmel die Wolken, und Sonnenschein lachte darüber hin, als sende die Erde ihrem scheidenden Kinde einen letzten Gruß.

Schweigend, mit gesenktem Haupt und wundem Herzen kehrten die verarmten Angehörigen in das verwaiste Haus zurück.

Julia hatte oben eine entsetzliche Stunde verlebt. Sie war als einzige zurückgeblieben; sogar die Magd, die ihretwegen hatte im Hause bleiben sollen, war im letzten Augenblick heimlich davongeschlichen, und Julia klingelte vergebens.

Sie fühlte sich elend zum Sterben; nicht nur seelisch, sondern auch physisch. Ihre an Behagen und Rücksichten gewöhnte und dadurch verzärtelte Natur war solchen Stürmen nicht gewachsen.

Sie kamen und setzten sich an ihr Bett, ohne viel zu sprechen, nur um ihr durch ihre Gegenwart Trost und Beruhigung zu gewähren. Es war ihnen selbst zu weh zum Sprechen, und Julia würde ja fragen, was sie etwa zu wissen wünschte.

Aber Julia fragte nicht. Die Gegenwart dieser aller, an denen sie ein Verbrechen begangen hatte, war eine namenlose Marter für ihr zertretenes Gemüt. Nur die eine wollte sie um sich haben; nur die eine, die immer Verständnis und Nachsicht für sie gehabt hatte.

Julia vergaß, daß alle Nachsicht mit ihr gehabt hatten, immer, und am meisten in diesen letzten Tagen und heute. Sie vergaß es, weil sie sich in einem dunkeln Drange nur nach dieser einen sehnte.

Endlich waren sie alle fort. Julia hörte den Wagen über den Hof rollen, und atmete erleichtert auf. Sie wartete, daß Rottraut, welche mit hinuntergegangen war, wieder zu ihr heraufkäme. Es dauerte lange, und sie wurde ungeduldig. Wie ein Schreck durchblitzte sie der Gedanke, daß Rottraut am Ende doch mit den andern gefahren sein könne. Aber nein – so war Rottraut nicht.

Endlich, als Julia schon vor Ungeduld fast weinte, kam sie herein.

»Wo bleibst du denn so lange!« seufzte sie ihr entgegen.

»Verzeih, Julia, wenn ich dich warten ließ,« sagte Rottraut sanft. »Harry ließ mich nicht los; ich konnt's ihm nicht versagen, ein wenig bei ihm zu bleiben. Der arme Junge ist arg vernachlässigt worden in diesen Tagen, und die Trauer im Hause drückt unbewußt auf seine kleine Seele.«

»Ja, ich bin eine schlechte Mutter, wie ich auch eine schlechte Frau gewesen bin –«

Rottraut fand es nicht an der Zeit, darauf einzugehen.

»Ich wollte dich fragen, Julia, wie du es nun zu haben wünschest – ich habe in den letzten Nächten bei Harry geschlafen und würde das auch gern weiter thun. Wenn es dir aber lieber ist, daß ich zu dir heraufziehe – den Jungen wirst du wohl besser noch unten lassen –«

»Ach ja, Rottraut, komm zu mir herauf mit deinen Betten. Ich kann nicht allein bleiben. Bei Harry kann ja eins von den Mädchen schlafen.«

Rottraut stand an ihrem Lager und strich ihr schweigend mit kühler Hand die Haare aus der feuchten Stirn. Wie das arme Weib sie jammerte!

»Du bist so gut,« sagte Julia und sah mit elenden Augen zu ihr auf. »Und ich bin so schlecht zu dir gewesen! Verzeihe mir, Rottraut!«

»Ich habe dir längst verziehen. Das ist alles begraben.«

Julia warf sich unruhig umher und griff mit den mager gewordenen Händen in die Betttücher, wie von innerer Angst gepeinigt.

»Willst du nicht versuchen, zu schlafen?« fragte Rottraut.

»Nein – ich kann nicht. Ich kann nie mehr schlafen!«

»Du wirst es wieder lernen; du mußt es lernen! Du mußt dich gesund und tüchtig machen, für den Jungen!«

Der Lebenszweck, den Rottraut ihr in Erinnerung rief, schien Julia nicht zu erfreuen.

»Glaubst du, daß ich hier wohnen bleiben werde?« fragte sie nach einer langen Pause.

»Darüber wirst du vielleicht selbst zu entscheiden haben. Wenn es dir hier zu einsam wird, so kann es dir niemand verdenken, wenn du fortziehst.«

»Wo soll ich denn aber hin? – Ich möchte nicht wieder in die Welt hinaus; ich fürchte mich davor. Ich fürchte mich auch vor all der Umständlichkeit, vor dem Neueinleben, vor dem Anfang in neuen Verhältnissen. Ich bin so allein –«

Rottraut begnügte sich damit, ihr weiter beruhigend über die Stirn zu streichen.

»Ich möchte am liebsten hier bleiben,« sagte Julia und schloß die Augen. »Aber ich weiß nicht, wie ich es aushalten soll –«

»Du wirst es schon lernen, Julia. Du hast das Kind, und du kannst dir ja Arbeit machen.«

»Ja – ach, aber was nützt das alles! – Hast du schon zugeschrieben?« fragte sie ganz unvermittelt. Rottraut konnte diesem Gedankengang nicht gleich folgen.

»Was meinst du –«

»Ich meine, ob du die Stelle schon angenommen hast, die dir angeboten war?«

»Ich wollte es ja mit Björn besprechen. Nun habe ich noch nicht wieder daran gedacht.«

»Was für eine Stelle ist es denn eigentlich? Gewiß eine sehr vorteilhafte –«

»Als Gesellschafterin eines jungen Mädchens in einem Hamburger Großkaufmannshause.«

»O –«, machte Julia bewundernd. »Und sehr hohes Gehalt, nicht wahr?«

»Ja, sehr hoch,« gestand Rottraut befangen. Julia überlegte.

»Mutter schrieb, die Leute wollten gleich Antwort haben. Seitdem sind schon vier Tage vergangen. Da wird es nun wohl ohnehin zu spät sein –«

»Ich will es jedenfalls noch versuchen und heute abend schreiben.«

Julias Unruhe wurde immer größer.

»Rottraut – könntest du dich wohl entschließen – die Stellung aufzugeben?« Rottraut sah die Frau erstaunt an; sie begann zu verstehen –

»Siehst du,« fuhr Julia fort, immer unsicherer werdend und ohne die Augen aufzuschlagen, »wir sind doch eigentlich von der Natur aufeinander angewiesen – wir stehen beide allein – wir haben doch monatelang so froh und friedlich zusammen Haus gehalten – darum meinte ich, ob du dich wohl entschließen könntest, deine Stellung aufzugeben, um bei mir zu bleiben!«

Es war heraus; es hatte ihr schreckliche Mühe gekostet; die Stirn war ihr wieder feucht geworden.

Rottraut konnte nicht sofort antworten; die Frage kam zu unerwartet, und die Entscheidung war zu ernst.

»Ich glaube, Julia,« meinte sie dann zögernd, »du mußt dir das noch überlegen. Ich bin augenblicklich der einzige Mensch, an den du dich in deinem Schmerz und in deiner Verlassenheit klammerst. Das ändert sich aber. Dein Schmerz wird sich beruhigen, du wirst vielleicht ganz andre Ansichten und Pläne über dein Leben haben. Und wenn ich nun heute eine so überaus günstige Gelegenheit vorübergehen lasse, um nach Verlauf von einigen Monaten nach einer andern suchen zu müssen – verzeih mir diese Bedenken, liebste Julia, sie sind doch nicht so ganz unbegründet.«

Trotz des trüben Lichtes sah Rottraut, wie eine dunkle Blutwelle in Julias farbloses Gesicht stieg.

»Du hast ganz recht,« erwiderte sie leise. »Aber so etwas soll nicht wieder vorkommen; ich verspreche es dir. Ach bitte, bleibe doch bei mir!« rief sie, in Thränen ausbrechend. »Thu es Björn zuliebe und bleibe bei mir!«

Wirksamer hätte sie ihre Bitte nicht begründen können. Rottraut kämpfte noch einige Sekunden still mit sich selbst, und sagte dann fest und ruhig:

»Gut, Julia, ich werde deinen Wunsch erfüllen. Ich bleibe bei dir.«

»Björn zuliebe!« dachte Julia; es machte sie bitter und hinderte sie, Rottraut zu danken.

»Nun hör aber auf, über das alles nachzudenken,« bat Rottraut liebevoll. »Das wird sich nun schon ganz von selbst einrichten. Dein Schwiegervater hat mich gebeten, ihm Nachricht zu geben, wenn es dir wieder besser geht – dann wird er wiederkommen, um die notwendigen Geschäfte mit dir zu erledigen.«

»Ach – ich verstehe ja gar nichts von Geschäften!«

»Vielleicht kann ich helfen. Laß das nur jetzt. Einstweilen bleiben wir ganz allein und ungestört zusammen, bis du dich erholt hast.«

Rottraut legte sich an diesem Abend nieder in der Stimmung eines Menschen, der eine gute That gethan hat. Sie schlief auch mehrere Stunden fest und ruhig, zum erstenmal seit Björns Tode.

Mit bitterm, kläglichen Neid lauschte Julia auf ihre ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge; auf diesen Schlaf des guten Gewissens, der ihr niemals wieder beschieden sein würde.

Die fürchterliche Verzweiflung, die Björns Tod an sich ihr bereitet haben würde, war ja nichts gegen die Qual des Schuldbewußtseins, das auf ihre widerstandslose Seele drückte. Sie wagte nicht einmal, um ihn zu trauern, sich nach ihm zu sehnen, nach ihm zu schreien mit ihrer heißen, ungesättigten Seele, weil ein natürlicher Instinkt ihr sagte, daß sie das Recht dazu verloren habe.

»Hast du schon abgeschrieben?« fragte sie am andern Vormittag, als Rottraut ihr das zweite Frühstück ans Bett brachte.

»Ja,« sagte das Mädchen.

Zum erstenmal war wieder helles Tageslicht im Zimmer; solange hatte man die Vorhänge nicht zurückgezogen. In diesem hellen Tageslicht bemerkte Rottraut mit Entsetzen, wie Julia sich verändert hatte. Die frischen Farben ihres Gesichts waren verblichen; die jugendlich vollen Züge waren verwelkt; graue Haare zeigten sich an ihren Schläfen, und ihre glänzenden Augen blickten matt und heiß. Sie war um zehn Jahre älter geworden. – Aber sie aß doch wenigstens wieder. – Rottraut setzte sich neben das Bett und sah nachdenklich zu, wie sie einen Bissen nach dem andern in den Mund schob.

»Ist der Brief schon fort?« fragte Julia weiter.

»Ja –« Rottraut wunderte sich über die genauen Fragen – »die Butterfrau hat ihn in aller Frühe mitgenommen.« Julia atmete lange und tief.

»Es ist so gut von dir –«

»Laß doch – ich thu es ja gern.« Sie wußte selbst nicht, warum es ihr so unangenehm war, sich von Julia dafür loben zu lassen.

»Willst du nicht heute versuchen, aufzustehen?« fragte sie. »Du mußt doch einmal nach dem Kirchhof gehen!«

Julia neigte sich tief über ihren Teller und schwieg.

»Es ist heute so schön draußen,« fuhr Rottraut ermunternd fort. »Die Sonne scheint. Wer weiß, was nachher für Wetter kommt. Du würdest heute einen freundlichen Eindruck von seinem Grabe bekommen. Die Kränze, die obenauf liegen, sind noch ganz frisch –«

»Warst du denn schon dort?« fragte Julia, rasch aufblickend.

»Ja,« sagte das Mädchen ruhig. »Mit Harry.«

»Wie kommst du denn darauf, den Jungen mitzunehmen?«

»Er bat mich darum.«

Julia setzte das Eßgeschirr auf den Nachttisch, als sei ihr Speise und Trank plötzlich zuwider geworden, und sank erschöpft in ihre Kissen zurück.

»Rottraut,« stöhnte sie, »ich bin ein elendes Geschöpf –«

Mitleidsvoll nahm Rottraut ihre Hand und strich sanft darüber hin.

»Niemand kann deinen Kummer so gut verstehen, wie ich, denn niemand kann so gut wie ich ermessen, was du verlorst.«

Da packte Julia des Mädchens Hand und hielt sie fortan gewaltsam fest.

»Nein, Rottraut, nein – du kannst es nicht wissen. Du hast keine Ahnung davon, wie elend ich bin –« Rottraut schwieg.

»Ich will es dir aber sagen; dir allein. Ich muß einen Menschen haben, mit dem ich es teile; ich ersticke sonst daran –«

»So sag es doch, liebe Julia! Bei mir ist es wohl verwahrt!«

»Du weißt nicht, was du zu hören verlangst! Du wirst es nicht ertragen können –«

»Ich will versuchen, es dir tragen zu helfen.« Julia starrte in des Mädchens ernstes, reines Gesicht mit unheimlich erregten Augen.

»Geh hin – schließ die Thüren ab; es soll uns keiner stören!«

Rottraut gehorchte schweigend, obschon sie sich wunderte. Dann nahm sie wieder ihren Platz neben dem Bette ein.

»Erst muß ich etwas fragen,« begann Julia. »Gieb mir deine Hand – sieh mir in die Augen – antworte mir ehrlich!« Rottraut sah die erregte Frau mit einem kindlich fragenden Blick an.

»Hast du ihn geliebt, Rottraut?« Julias Stimme klang wie ein tonloses Zischen; ihre Augen wurden immer starrer. Rottraut schien das gar nicht zu merken. Es dämmerte in ihrer Seele auf wie seliges Erinnern an gesegnete Feierstunden und legte einen verklärenden Abglanz über ihr junges, blasses Gesicht.

»Ich habe ihn heilig gehalten,« sagte sie feierlich, und ihr Auge leuchtete.

»Du hast ihn geliebt!« schrie Julia auf und verbarg ihr Gesicht in den Kissen. »Du weißt es selber nicht – aber ich sehe es! – Und darum kann ich dir nicht sagen, was ich sagen wollte! – Doch, ich will es dir dennoch sagen – eben darum; denn damit, daß du ihn liebst, fällt ein Teil meiner Schuld auf dich! Du wirst mich entlasten; du wirst mir tragen helfen – anders als du großmütig dachtest!« Sie wandte sich wieder um, krümmte sich zusammen wie in körperlichem Schmerz, und sah immer zu jener auf mit diesen schrecklichen Augen, furchterregt und furchterregend.

»Hör mich an – ich will es dir erklären! – Du weißt wohl, daß du Björn versprechen mußtest, keine Stellung anzunehmen, ohne zuvor mit ihm gesprochen zu haben. Weißt du auch, warum er dir das Versprechen abnahm? Weil er dich liebte; weil er sein ganzes Herz an dich gehängt hatte! Ja, erschrick nur nicht so, du arme Seele!« Julia haschte wieder nach des Mädchens Hand; sie wollte es dicht vor Augen behalten, wollte ganz genau beobachten, welchen Eindruck ihm ihre grausamen Mitteilungen machten. Dann fuhr sie fort:

»Es war an dem Tage, wo der Brief seiner Mutter kam. Ich sah, wie er sich der Gelegenheit freute, dich wiederzusehen; der bloße Gedanke daran erfrischte ihn. Ich wußte ja längst, daß er dich liebte; ich konnt's ihm nicht einmal verdenken; ich war lange nicht gut genug für ihn, und du warst in allem mehr wie ich. Aber ich war nicht groß genug, es ihm zu verzeihen. Ihm nicht und dir nicht. Ich ertrug den Gedanken nicht, daß er dich wiedersehen würde; ich wollte es verhindern, um jeden Preis. Und wenn ich es nur hinausschieben konnte – so fand sich dann schon das Weitere. – Er hatte mir eine Fahrt zur Stadt versprochen, wo ich zu thun hatte. Ich verlangte von ihm, er solle erst diese Fahrt mit mir machen, ehe er zu dir führe. Wir zankten uns darum; d. h. ich zankte; und er gab endlich nach. An dem Tage war es zu spät zu dieser Fahrt. Am andern Morgen war furchtbares Schneewetter. Aber nun bestand ich erst recht auf meinem Willen. Denn siehst du – Rottraut – ich dachte mir, Björn würde sich auf dieser Fahrt erkälten – er war ohnehin nicht ganz schmerzfrei – und dann würde er einige Tage, vielleicht auch länger, ans Zimmer gefesselt sein – würde nicht zu dir können – und die Angelegenheit, derentwegen du ihn zu sprechen wünschtest, müßte dann ohne ihn erledigt werden. – Ich ließ ihm keine Ruhe, bis er mir den Willen that. Ich hatte keine Vernunft und Überlegung mehr; keinen andern Willen, als den: Euer Wiedersehen zu vereiteln. So fuhren wir los, obgleich Björn ungehalten war. Wir blieben stecken. Er watete bis über die Knie im Schnee herum, um uns frei zu machen. Das eine Pferd schlug nach ihm. Dazu regnete es. Er kam durchnäßt nach Hause; ich war sehr zufrieden mit dem Erfolg meines Unternehmens. Ja, sehr zufrieden. Und an diesem meinem wohlüberlegten und beabsichtigten Unternehmen ist er gestorben.«

Sie ließ Rottrauts Hand fahren, krampfte die Finger zu Fäusten, streckte alle Glieder steif von sich und schloß die Augen.

Es dauerte eine ganze Weile, ehe Rottraut im stande war, zu begreifen, was sie gehört hatte. Es war zu ungeheuerlich, zu unfaßlich für ihre Seele.

»Julia –« sagte sie endlich, und der Atem ging und kam ihr wie einem Vogel, den die Katze in den Krallen hält, – »ist das wahr – irrst du dich nicht – bildest du dir das nicht ein –«

»Ja, das ist wahr,« sagte Julia, beinahe wie mit Genugthuung. Da wich Rottraut zurück von dem Bett, Schritt um Schritt. Es sah aus, als wolle sie rückwärts nach der Thüre gehen. Die Augen hielt sie wie in einem Bann auf Julia geheftet.

Julia sah plötzlich auf, und als sie Rottraut sich entfernen sah, weiter, immer weiter, da stieß das unglückliche Weib einen Angstschrei aus und richtete sich hoch empor.

»Bleib hier,« schrie sie, und streckte die Hände nach ihr aus. »Geh nicht fort! Du hast mir versprochen, bei mir zu bleiben!«

Richtig – Julia hatte ihr das Versprechen abgenommen, ehe sie ihr das Fürchterliche sagte. O – das war schlau! Aber solche Enthüllungen lösen alle geschlossenen Bande. Rottraut entfernte sich immer mehr.

»Du mußt bleiben!« rief Julia außer sich. »Du gehörst zu mir! Ein Teil der Last, unter der ich mich winde, ist dein! – Ich beging das Verbrechen – aber du reiztest mich dazu!«

Ein schwacher Ton durchschnitt die Luft. Julia sah, wie Rottraut hinter dem hohen Fußende ihres Bettes verschwand, als sei sie in die Erde gesunken. Ein Geräusch, wie ein Fall – dann Stille; lange, schreckliche Stille.

Julia richtete sich noch mehr auf, rutschte nach dem Fußende und sah über den Bettrand.

Rottraut kniete vor einem Stuhl, der da stand, hatte das Gesicht auf die Arme gepreßt und bewegte sich nicht mehr. Julias Gesicht verriet etwas wie Befriedigung.

Mit einer gewissen Neugier wartete sie, was Rottraut nun weiter thun würde. Aber Rottraut that nichts.

Endlich dauerte es ihr zu lang. Nachdem sie mehrere male vergeblich leise und laut Rottrauts Namen gerufen hatte, stand sie auf – sie war plötzlich kräftig genug dazu – ging auf bloßen Füßen dicht zu ihr heran und berührte nach einigem Zögern ihre Schulter.

Sie taumelte bestürzt zurück, so heftig sprang das Mädchen auf. Seine Augen leuchteten in heiligem Haß.

»Rühre mich nicht an! Geh weg! Du – –«

»Mörderin! Sprich es nur aus!« lachte Julia gellend auf. »Aber sag es nicht zu laut! Denn du hast deinen Teil daran!«

»Schweig!« rief Rottraut außer sich. »Schweig mit deinen herzlosen, gottlosen Reden! Die Gedanken, deren du mich beschuldigst, sind in deinem eignen, unreinen Herzen entstanden. Und wenn du an deine frevelhaften Phantasien glaubtest, so hättest du mich umbringen sollen. Aber ihn – ihn – womit hat er das um dich verdient?«

»Er hat dich geliebt; ich weiß es!«

»Ich habe nie davon gewußt, und ich glaub's auch nicht. Wenn ich es geahnt hätte, meinst du denn, ich wäre noch eine Stunde länger in deinem Hause geblieben, und wenn ich hätte heimlich und bei Nacht und zu Fuß davonlaufen müssen! – Und er,« fuhr sie in immer wachsender Erregung fort, »wie kannst du es wagen, von ihm solche Dinge zu argwöhnen! Jetzt, wo er tot ist! Wie konntest du es wagen, bei seinen Lebzeiten seine selbstlose, große, gute Seele mit so häßlichem Mißtrauen zu verunglimpfen! Ich habe damals geschwiegen, obgleich sich alles in mir empörte – obgleich ich dich beinahe verachtete wegen deines kindischen, unwürdigen Benehmens, mit dem du ihm auf dem Herzen herumtratest! Aber jetzt werde ich reden! Jetzt werde ich alles sagen, was ich über dich denke, und wie erbärmlich, wie feige und schlecht du bist! – Als es hieß, er sei tot, da hast du mich gejammert; da dachte ich nur, wie unglücklich du sein, wie du ihn vermissen würdest. Aber nun muß ich sagen: dir ist ja nur recht geschehen! Du verdientest es ja gar nicht, daß er noch weiterlebte, für dich!« Sie hielt inne, weil die Erregung sie übermannte.

»Du hältst mir ja eine hübsche Strafpredigt!« sagte Julia, deren Seele sich unter all diesen rücksichtslosen Wahrheiten verhärtete. »Und dein ganzer Eifer, den du für ihn an den Tag legst, beweist mir ja nur, daß ich recht habe!«

Rottraut betrachtete sie mit einem Blick eisiger Verachtung. Julia ging nach ihrem Bett zurück, wo sie fröstelnd unter die Decke kroch. Es wollte Rottraut scheinen, als suche sie sich dort vor ihrem eignen Gewissen zu verstecken.

»Nun begreife ich freilich, warum du solche Angst vor seiner Leiche hattest – warum du nicht seinem Sarge folgtest und warum du nicht an sein Grab gehen willst! – Warum bist du überhaupt noch hier?« rief sie in ausbrechender Leidenschaftlichkeit. »Warum entweihst du dies Haus, das er geheiligt hat, mit deiner unheiligen Anwesenheit! Wie konntest du es wagen, seinen Eltern unter die Augen zu treten, seinen Eltern, denen du das Glück und den Stolz ihres Alters genommen hast! Wie wirst du es je vor Gott und Menschen verantworten können, was du gethan hast! Warum bist du noch hier, und verbirgst dich feige, dich und deine Schuld, statt daß du das einzige thust, was dir vor Gott und Menschen die verlorene Ehre wiedergeben könnte – statt daß du hingehst und ihnen deine Schuld bekennst!«

»Rottraut!« schrie die geängstete Frau auf und hielt sich die Ohren zu. »Hab doch Erbarmen mit mir!«

»Nein, ich habe kein Erbarmen mit dir,« sagte das Mädchen hart und kalt. »Jetzt nicht mehr.«

»Wenn du ahntest, was es heißt, um Liebe leiden –«

»Du bist sehr wunderlich, Julia. In einem Atem wirfst du mir eine Liebe vor – die, wenn ich sie wirklich gefühlt hätte, mir das größte Leid der Welt bedeuten müßte – und sagst du mir, daß ich vom Leid der Liebe nichts wisse. Mir scheint, du weißt noch viel weniger darum, denn Eifersucht ist nicht Liebe. Die völlige, wahre, selbstlose Liebe schließt die Eifersucht aus. Aber du hast nie selbstlos lieben können; du hast immer andre leiden machen – aus Eigenliebe. Und zuletzt, um dir einen Tag selbstgeschaffener, unsinniger, thörichter Qualen zu ersparen, hast du ihn – –« sie sprach nicht zu Ende; es war so fürchterlich, sie brachte es nicht über die Lippen.

»Ich habe es nicht gewollt – ich habe es nicht vorausgesehen. Ich wollte nicht sein Leben aufs Spiel setzen –«

»Du hast nicht nachgedacht. Du hattest nichts andres im Sinn, als dich, dich und immer nur dich!«

Julia stöhnte. Von dieser Seite hatte sie die Sache noch nie betrachtet. Sie hatte immer nur an ihr Unglück gedacht, an ihr tragisches, vernichtendes Unglück.

»Wenn du meinst –« begann sie stockend und sah scheu nach Rottraut hin, »daß es in seinem Sinne wäre – so will ich hingehen – und es seinen Eltern sagen –«

Wenn es in seinem Sinne wäre – nein, es wäre nicht in seinem Sinne, das wußte Rottraut sofort ganz genau. Es war vielmehr in seinem Sinne, das ganze, schreckliche Geschehnis zuzudecken und zu begraben unter einem großen, alles verzeihenden Erbarmen. – Sie schwieg.

»Laß nur –« sagte sie endlich mit ganz veränderter, müder Stimme. »Es nützt nichts. Es macht das Häßliche nur noch häßlicher. Mich brauchst du überhaupt nicht mehr zu fragen. Zwischen dir und mir ist es aus –« Sie ging nach der Thür.

»Rottraut!« rief Julia, abermals im Bett in die Höhe fahrend, »hab Erbarmen! Verlaß mich nicht in meinem fürchterlichen Elend!« Aber Rottraut wandte sich nicht mehr um.

»Du brauchst nicht in Sorge zu sein, daß ich dich verrate. Björns wegen werde ich schweigen.«

Mit leeren Augen starrte Julia auf die Thür, die sich langsam und fest hinter dem Mädchen schloß.


Auf der Treppe begegnete Rottraut dem Jungen. Es that ihr weh, ihn zu sehen – obenein in einem bunten Kittel.

»Wo willst du hin –« fragte sie.

»Ich wollte Mutter Gutenmorgen sagen!«

Unwillkürlich hielt sie ihn am Arm fest.

»Nein – geh nicht hinein –« Dann besann sie sich. Julia war seine Mutter; sie hatte ein Recht auf ihn; ein Recht, das ihr nur dann genommen werden könnte, wenn – –

»Geh nur – ich vergaß – Mutter ist schon wach.« Sie sah ihn über den Gang laufen, hörte ihn artig an die Thüre klopfen, einmal – zweimal – dreimal – und dazwischen aufmerksam lauschen. Dann kam er enttäuscht auf Fußspitzen zurückgeschlichen.

»Mutter antwortet nicht,« flüsterte er.

»Vielleicht ist sie wieder eingeschlafen.«

»Kann ich da bei dir bleiben, traute Tante?« fragte er schmeichelnd. Sie hatte allein sein wollen – nun dünkte dieses Kindes Gesellschaft sie eine Wohlthat. Sie ergriff seine kleine weiche Hand fast heftig und ging mit ihm hinunter.

War es nicht um dieses Kindes willen allein schon notwendig, Julias Schuld aufzudecken? Konnte man es verantworten, die Erziehung dieses Kindes, seines Kindes, den Händen einer solchen Frau zu überlassen? – Wenn alles ans Licht käme, so würden Björns Eltern das Kind zu sich nehmen und würden es erziehen in seines Vaters Willen. So aber würde er mit seiner jungen, erziehungsbedürftigen Seele den Launen einer schwachen, durch Schuld und Unglück friedlos gemachten Frau preisgegeben sei.

Wie konnte Julia diese Schuld nur tragen, ohne nach der Strafe zu verlangen!

Aber hatte sie die Strafe nicht schon, in der furchtbarsten, grausamsten Gestalt – in der Gestalt des stillen Mannes, der da draußen ausruhte von der großen Aufgabe seines Lebens?

Rottraut drückte das Kind an ihr Herz und küßte es heiß und leidenschaftlich. Wenn man es ihr geben möchte! Dann hätte ihr Leben einen Zweck – den allerschönsten!

Sie besorgte den Haushalt und that alles, was sie monatelang gewohnt gewesen war zu thun. Obwohl sie fest entschlossen war, dies Haus sobald wie möglich zu verlassen, so traf sie keine Anstalten, ihren Entschluß auszuführen.

Zu Julia ging sie nicht mehr. Sie sorgte für alles, was jene bedurfte, aber sie überschritt ihre Schwelle nicht. Julia ließ sie auch nicht darum bitten. – Nach Tisch verlangte sie nach Harry. Der Knabe lief seelenvergnügt hinauf und kam nach fünf Minuten wieder herunter, ganz verschüchtert, mit Thränen in den Augen.

»Was ist dir denn, Kind?« fragte Rottraut und zog ihn besorgt an sich. Harry legte sein Blondköpfchen an ihre Brust.

»Mutter weint so sehr!« sagte er scheu.

»Mutter weint, weil Vater nicht mehr da ist,« erklärte Rottraut beruhigend.

»Und Mutter hat auch gescholten,« berichtete das Kind weiter.

»Warum denn das?« fragte Rottraut, und ihr Herz zog sich schmerzlich zusammen.

»Weil ich mich fürchtete, als Mutter weinte, und weil ich sagte, ich wollte wieder zu dir gehen.«

»Das hättest du auch nicht sagen dürfen, mein Liebling. Bei Mutter mußt du immer am liebsten sein, auch wenn sie krank und traurig ist; dann erst recht, denn sie läßt dich doch rufen, damit du sie trösten und erheitern sollst!«

»Aber sie hat Schlechtes von dir gesagt,« trotzte das Kind, und ehe Rottraut es hindern konnte, fuhr es ihm heraus: »Du hättest den Vater gestohlen, und mich wolltest du auch noch stehlen! Aber das ist doch nicht wahr – Vater ist doch begraben, in seinem schwarzen Sarg, ich habe es doch selbst mitangesehen. Aber wenn du mich stehlen willst, traute Tante –« und dabei richtete er sich auf und sah sie, seinen Schmerz schnell vergessend, schelmisch an – »ich komme sehr gern mit dir! Sehr gern!«

Rottraut hatte Mühe, dem Kinde ihre Entrüstung nicht merken zu lassen.

»Du wirst deine Mutter wohl falsch verstanden haben, Liebling,« sagte sie sanft und brach damit das Gespräch ab.

Als es zu dämmern begann, ging sie hinaus auf den Kirchhof, mit einem Gefühl, wie ein Totmüder das erquickende Ruhelager aufsucht.

Der Kirchhof lag rings um die Kirche, etwas abseits von der Dorfstraße, und war von einer niedrigen, gutgehaltenen Mauer umgeben. Björns Grab war bereits schön zurechtgemacht, mit Epheu bepflanzt und die noch frischen Kränze wieder sorglich daraufgelegt. Ringsherum war geharkt und alles in wohlthuender Ordnung. Das hatte Proelsen gethan, und Rottraut dankte ihm innerlich dafür. Nur ein großer Stein lag noch da, den man beim Ausschaufeln des Grabes hatte herausheben müssen. Nachdem Rottraut lange neben dem frischen Hügel gestanden hatte, setzte sie sich auf diesen Stein, denn das Stehen wurde ihr schwer.

Und während sie saß und um ihn trauerte, der da unten lag, mit einer Trauer, die frei von aller Einmischung friedloser oder bitterer Gefühle war, begann sie nachzudenken über alles, was Julia ihr heute gesagt hatte, und was nur eine kräftige Bestätigung dessen war, was sie ihr früher schon deutlich genug zu hören und zu verstehen gegeben hatte.

Es war doch eine grenzenlose Undankbarkeit von Julia, diesem Manne, dessen ganzes Leben nur in ihrem Dienst gestanden, der sich geradezu aufgeopfert hatte, um manchmal nur ihren Launen zu genügen – diesem Manne vorzuwerfen und nachzusagen, daß er sie vernachlässigt, daß sein Herz nicht ihr allein gehört habe! Wie kann man denn so sein, wie er zu ihr war, wenn nicht aus Liebe! Und wenn es zehnmal unbegreiflich war, daß ein solcher Mann eine solche Frau liebte – so mußte das Unbegreifliche dennoch Wahrheit gewesen sein. – Er hatte sie geliebt und war nicht einmal glücklich gewesen durch diese Liebe; weil sie nicht in der rechten Weise erwidert wurde; weil Julia immer nur verlangte und selbst nie genug zu geben hatte. Aber danach hatte sie ja nie gefragt; sein Glück war ihr nie wichtig gewesen, immer nur das eigne.

Kein Mensch geht schuldfrei durchs Leben; auch Björn hatte einmal eine Schuld auf sich geladen – hatte sie sich aufladen lassen, als er zum erstenmal Julias verführerischem Liebreiz nachgab. Aber wenn je ein Mensch seine Schuld gesühnt, sein Versehen wieder gut gemacht, die Folgen seines Irrtums auf sich genommen mit sittlicher Kraft und sie zu einem guten Ende getragen hatte – so hatte Björn es gethan.

Und so wurden seine Liebe, seine Treue, seine unendliche Geduld und Güte belohnt!

Ein stechendes Herzweh krümmte Rottrauts schmale Gestalt in einem heißen Thränenausbruch zusammen.

Mitten darin stockte plötzlich ihr Schluchzen, und ihre Thränen versiegten. Sie war überrascht durch die Heftigkeit ihres eignen Schmerzes. Julias häßliche Worte klangen ihr mißtönend in den Ohren: »Du hast ihn geliebt! Du weißt es selber nicht – aber ich sehe es.« – War ihr Schmerz, dieser unsinnige, tobende, aufbegehrende Schmerz über das, was Julia gethan, etwa Liebe? – Um den Toten hatte sie getrauert; das Unrecht, das an ihm geschehen war, brachte ihre ganze, stille, sanfte Natur aus den Fugen. Erbarmen, Mitleid, Schonung, Selbstbeherrschung – alles erstarb und verging unter der Geißel dieses Schmerzes.

Rottraut hatte in der Einsamkeit und Zurückgezogenheit ihres Lebens in fast einzigem Umgang mit ihrer Mutter nie viel von Liebe gehört, nie viel darüber nachgedacht; geschweige denn selbst damit zu thun gehabt. Woher sollte sie nun wissen, ob Julia recht hatte!

Und wenn sie recht hatte – dann war Liebe freilich etwas Großes, Beglückendes, Heiliges; wenigstens solche Liebe, wie sie gefühlt hatte, und die doch himmelweit verschieden war von dem, was man gewöhnlich Liebe nannte, von dem, was Julia Liebe nannte.

Dies Nachdenken war unfruchtbar. Es änderte nichts; es führte nur zu Forschungen und Schlüssen, die sie oder Björn oder Julia verletzen und verwunden mußten. Das alles war durch den Tod mitten durchgerissen. Das alles mußte zugedeckt werden mit dem großen Erbarmen, das Björn sie fühlen gelehrt hatte.

Und sollte sich dies Erbarmen wirklich auch bis auf Julias letzte That erstrecken? – Nein – die war zu ungeheuerlich. Die verdiente kein Erbarmen, die ließ gar keine milde Beurteilung zu. Die verdiente nur Verachtung und Strafe.

Es dünkte dem weinenden Mädchen, als spräche eine weiche, ernste Stimme: »Ich danke dir, daß du so gut zu Julia bist!« und: »Du mußt immer recht liebevoll und gut zu Julia sein, nicht wahr, mein Herzenskind?«

Das Herz schwoll ihr von einer großen Sehnsucht, von einer großen Freudigkeit. Sie hatte so wenig für ihn thun können im Leben – so wollte sie im Tode für ihn das Schwerste thun.

»Ja, Björn, ich will es – weil du es willst!«

Und es kam noch eins hinzu. Sie konnte noch einem andern helfen mit diesem Liebeswerk, das sie so mutig beschloß. Und dieser andre war Harry. Wo Julias Kraft ihm gegenüber versiegte, da würde sie mit der ihren eintreten; wo Julia nicht die rechten Mittel und Wege fand, seine junge Seele zu ziehen und zu leiten, da würde Rottraut ihr helfen. Sie würde immer in Björns Sinn und Willen handeln – sie kannte beides so genau. Sie traute sich zu, ihn zu hüten und zu schirmen vor mancherlei Gefahren Leibes und der Seele, denen er ausgesetzt sein würde, wenn man ihn seiner Mutter allein überließ. Und sie konnte ihn davor schützen, mutterlos zu werden.

Sie konnte Julia davor schützen, das Kind zu verlieren und aus dem sichern Schutz ihres Heims hinausgeworfen zu werden in das Leben, an dessen Klippen sie rettungslos zerschellen würde.

Das alles war in ihre Hand gegeben; das alles. Und sie würde einst Björn Rechenschaft geben müssen über diese Hinterlassenschaft.

Wollte sie vor ihm erscheinen, an der einen Hand sein Weib, an der andern Hand sein Kind, und zu ihm sagen: »Sieh, diese habe ich dir gerettet!«?

Oder wollte sie kommen mit leeren Händen und beschämt gestehen: »Ich konnte nicht – ich hatte nicht genug Liebe!«?

Ach, sie wußte ja längst, was sie thun wollte; was sie thun mußte. Sie war ganz im Reinen mit sich. Aber es lag ein Berg zwischen ihr und dem Befolgen ihres Willens, den sie sich nicht zu überwinden getraute: das war der Abscheu, mit dem ihre Seele vor Julia zurückbebte. Wie sollte sie den bezwingen! Wie sollte sie es ermöglichen, mit ihr zusammenzuleben, sie wieder zu lieben, sie, die das gethan, an ihm!

Es war fast dunkel geworden, und aus den tiefhängenden Wolken fielen schon wieder große Tropfen.

Mit einem schweren Seufzer erhob sich Rottraut und ging langsam in das Haus zurück, dessen Luft ihr seit heute früh centnergleich auf die Brust drückte.

Nach dem Abendessen gab sie dem Mädchen, das Julia bediente, den Auftrag, ihre Betten in das Kinderzimmer herunterzutragen. Sie hatte lange mit sich gerungen – sie gewann es nicht über sich, zu Julia hineinzugehen. – Das Mädchen entfernte sich und kam bald mit verlegener Miene wieder.

»Die Frau erlaubt es nicht.«

»Dann machen Sie mir irgend ein andres Lager hier unten zurecht,« sagte Rottraut ruhig.


Harry war schon eingeschlafen. Rottraut saß nebenan im Eßzimmer bei der Lampe und nähte ihm ein paar abgerissene Knöpfe an die Höschen. Es sah aus, als sei sie immer hier gewesen und als werde sie auch immer hierbleiben. Und dabei schrie es doch beständig in ihr: »ich kann nicht – ich kann nicht!«

Im Hause war schon alles zu Bett gegangen. Aber sie konnte sich nicht entschließen, das Gleiche zu thun. Sie würde doch nicht schlafen.

Wie friedlich hatte sie sonst unter diesem Dache geruht! Ob das wohl jemals wieder möglich wäre für sie?

Wenn sie allein hier bleiben könnte – mit dem Kinde und mit ihrer Arbeit – es würde wie ein Paradies für sie sein, wie eine Art Insel der Glückseligkeit inmitten der Unruhe der Welt. Ihm sein Kind erziehen – ihm sein Erbe verwalten – konnte es einen schönern, heiligern Beruf für sie geben?

Aber Julia war da; Julia würde immer da sein. Und sie würde Julia niemals ertragen lernen.

Da ging die Thür leise auf, wie von Geisterhand geöffnet; Rottraut fuhr nervös zusammen und wurde kalt vor Schreck. Julia trat ein.

Sie sah auch fast aus wie ein Geist. Die Haare hingen ihr tief in die Schläfen; die Augen lagen in dunkeln Höhlen und hatten einen irren, beängstigenden Ausdruck; ihr Gesicht war eingefallen, ihr Mund verzogen. Sie hatte ein schwarzes Kleid übergeworfen, das unordentlich angezogen und viel zu weit geworden war.

Rottraut betrachtete sie in stummem Entsetzen, über dieser äußern Veränderung momentan alles andre vergessend.

Also das war geworden aus der hübschen, verwöhnten, leichtsinnigen und anspruchsvollen Frau! – Das!

»Was soll das heißen –« sagte Julia in ängstlicher Hast, »warum läßt du deine Betten herunterholen – warum kommst du nicht herauf? –«

»Das kannst du dir doch wohl denken,« sagte Rottraut eisig. All ihr Abscheu erwachte wieder.

»Laß mich doch nicht allein!« sagte Julia und rang verzweifelt die Hände. »Ich fürchte mich!«

»Du würdest dich nicht fürchten, wenn du ein gutes Gewissen hättest!«

»Aber ich habe kein gutes Gewissen! Ich vergehe vor Qual, die mir die Schuld bereitet, in die andre mich trieben! Siehst du denn nicht, was aus mir geworden ist!« Das Mädchen wandte sich ab und schwieg.

Da kam Julia näher, mit schleichenden, furchtsamen Bewegungen, packte plötzlich Rottrauts Arm und zischelte ihr ins Ohr:

»Du sollst bei mir bleiben – mit mir büßen –« Rottraut schleuderte ihre Hand von sich, wie man etwas Ekelhaftes abschüttelt.

»Ich habe nichts zu büßen!« sagte sie stolz, und begann, ihr Arbeitszeug einzupacken, als sei Julia nicht mehr anwesend.

»Du willst mich also verlassen?« fragte Julia. »Du hast mir aber doch versprochen, bei mir zu bleiben!«

»Du hast mir das Versprechen abgelockt, ehe ich dich kannte. Ich kann jetzt nicht mehr.«

»Und deine schöne Stelle – die ist nun doch wohl schon verloren?«

»Ja – um die hast du mich betrogen,« sagte Rottraut hart.

»Und nun willst du wieder ins Ungewisse hinaus – zu seinen Eltern vermutlich –«

»Wahrscheinlich.«

»Und wie wirst du es begründen, daß du mich verläßt –«

»Es bedarf keiner Begründung. Sie wissen weder von dem, was gestern, noch von dem, was heute zwischen uns besprochen wurde.« Sie kramte noch immer in ihrem Arbeitszeug herum, als wisse sie nicht, wie sie von Julia loskommen solle.

»Rottraut – warum willst du denn durchaus nicht bei mir bleiben?« Das Mädchen seufzte ungeduldig.

»Ich begreife nicht, wie du noch danach fragen kannst. Was du gethan hast, trennt uns.«

»Warum trennt es uns?« fragte Julia schneidend. »Weil du es mir nicht verzeihen kannst. Und warum kannst du es mir nicht verzeihen? Warum überhaupt wirfst du dich zum Richter über mich auf? – Weil du ihn liebst! – Aber eben gerade darin liegt der Grund, der zwingende Grund, weshalb du bei mir aushalten, mit mir leiden mußt. Ich kann gar nicht begreifen, daß du das nicht einsiehst!«

Da hörte Rottraut mit Kramen auf und stellte sich Julia furchtlos und stolz gegenüber.

»Wenn wirklich alles so wäre, wie du es annimmst,« sagte sie ruhig und doch tief erregt, »so wäre das ein zwingender Grund, nicht zusammenzubleiben, sondern uns zu trennen. Denn du würdest mich mit deiner Eifersucht verfolgen schlimmer wie bisher; mein Anblick würde dich nie zur Ruhe kommen lassen. Ich würde dir und du würdest mir das Leben zur Hölle machen.«

»Nun – und wenn es nicht so wäre?«

»Da es nicht so ist,« fuhr Rottraut fort, »so habe ich erst recht keine Veranlassung, auszuhalten bei einer Frau, die sich aus meiner Achtung und aus meinem Herzen hinausgefrevelt hat, und die mit rohen Händen an meine Ehre tastet!«

Da merkte Julia, daß es ihr bitterer Ernst war. Und in der Angst, in der überwältigenden Angst vor der Einsamkeit, vor der Verlassenheit, vor sich selber, rief sie außer sich:

»Willst du wirklich Björns Weib dem Elend überlassen!«

Das traf. Rottraut fuhr zusammen und senkte das erblassende Antlitz. Julia sah es wohl, und sie nutzte den Augenblick.

»Thue es Björn zuliebe, was ich mir zuliebe nicht verlangen kann! Er würde dich darum bitten, wenn er noch bitten könnte, und ihm würdest du es nicht abschlagen!«

Sie streckte die gerungenen Hände weit von sich und starrte Rottraut voll hilfloser Angst an. Rottraut kämpfte einen schweren Kampf.

»Ich kann nicht –« sagte sie fast stöhnend. »Was ich heute verspreche, bindet mich lebenslang. Wenn ich auch heute den besten Willen hätte – ich weiß nicht, ob ich es durchführen kann. Mir graut vor dir, Julia – ich weiß nicht, ob ich das Grauen jemals überwinden werde – selbst nicht aus Liebe zu ihm!«

Da fiel das unglückliche Weib auf die Knie und rutschte zu dem Mädchen hin. Und als Rottraut unwillkürlich zurückwich, klammerte es sich an den Tisch und suchte Rottrauts Antlitz mit angstgeschärften Augen.

»Versuch es doch wenigstens! Um des armen Kindes willen versuch es! Es ist sein Kind! Hab Erbarmen, Rottraut! Er würde Erbarmen haben – er würde verzeihen –«

»Er – ja. Das ist auch etwas ganz anders!«

»Er würde verzeihen, er, der Mann. Und du, das Weib, du solltest es nicht können!«

»Wenn du mich – umgebracht hättest, würde ich es dir auch bedingungslos verzeihen. Aber es handelt sich um ihn –«

»Du bist meine einzige Rettung, Rottraut! Wenn du mich mir selber preisgiebst, so stößt du mich ins irdische und ewige Verderben! – Du wirst sagen, ich sei schon verderbt und schlecht genug, und ich bin es auch; ich war es. Ich war schlecht, selbstsüchtig und grausam – aus Liebe. Die Liebe zu Björn war das einzige, das Dauer und Gewalt hatte in meinem Leben. Es hätte eine Gewalt sein können, die mich besserte, veredelte, rettete – aber es wurde eine Gewalt, die mich verdarb. Weil ich ihn höher stellte als Gott und Menschen, darum hat ihn mir Gott genommen – genommen unmittelbar durch die Schuld meiner sinnlosen Liebe. – Jetzt bin ich nicht schlecht; jetzt bin ich nichts – gar nichts; zerschlagen, vernichtet und zerbrochen durch Gott, durch das Leben und durch mich selber. Jetzt muß alles von neuem angefangen werden. Aber ich allein bin zu schwach – ich habe niemals eigne Kraft gehabt, am wenigsten jetzt. Wenn ich allein bleibe, dann wächst nur Unkraut in meinem Herzen – Disteln und Dornen –« sie schwieg erschöpft. Rottraut hatte erschüttert zugehört. Jetzt sagte sie traurig:

»Wenn ich nur wüßte, weshalb du gerade mich haben willst! Es kann dir doch nicht einmal wohlthuend sein, so wie du das alles betrachtest!«

»Weil ich dich lieb habe, Rottraut, trotz alledem! Weil ich nur allzugut einsehe, warum Björn dir gut sein mußte, und daß du in allem besser und tüchtiger bist, als ich. Weil ich weiß, daß ich an dir einen Halt haben werde. Ich vertraue dir. Ich weiß, du bist die einzige, die mich verstehen und Nachsicht mit meinen Schwächen haben wird –«

»Mein Gott – mein Gott –« flüsterte Rottraut und legte die Hand vor die Augen.

»Ihn habe ich nicht mehr,« fuhr Julia mit ihrer jammervoll klagenden Stimme fort. »Du bist wie ein Stück von ihm – wie ein Rettungsboot, das er nach mir ausgesandt hat in dem großen Schiffbruch! – Rottraut! Rottraut! Wir haben ihn beide geliebt, ein jeder auf seine Weise – wir müssen zusammenbleiben, wir können nie wieder voneinander los! Meine Schwäche bindet mich an dich, wie dich deine Stärke an mich – Rottraut, hab Erbarmen!«

Ein heftiges Schluchzen erschütterte plötzlich Rottrauts Gestalt. Große Thränen perlten zwischen ihren Fingern nieder.

»Das ist, als ob ein Engel weinte! Rottraut, laß mich dir danken für diese Thränen!« Und Julia rutschte weiter, bis sie Rottrauts Knie umklammern konnte.

»Um Björns willen – in seinem Namen flehe ich Dich an: gehe nicht von mir!«

So hatte sie auch einmal vor Björn gekniet in einer Stunde der Angst. Sie dachte daran und fing heftig an zu weinen.

»Steh doch auf, Julia,« sagte Rottraut mit gebrochener Stimme, gerade wie damals Björn gesagt hatte. »Du mußt nicht vor mir knien!«

»Nein,« rief sie und klammerte sich noch fester an, »ich stehe nicht auf – ich rühre mich nicht eher von dieser Stelle, bis du mir geantwortet hast!«

Eine schwere Stille lastete über beiden.

»Um Björns willen denn – es sei. Ich bleibe bei dir.«

Rottraut sprach es mit klarer, feierlicher Stimme, wie man einen Schwur spricht; im vollen Bewußtsein des großen, verantwortungsvollen Ernstes dieses Versprechens. Ihre Gestalt schien zu wachsen durch die Größe dieses Versprechens, und der hohe Mut, das heilige Erbarmen der Liebe leuchtete aus ihren schmerzgetieften Augen.

Julia stieß nur einen erstickten Laut aus. Sie richtete sich an der schmalen Gestalt des Mädchens auf, schlang ihm die Arme um den Hals und barg das Haupt an seiner Brust.

»Um Björns willen!« dachte Rottraut fort und fort mit verzweifelter Hartnäckigkeit. »Um Björns willen!«

So ertrug sie Julias leidenschaftliche Liebkosungen; so überwand sie den fast körperlich gewordenen Abscheu vor dem Weibe, das sich schuldbeladen und Rettung suchend an sie drängte.

»Nun kann ich wieder leben –« sagte Julia endlich, als der Sturm ihrer Erregung sich ausgebraust hatte. »Und dir will ich danken, daß du mein Leben vor dem Verderben gerettet hast!«

»Danke es nicht mir,« entgegnete Rottraut ernst. »Danke es Björn. Ohne ihn hätte ich nie den Weg gefunden, auf welchem Platz ist für uns beide. Und in seinem Namen wollen wir die Hände zusammenlegen, und diesen Weg gemeinsam gehen – bis ans Ende.«

Nach diesen Worten blieb es still. Nur Julia weinte, und nebenan sprach das Kind im Traum.

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