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Im Juli 1894, gegen Ende eines anstrengenden Schuljahres, erhielt ich eines schönen Morgens die Nachricht, ich solle mich eilends bereit machen für eine Reise nach Island, um dort meine Sommerferien zu verbringen.
Das war für mich eine außerordentlich freudige Botschaft.
Ich war damals Lehrer an einer Lateinschule bei Kopenhagen. Meine Ferien dauerten volle zwei Monate, da konnte man schon eine größere Reise unternehmen.
Aber was noch viel mehr war: die Reise sollte nach Island gehen, nach dem zaubervollen Wunderland droben im Atlantischen Meer, mit seiner erinnerungsreichen stolzen Vorzeit und seiner großartigen, herrlichen Natur, nach dem Land mit den brausenden Quellen, die ihre kochendheißen Wasser hoch in die Luft hinaufwerfen, nach dem Land mit den riesengroßen Wasserfällen, mit den zweitausend Feuerschlünden, von denen der größte groß genug wäre, daß ganz Kopenhagen, die Hauptstadt Dänemarks, bequem auf seinem Grunde Platz hätte, während der kleinste nur einem kleinen, harmlosen Brünnlein gleicht, das aber in dem harten Basaltgestein unendlich tief in die Erde hinabreicht.
Dieses wunderbare, so eigentümlich schöne Land und seine ruhmvolle Geschichte liebte ich mit einer leidenschaftlichen Liebe.
Aber nicht nur das Land, auch seine Bevölkerung bewunderte und liebte ich: diese hochbegabten, feinfühligen, etwas stolzen und streitbaren, aber zugleich herzensguten und unvergleichlich gastfreien Menschen, dieses kleine isländische Volk, das nun über tausend Jahre schon da oben am Polarkreis mit rührender Treue über die alten Erinnerungen des skandinavischen Nordens wacht, das noch heute die so klangreiche, kräftige, poetische und feinentwickelte Sprache der alten Normannen redet: die Sprache der Edda und der Sagas, dieselbe Sprache noch, die einst Harald Schönhaar, Knut der Große und all die alten Helden gesprochen haben, deren männliche Taten das kleine isländische Volk vor dem Vergessen bewahrt hat.
Ja, dieses Land und Volk, sie waren mir gleich lieb, und ich freute mich unsäglich darauf, dorthin reisen zu dürfen. – Ich sollte Island, mein Heimatland, das ich als zwölfjähriger Knabe im Jahre 1870 verlassen hatte, zum ersten Mal jetzt wiedersehen!
Das Glück, das ich in meinem Herzen darüber empfand, kann ich unmöglich beschreiben. Ich will deshalb gleich anfangen zu erzählen, wie die Reise vor sich gehen sollte.
Die Fahrt über das Meer zwischen Dänemark und Island hatte ich schon früher einmal gemacht, aber nur in der Richtung von Island nach Dänemark. Es war im Jahre 1870, als ich, wie gesagt, noch ein kleiner zwölfjähriger Junge war.
Das Schiff, auf dem ich damals reiste, war der kleine dänische Segler »Valdemar von Rönne«.
Jene Reise dauerte fünf volle Wochen. Eisberge und wütende Herbststürme waren schuld daran, daß es so langsam ging. Die ganze abenteuerliche Fahrt habe ich in dem Buche »Nonni« geschildert.
Mein nächstes Reiseziel war damals Kopenhagen, wo ich ein Jahr lang bleiben mußte. Diesen Aufenthalt habe ich in meinem Buch »Die Stadt am Meer« beschrieben.
Am 6. Juli 1894 nun sollte ich mit dem Dampfer »Botnia« von Kopenhagen nach Reykjavik, der Hauptstadt Islands, fahren, von dort dann quer über die ganze vulkanische Insel reiten, von Südwest nach Norden, bis hinauf zu dem herrlichen Eyjafjördur, und von da sollte mich Anfang September der dänische Dampfer »Thyra« wieder nach Kopenhagen zurückbringen.
Besonders der Ritt durch das Innere von Island erschien mir als der Glanzpunkt der ganzen Reise. Ein solcher Ritt über ausgedehnte, mir noch ganz unbekannte Strecken Landes mußte reich werden an Erlebnissen und Abenteuern, die ich immer am meisten liebte, zumal da es ursprünglich meine Absicht gewesen war, allein, ohne Führer und Begleiter, zu reisen.
Aber ein gutes Geschick wollte es anders: es besorgte mir einen liebenswürdigen kleinen Reisekameraden.
Sobald nämlich meine Schüler davon erfuhren, daß ich nach dem fernen Island reisen sollte, kamen sie in der Pause draußen auf dem Spielplatz der genannten Schule alle zu mir herangestürmt und überschütteten mich, so wie nur die lebhaften dänischen Kinder es können, mit einer Menge Fragen.
Zuerst wollten sie sicher wissen, ob das mit der Islandfahrt überhaupt wahr sei. Als ich es bejahte, ging das Fragen los:
»Sie wollen also dahin reisen, wo aus den heißen Quellen das kochende Wasser hoch in die Luft hinaufspritzt?«
»Ja, dahin will ich reisen.«
»Und wo es die Schafe mit vier Hörnern gibt?« rief ein anderer.
»Ganz richtig, die gibt es dort«, bestätigte ich.
»Und man reitet dort auf kleinen Pferden und setzt auf Ihrem Rücken über die Flüsse?«
»Ja, das tut man.«
»Und es gibt dort Höhlen und unterirdische Gänge, in denen Geächtete leben?«
Hierauf antwortete ich:
»Ob es die jetzt noch gibt, weiß ich nicht. Früher allerdings hat es sie wohl gegeben.«
»Aber das Eis soll in Island so lange gefrieren, daß es zuletzt ganz trocken wird und als Brennholz gebraucht werden kann?« bemerkte darauf ganz ernsthaft ein Kleiner.
Als ich ihn fragte, ob das ein Witz sein solle, erwiderte er:
»Nein, nein, mein Papa hat gesagt, das steht in einem alten Geschichtsbuch.«
Ich erklärte ihm darauf, daß dies wohl richtig sei, aber jener alte Schriftsteller (es war der Geschichtschreiber Adam von Bremen im 11. Jahrhundert) habe sich da geirrt. –
Nach dieser kurzen geschichtlichen Abschweifung ging das Fragen lustig weiter:
»In Island werden Sie gewiß auch die Hekla sehen?« rief jetzt wieder einer.
»Ja, natürlich werde ich sie sehen!«
»Und werden Sie in den heißen Quellen auch Essen kochen?«
»Selbstverständlich, das werde ich bestimmt tun!«
»Und wie weit werden Sie überhaupt In das Land hineinreiten?«
»Ich werde quer durch die ganze Insel reiten«, sagte ich; »da werde ich über Berg und Tal, über Stock und Stein und über reißende Flüsse setzen müssen.«
»Und wann kommen Sie wieder zurück?«
»In etwa zwei Monaten.« –
Auf einer solchen Reise wollten natürlich die Jungen am liebsten gleich alle mit dabei sein, und einer um den andern rief mir zu:
»Könnten Sie mich da nicht auch mitnehmen?«
»O ja, wenn eure Eltern es erlauben«, sagte ich.
Die meisten glaubten, daß sie diese Erlaubnis ohne weiteres bekommen würden.
Da läutete auf einmal die Schulglocke und brach unsere Unterredung ab. Der ganze Bubenschwarm stürmte auseinander und in die Schulzimmer zurück.
Was mich betraf, so hätte ich gern alle diese lustigen, lebhaften Jungen nach dem schönen Island mitgenommen; jedoch ich war überzeugt, daß ihre Eltern keinem die Einwilligung zu einer so langen und gefährlichen Reise geben würden. –
Darin irrte ich mich aber. Einer der Schüler, ein frischer, zwölfjähriger Junge aus Kopenhagen, der Sohn einer angesehenen Familie, brachte es fertig, daß er mitreisen durfte. Er hatte bei der Preisverteilung am Schluß des Schuljahres den ersten Preis in seiner Klasse erhalten, und zum Lohn dafür gaben ihm seine Eltern die so heiß begehrte Erlaubnis.
Der Name des Jungen war Frederik (auf deutsch Friedrich). –
Wir trafen nun sogleich beide mit dem größten Eifer unsere Vorbereitungen, denn wie gesagt, schon am 6. Juli, vormittags 9 Uhr, sollte unser Schiff, der prächtig ausgestattete kleine Dampfer »Botnia« von der »Vereinigten Dampfschiffahrtsgesellschaft«, von Kopenhagen abfahren und uns über Schottland und die Färöer-Inseln nach Island bringen.
Friedrich jubelte vor Freude und Begeisterung.
Als der Tag der Abreise gekommen war, begaben wir uns schon eine halbe Stunde vor der Abfahrt an Bord des Schiffes. Aber welche Überraschung! Auf dem Deck befanden sich bereits so viele Menschen, daß es fast buchstäblich einem Ameisenhaufen glich. Es war zunächst unmöglich, in diesem Gewimmel vorwärtszukommen.
Schließlich glückte es mir aber, bis in die Nähe des Rauchsalons zu gelangen, freilich nicht ohne Hindernisse: bald stieß ich, ganz gegen meinen Willen, einen Herrn in den Rücken, bald einen in die Seite, einen dritten vor die Brust und meinen armen kleinen Reisegefährten sogar mitten ins Gesicht. Voll Reue, und um nicht noch mehr Unheil anzurichten, gab ich es zuletzt auf, mich weiter voranzudrängen, besonders da ich bald merkte, daß es in der Kajüte und im Rauchsalon ebenso voll war wie auf Deck.
»Wenn nur die Hälfte dieser Menschen mit nach Island soll«, sagte ein deutscher Herr, der hinter mir in dem Gedränge gleichfalls feststeckte, »dann haben wir in ein paar Tagen Hungersnot auf dem Schiff!«
Ich wollte gerade antworten, da läutete die große Schiffsglocke, und auf einmal begann die ganze Menschenmenge hinunter zu den Landungsbrücken zu stürmen. Friedrich und ich wurden beinahe umgerissen in der plötzlichen Bewegung. Bald jedoch nahm das Gedränge ab, und in kurzer Zeit war das Schiff fast menschenleer. Nur etwa vierzig bis fünfzig Personen blieben zurück.
Das waren die wirklichen Islandfahrer. Alle andern waren Freunde und Bekannte von ihnen gewesen!
Der genannte deutsche Herr kam nun auf mich zu und sagte lächelnd:
»Jetzt haben wir bessere Aussichten!« –
Nach wenigen Minuten war das Schiff dann abfahrtbereit und setzte sich langsam in Bewegung. Wir glitten durch den Hafen zur »Langen Linie« hinaus, während Hunderte von Taschentüchern uns vom Lande her ein letztes Lebewohl zuwinkten.
Unser nächstes Reiseziel war Edinburg, die Hauptstadt Schottlands, wo wir in zwei Tagen eintreffen sollten.
Das Schiff dampfte bereits immer schneller in nördlicher Richtung durch den Sund. Wir alle aber blickten noch lange auf Kopenhagen zurück, das die meisten von uns erst in einem oder zwei Monaten wiedersehen sollten. –
Plötzlich machte der Kellner dem Gedanken hieran ein Ende; er gab das Zeichen zum Frühstück, und kurz nachher saßen wir alle an einem reichgedeckten Tisch im Speisesaal.
Friedrich und ich bekamen unsern Platz einer stattlichen Dame gegenüber, die einen neunjährigen, frischen, munteren Knaben neben sich hatte. Von einem Nachbarn hörten wir, daß es die Frau des isländischen Landeshauptmanns Magnus Stephensen sei, die mit ihrem kleinen Sohn Magnus nach Reykjavik zurückkehrte.
In diesem Magnus, der äußerst heiter und liebenswürdig war, fand Friedrich schnell den besten Freund und Spielkameraden. Sie stießen in eleganter, kindlicher Weise sogleich miteinander an und waren von da an unzertrennlich. –
Als wir nach dem Frühstück wieder auf Deck kamen, war Kopenhagen beinahe verschwunden, und die Türme von Kronborg erschienen am nördlichen Horizont.
Die Passagiere der ersten Schiffsklasse, in der wir reisten, bildeten eine recht bunte Gesellschaft aus allen Ländern der Welt; es befanden sich unter ihnen Engländer, Deutsche, Franzosen, Dänen, Amerikaner, Isländer, Leute von den Färöern, ja selbst Russen waren vertreten. Beständig hörte man um sich die Sprachen aller dieser Länder.
Bald wurden auch Bekanntschaften gemacht, und schon nach einer Stunde waren wir alle eine einzige, friedliche Familie, deren Einigkeit und Herzlichkeit täglich zunahm.