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Wie das sonderbar ist, … eigentlich wie ein Traum. Ich sitze ganz allein in einem Passantenzimmerchen des Glarner Hofs in Glarus. In den Gartenanlagen vor meinem Fenster plätschert hinter dickblätterigem Buschwerk das Wasser eines Springbrunnens. Das wird heute mein Wiegenlied sein und mir einen guten Schlaf bringen. Aber noch will ich nicht schlafen. Ich habe das Herz so voll.

Es ist ganz still im Hause und auf der Straße. Als ich vorhin am Fenster stand, kam der Mond gerade hinter dem Glärnisch vor und schüttete schimmernde Streifen über Schroffen und Halden und Wasserfäden, die sich hinunterringeln. Da wurde der Riese lebendig und bekam eine Stimme.

Ach, du lieber, geliebter Riese, ich verstehe ja deine Sprache, ich fühle sie, und als Antwort möchte ich mich an dich hinanschmiegen, dich ganz umfassen mit all deinen Gipfeln, deinen Abgründen und den stillen, grünen Matten …

Ich bin frei, und ich glaube an das Leben, an mein Leben, über dem Jahre hindurch das Schwert hing!

Als heute vor vierzehn Tagen in Davos Dr. Herholz in mein Zimmer kam und mir ganz ohne Vorbereitung sagte: »Fräulein Lydia, wir sind so weit, rüsten Sie sich zur Heimfahrt«, … da stand mir das Herz still vor Schreck.

Wie oft hatte ich mir diesen Augenblick ausgemalt, in dem der lächelnde Henker vor mich treten und mir sagen würde wie schon so vielen vor mir: »Sie sind als geheilt entlassen.«

Wie hatte ich in voller Fassung und Würde dieses Todesurteil entgegennehmen wollen, auch lächelnd und dem Anschein nach den lügnerischen Worten Glauben schenkend. Und nun …?

Ich fühle jetzt noch die eiskalte Leere, die plötzlich um mich war. Meine Jugend, meine armen vierundzwanzig Jahre schrien jammernd um Hilfe. »Wie lange also noch, Doktor?« brachte ich endlich vor.

Doktor Herholz, übrigens einer der wenigen unter der Herde von Ärzten, die mein Leben durchzieht, der mir immer gleichmäßig freundliche Teilnahme gezeigt hat, nahm meine Hand und fühlte gewohnheitsmäßig den Puls.

»Ruhig, ruhig – es ist Ernst, Fräulein Lydia«, sagte er und sah mich treuherzig und froh an. »Sie brauchen nicht mißtrauisch zu sein. Ich habe das aber bei Ihrer skeptischen Veranlagung vorausgesehen und Ihnen den Krankheitsbericht seit der drittletzten Injektion mitgebracht. Kommen Sie, sehen Sie selbst.«

Es flimmerte mir vor den Augen. Ich las wohl mechanisch … Gewicht … Temperatur … Sputum … usw. Diese ganze entsetzliche Reihenfolge, die tagaus, tagein Gedanken und Gespräche beherrscht hatte, und ich mußte mich von dem günstigen Ergebnis überzeugen, das ja meinen eigenen Wahrnehmungen entsprach. Aber hinter der leise aufdämmernden Hoffnung sprangen die schwarzen Kreuzchen auf, die in meinen Erinnerungsbüchern bei so vielen Namen stehen, – Namen von armen Menschenkindern, mit denen ich ein Stückchen Weg gemeinsam gemacht hatte, und denen fast allen einmal, wie heute mir, verkündigt worden war: »Sie sind als geheilt entlassen.«

»Sie dürfen das nicht, Doktor«, sagte ich dann. »Es ist eine überflüssige Grausamkeit. Das ist alles Täuschung, ein vorübergehendes Aufflackern, … ich weiß zu genau Bescheid, und ich will mich nicht selbst betrügen und mir auch keine falschen Erwartungen einimpfen lassen …«

»Ich gebe Ihnen die ehrliche Versicherung, daß es Ihnen verhältnismäßig gut geht, Fräulein Lydia. Natürlich sind Sie kein Riese, – dürfen sich nie für ganz gesund halten, – müssen vorsichtig und maßvoll in jeder Beziehung leben, – körperlich und geistig …«

Und nun begann er einen ganzen Strom ärztlicher Weisheit über mich zu ergießen. Mir war wunderlich dabei zumute. Ich widerstrebte innerlich, aber hier und da fing etwas in seinen Auseinandersetzungen an mir einzuleuchten, und endlich, als er von den Gefahren eines Rückfalls, ja des »letalen Ausgangs« sprach, die durch Erkältungen, Anstrengungen oder Erregungen herbeigeholt werden könnten, denen aber durch Willenskraft und Überlegung vorzubeugen war, – da schwankte ich schon in dem festen Vornehmen, mich trügerischen Hoffnungen zu verschließen, und die Möglichkeit, daß er die Wahrheit sprechen möchte, hob sich zaghaft und verlangend in mir.

»Doktor, Sie begehen eine schwere Sünde, wenn Sie mich betrügen. Sie könnten mich ruhig so weiter dämmern lassen. Es ist ja gerade in Ihrem Sanatorium ganz vergnüglich. Man lebt so von der Hand in den Mund und täuscht sich über vieles hinweg in der schönen Natur … Und Sie wissen ja, verlangen nach mir, um mich noch pflegen und lieben zu können, wie das so üblich ist, tut zu Hause niemand …«

»Das weiß ich gar nicht«, sagte der gute Doktor etwas verlegen, »aber es spricht auch gar nicht mit. Hören Sie doch zu. Wenn's so wäre, wie Sie annehmen, wie es leider ja auch oft geschieht und aus Menschlichkeit und tausend anderen Gründen geschehen muß – erinnern Sie sich nicht an den Gebrauch in solchen Fällen? – Dann führe ich den betreffenden Patienten doch zum Chef, und der weiß mit seiner exorbitanten, sachlich scheinenden Beredsamkeit jedes Bedenken ganz anders totzuschlagen als ich. Das wäre ihm auch bei Ihnen eine Kleinigkeit gewesen. Sie kennen doch die leuchtenden Augen, mit denen die vollkommen Überzeugten dann aus dem heiligen Arbeitszimmer zu kommen pflegen, auch wenn Sie vorher noch so mißtrauisch waren.« Das stimmte. Wie eine Bestätigung dieser Worte glitt das Bild des Einen, Unvergeßlichen durch meine Gedanken, der sich auch nie durch die berüchtigte Endunterhaltung hatte täuschen lassen wollen, der dann doch beglückt dahergekommen war wie alle die anderen und doch denselben Weg gegangen war wie sie …

»Sehen Sie, Fräulein Sargent«, sagte der Doktor weiter, »wir zwei haben uns doch ganz hübsch eingelebt miteinander, der Chef weiß das. Und als wir bei der letzten Konferenz gestern endgültig feststellten, was wir eigentlich schon seit Monaten wissen, daß von uns aus, im Augenblick nämlich, nichts mehr für Sie zu tun ist, sagte er mir großmütigerweise: »Sie können dem Wurm die Nachricht bringen. Sie stehen ihr ja näher als ich, und wenn Sie wollen, besorgen Sie auch die Korrespondenz mit den Angehörigen«, – was, nebenbei gesagt, bereits geschehen ist« …

Nun wurde mir doch schwindlig, und – was soll ich es vor mir selbst nicht eingestehen – eine ungeheure Freude brannte wie eine Flamme in mir auf. Fassungslos warf ich mich dem guten Doktor an den Hals und weinte, – weinte bis zum Vergehen …

... Und dann sind die Reisevorbereitungen gekommen, vor allem der Briefwechsel mit den Meinen, der mich nicht sonderlich enttäuschte, weil dieses brausende Glück, das aus dem Hinterhalt über mich hergestürzt ist, ihm das Gegengewicht hielt.

Im Grunde benahm man sich genau so, wie ich es mir hatte vorstellen können. Eine matte, etwas ungläubige Freude und Verlegenheit, viel Verlegenheit. Man weiß augenscheinlich nicht, was mit mir anfangen. Die ganze Familie sitzt in Gastein. Ob ich dorthin kommen wolle, ob es ein geeigneter Ort als Übergang für mich wäre. Die Kur könnte man nicht unterbrechen, Papa hätte sie so nötig gebraucht, und meine Mutter dürfte ihn nicht verlassen.

Natürlich bin ich ihnen mit der Idee entgegengekommen, daß ich zuerst noch ein wenig für mich bleiben wolle, in einer gut empfohlenen Schwarzwaldpension vielleicht, jedenfalls meine Kräfte erst einmal erproben und die Welt mit den Augen der Gesundenden sehen lernen. Und dieser Wunsch traf auch auf keinen Widerspruch. – Seit ich mündig bin, habe ich mir ohnedies die sonst nötig und standesgemäß gefundene Begleitung abgeschafft.

– Und mein Stiefvater schrieb mir sogar einen ganz herzlichen Brief. Er wolle mit seinem vollen Titel – »der Ministerialdirektor imponiert auch in der freien Schweiz« meint er irrtümlicherweise – mein Zimmer in dem Züricher Hotel bestellen, in dem ich die erste Station machen sollte.

Und Mama? …

Jedenfalls ist ihr eine Last von dem hin und her gezerrten Herzen gefallen, und sie wird sicher mit der frohen Steigerung ihres Wesens, die sie immer so liebenswürdig macht, die nächsten Wochen in Gastein genießen.

Ich aber bin nach fröhlichem Abschied von Davos, – von dem Hofrat, den ich gar nicht, dem Doktor Herholz, den ich sehr gern mochte, heute früh abgereist und, einer plötzlichen Eingebung folgend, in Weesen ausgestiegen und anstatt in Zürich in Glarus gelandet.

Das ist so gekommen:

In meinem Coupé sprachen zwei Herren von einer gewaltigen Arbeit, die man eben im Glarnerland, im Klöntal, unternähme. Man staue einen großen Bergsee, mache sein Gefälle höher und gewänne durch eine Leitung, die bis nach Zürich ginge, eine ungeheure Kraft, die industriell verwertet werden solle.

Nie im Leben hatte ich etwas Ähnliches gehört und, ich weiß nicht, als mir der Gedanke durch den Kopf schoss, was es nun alles für mich auf der Welt zu sehen und zu erleben gäbe, war ich auch schon entschlossen, mir diese Sache, die mir ganz ungeheuerlich erschien, zu betrachten.

Vielleicht hat bei diesem plötzlichen Entschluß auch ein klein wenig die Abneigung gegen das in Zürich von dem »Ministerialdirektor« bestellte Zimmer mitgesprochen, jedenfalls sitze ich hier in Glarus mit meinem glücklicherweise ausreichenden Handgepäck, während das große nach Zürich weitergereist ist.

Und ich freue mich … Freue mich des einfachen Zimmers, das man der einzelnen Dame ohne Koffer angewiesen hat, freue mich meiner Selbständigkeit und meiner Einsamkeit. Ich möchte die große, gierige Lebensfreude, die in mir rumort, hinausschreien, und doch ist mir's gerade recht, daß kein Mensch da ist, in dem sie widerhallt.

Ich brauche niemand auf der Welt, wie mich niemand braucht.

Ich stelle mich ans Fenster, und der Glärnisch mit dem Mondgeriesel über seiner machtvollen nächtigen Schönheit gibt mir, was ich in diesem Augenblick nötig habe – so an der geöffneten Tür zu Leben und Welt …

* * *

Nach traumlos durchschlafener Nacht ein halbes Erwachen voller Beklemmung und Bangen. Vergebliches Suchen nach der heißen Milch … Die Hand greift nach dem Fieberthermometer … Schwester Marie ist nicht da …

Ach, und dann die Seligkeit! … Das ist ja alles vorbei für immer oder – seien wir vernünftig – für lange Zeit …

Ich habe gefrühstückt, einen Wagen bestellt, um ins Klöntal zu fahren, und warte nur noch auf meinen grünen Schirm, dessen Stock mir der Portier gestern zerbrochen hat, und den ich heute repariert zurückerhalten soll.

Die Sonne liegt schon mit voller Glut auf den Bergen und in den breiten, nüchternen Straßen der Stadt. Die Stimmung von gestern abend ist's nicht, aber dafür zittert eine satte Sommerfreude in der klaren Luft. Wär' ich nur schon draußen! … Nein, so gut ist mir's nicht geworden.

Eine Depesche. Da liegt sie neben mir auf dem Tisch und mahnt: hinter den Bergen wohnen Leute, die sich wie ein Keil in das drängen, was sich eben in mir zusammenfügen will aus dem Durcheinander, das Krankheit und Einsamkeit in mir geschaffen haben … Natürlich Mama – natürlich sehr lang – das spart einen versprochenen Brief, der nicht geschrieben wird, was der Ärmsten dann doch wieder ein paar schlaflose Nächte macht …

»Warum Glarus? Bitte jetzt jedenfalls dortbleiben. Kommerzienrat Hillmann, Jugendfreund deines Vaters, mit Sohn wollten dich Zürich aufsuchen, kommen nun Glarus. Bitte herzlich aufnehmen. Näheres brieflich. Soll ich Edina schicken? Treue Grüße. Mama.«

Unglaublich …, unerhört … Hätte ich doch auf den Schirm nicht gewartet – dann wäre ich jetzt unterwegs, erst übermorgen zurückgekommen, und die eiligen Herren, die die Familie mir auf den Hals schickt, hätten das Nachsehen gehabt. Was können sie denn von mir wollen? Ich habe zwar eine Verbindung mit »Hillmann«, aber nur eine in Geldsachen, und ich weiß im Augenblick nicht einmal, welcher Art.

Was hindert mich übrigens auch jetzt noch, einfach meiner Wege zu gehen?

Mamas Bitte?

Nein … Mama ist eine liebe, fremde Frau, die sich bereitwillig unter das Joch des »Ministerialdirektors« geduckt hat und nur manchmal aus ihrem behaglichen Nest nach ihrer verlassenen Ältesten angstvoll hinüberstarrt … Ach …, ich klage sie nicht an. Ich klage niemand an, aber ich habe sie mir alle abgewöhnt – jeden einzeln und die ganze Familie zusammen.

Eine dunkle Erinnerung aus einem anderen Leben rührt hier und da an mein Herz.

In einem schönen Lande am blauen Meer, an dem Palmen stehen – die Riviera – San Remo, wo mein armer Vater an der Schwindsucht gestorben ist und auch begraben – war ich ein geliebtes und vergöttertes Kind. Unzertrennlich von meiner traurigen Mutter, die vor Sehnsucht und Gram um den Heimgegangenen fast verging. Mein kleines Bett stand neben dem ihren, ich kletterte zu ihr, wenn ich sie weinen hörte, kuschelte mich an sie, und dann schliefen wir zusammen ein. Sie war sehr schön und gut, meine Mama – und liebte mich sehr. Vielleicht ist das Übermaß an Liebe, das sie damals auf mich geschüttet hat, das gewesen, was sich sonst auf ein ganzes Leben verteilt.

Als ich sieben Jahre alt war, lernten wir den Ministerialdirektor kennen, der aber damals noch Regierungsrat war. Ich begreife es ganz gut, daß der energische, herrische Mann mit seiner schnurgeraden, unanfechtbaren Korrektheit und meine weiche, hochgestimmte und haltbedürftige Mutter sich so gut zusammengefunden haben. Auch mein kleines Herz jubelte ihm damals entgegen, denn Mama wurde zusehends heiter und glücklich im Verkehr mit ihm, und ich selbst war sein großer Verzug … Blieb es auch eine kurze Zeit – in der neuen Häuslichkeit in Berlin sogar noch, – bis der Alltag und eine große Geselligkeit mich allmählich von ihm und auch von der Mutter abzudrängen begannen … Zu meinem maßlosen Erstaunen …

Edina erschien auf der Bildfläche. Mit ihrem Schweizer Französisch, ihrer peinigenden Ordnungsliebe und der barbarischen Strenge, wenn ich allein mit ihr war, doch – um gerecht zu sein – auch mit einem im Grunde liebevollen Herzen und dem heißen Wunsch, die ratlose kleine Entthronte zu entschädigen. Mama wurde sogar ein ganz klein wenig eifersüchtig und wollte sie fortschicken.

Die gute Mama! Heute ist Edina ihr im Hause alles, und daß sie sie mir herschicken will, ein Opfer, das die ganze Wirtschaft aus dem Gleichgewicht brächte, wenn ich es annähme. Aber das tue ich nicht. Ich brauche Edina nicht mehr, wenn ich mich auch damals an die zankende kleine Französin klammerte. Damals, als sich das Herz meiner Mutter langsam von mir abwendete, weil die Vergangenheit versank – versinken sollte, und ich mit dem Gesicht eines, der auch nicht mehr da sein durfte, als Mahner daran dastand.

Das ist ja wohl ganz einfach und nur menschlich, aber die junge, heiße Kinderseele konnte sich in diesem wirren Rätsel nicht zurechtfinden und wußte nicht wohin mit aller unerwünschten Liebesfähigkeit. Dann kamen die kleinen Geschwister, und die habe ich mit einer Seligkeit in mein banges Herz geschlossen, die ich zuweilen heute noch nachempfinden kann. Und eine kurze Zeit frohen Kinderglücks ist mir ja dann auch noch beschieden gewesen unter den süßen, strampelnden Geschöpfchen, die die Arme nach Liddy ausstreckten und sich heiser nach ihr schrien.

Und – da ich einmal diese alten Erinnerungen zurückrufe – mein Stiefvater fing in dieser Zeit an, sich mehr als je mit mir zu beschäftigen. Wohl seiner im Grunde gerechten Natur folgend – um dann mit gutem Gewissen seine eigenen zwei mit der ganzen echten Liebe zu überschütten – die er für mich natürlich nicht empfinden konnte. Und noch einmal ist mein Herz für ihn aufgeglüht mit unbeschreiblicher Anbetung. Ich habe wahrhaftig den bon Dieu, zu dem ich abends meine prières sagen mußte, abgeschafft und den heißgeliebten Papa an seine Stelle gesetzt.

Gott, Gott, was kann solch ein kleiner Mensch lieben und leiden, und wie gut ist es, daß ich das alles in so jungen Jahren habe abstreifen müssen! Wie hätte ich wohl mein hartes Schicksal, wie dieses schwerste des letzten Jahres, tragen können, wenn Liebes- und Leidensfähigkeit mit dem Alter noch gewachsen wären! …

Als die erste Lungenentzündung kam, ist wohl das bißchen bleiche Sonne aus meinem Kinderleben ganz verschwunden. Natürlich bin ich sorgsam gepflegt worden, aber als ich genesen war, fiel mir das blasse Entsetzen, von dem meine arme Mutter bei meinem leisesten Hüsteln oder dem leichtesten Unwohlsein geschüttelt wurde, doch als etwas Ungewöhnliches auf.

Bei dem nächsten Katarrh, wie ihn Annie und Mia auch eben durchgemacht hatten, wurde mein Bett aus dem Kinderzimmer geschafft und meine Arbeitsstunden so gelegt, daß sie in die Zeit fielen, in der die Kleinen wach waren und sonst mit mir gespielt hatten. Ich durfte sie auch nicht mehr herzen und küssen wie früher, und es schien mir, daß man mir aus dem Wege ging, wo ich mich zeigte.

Natürlich war das eine übertriebene Ängstlichkeit und wohl auch noch Sorge um mich dabei, aber das konnte ich nicht begreifen, und eine furchtbare Verdüsterung kroch in mich hinein. Sie wuchs zu einer grenzenlosen Verzweiflung an, die mich heute noch in der Erinnerung erbeben läßt, als eines Tages mein Stiefvater mich unsanft beiseitestieß, wie ich, das Verbot vergessend, die kleine Mia in die Arme nahm und sie lachend und tollend abküßte.

Ach, dieser Blick, dieser eisige, böse Blick, der sich in mein Herz bohrte, den ich nie, nie vergessen werde, wenn mein Stiefvater und ich auch auf dem angenehmsten Verkehrsfuße stehen!

Ich glaube, jenes kleine Ereignis ist die Veranlassung gewesen, daß man mich fortbrachte.

In ein Pensionat für lungenleidende Kinder. Nach Davos – mit einer jungen, sanften, freundlichen Erzieherin. Man erwies dem armen Ding damit zugleich eine Wohltat, denn sie war eine schwer Leidende, und sie ist auch die erste geworden, deren Namen mit einem schwarzen Kreuz in meinem Fremdenbuch den langen Zug des Todes eröffnet hat, der von da an mein Leben geleitet.

Eine Heimat habe ich seitdem nicht mehr gehabt. Bis zur Konfirmation das Pensionat mit seinen leidenden Insassen, meist Waisen oder Halbwaisen wie ich. Daß man mich durch die Übersiedelung aus dem Hause nach einem verseuchten Orte, – mich und manche andere vermutlich in bester Absicht – erst aus der Welt des Blühens in die des Vergehens gestoßen hat, ist mir übrigens feste Überzeugung geworden. Ich habe mich wenigstens ohne die Anzeichen der furchtbaren Krankheit, die ich ererbt haben sollte, gehalten, bis ich vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war. Die ersten Fieberanfälle bei den rasch aufeinander folgenden Katarrhen waren ein Geschenk für die erwachende Jungfrau.

Und damit hat das Wandern von Sanatorium zu Sanatorium und jenen Hotels, in denen man Lungenkranke aufnimmt, begonnen – unterbrochen durch einen kurzen Aufenthalt in der jeweiligen Sommerfrische der Eltern, in Begleitung der eben lebenden Erzieherin oder später Gesellschafterin, unter sorgfältiger Beobachtung aller nur denkbaren Desinfektionsveranstaltungen, unterbrochen durch einen mehrtägigen Besuch der Mutter, zuweilen auch des Vaters, in meinem Winterasyl.

Ich kenne sie alle – Andreasberg, Badenweiler, Wehrawald – Ospedaletti, Mentone, Nervi, San Remo – Davos und wieder Davos. – Im Grunde, wenn das Fieber schlief, ein sorgloses Leben voll äußeren Behagens. Ich bin nur in den teuersten und vornehmsten Anstalten und Hotels gewesen, dank dem Reichtum von meinem verstorbenen Vater her. Um mich herum ein buntes, internationales Treiben, eine verzärtelte Kultur, viel unbeschützte Jugend neben den lebenserfahrenen reiferen Leidensgenossen. Allen gemeinsam eine gesteigerte Lebens- und Liebesgier und allen gemeinsam der Tod im Nacken. Ich habe von allem gekostet, innerhalb der Grenzen, die ein gewisses, wohl ererbtes Schicklichkeitsgefühl meinem Temperament immer gezogen hat, und der Gesamtinhalt dieser Jugendjahre ist überhitzter Flirt, überhitzte Fröhlichkeit, überhitzte Trauer und Einsamkeit – Einsamkeit – Einsamkeit …

Mit einer kurzen Unterbrechung.

Ich taste jetzt manchmal mit scheuen Händen in dieser Erinnerung herum, die mich noch vor einem Jahre bis dicht vor den Abgrund der Selbstvernichtung riß.

Heute, in diesem Augenblick, ist es mir sogar beinahe Bedürfnis, mir Walter Hertog hierher zu rufen, ihn vor mir zu sehen, wie ich ihn in Arosa zuerst sah. Groß, schmalschulterig, damals noch sehr aufrecht – ein Römerkopf mit brennenden Augen und einem Zug so verbitterten Leidens um den schmallippigen Mund, daß mir jetzt noch bange wird, wenn ich daran denke.

Wir haben uns sehr bald zusammengefunden.

Ich war der rechte Kamerad für einen, dessen schmerzvoller Kampf gegen das Sterbensollen ein viel härterer war als der der vergehenden Kreatur, den ich so oft mit angesehen hatte, denn bei meinem neuen Freunde wurde er verschärft durch einen fressenden Ehrgeiz, dem die Todeskrankheit plötzlich das Ziel entrissen hatte.

Hertog, obwohl auf dem Boden der bestehenden Staatsformen stehend, hielt sich – wohl nicht mit Unrecht – für einen großen sozialen Reformer. Er hatte eben als junger Assessor den ersten Schritt getan, der ihn der Verwirklichung seiner Pläne zuführen sollte, er war ins Ministerium berufen, und das Feld für seine offene und heimliche Arbeitsgier lag frei vor ihm. Da hatte ihn die Familienkrankheit, der er mit seinem eisernen Willen zu entwischen hoffte, nach einer starken Influenza gepackt und niedergeworfen.

Zwei Jahre lang sind wir Weggenossen gewesen im Schwarzwald, in den Schweizer Bergen und am Mittelländischen Meer.

Mein Gott – welch ein wildflackerndes Leben! – Und dabei Liegestuhl an Liegestuhl!

Er hielt mich natürlich ganz und gar in seinem Bann. Er war ja so weise wie niemand, den ich kannte. Er hatte den Dingen dieser Welt auf den Grund geschaut. Er konnte das anscheinend Gute, mit dem sie sich umkleideten, von ihnen reißen und ihr nacktes Skelett offenbaren.

Alles war Moder – alles, was leuchtete, Verwesungserscheinung. Der Tod beherrschte sein ganzes Denken, weil er sich ihm verfallen sah. Und mich mit …

Oft sprachen wir über das alles, bis sich das Fieber über uns warf. Dann waren wir für Tage getrennt, und wenn wir uns wieder trafen, fingen wir auch wieder an, das Leben zu zerteilen und zu verhöhnen. Wir verspotteten jedes Gefühl, unser eigenes zuerst.

Denn natürlich – trotz allem – liebten wir uns.

An Frühlingsabenden, wenn in der Halle die Italiener »vorrei morire« heruntertremolierten, dann kam es wohl, daß uns Jugend und Rausch doch packten.

Wir liefen hinunter zu den Bambusbüschen oder zu den roten Rosensträuchern, die eben aufblühen wollten, und lagen uns in den Armen und küßten uns voller Leidenschaft.

An die Zukunft zu denken, hüteten wir uns. Wenn wir am Tage über das süße Erlebnis der schwachen Stunde sprachen, fanden wir großartige Worte, bald der Entsagung, bald des Hohnes.

Manchmal gingen wir in unseren Gesprächen auch bis auf das Äußerste – die gänzliche Vereinigung in Rausch und Glut …

Einmal ganzes, volles Menschenglück … einmal vor dem Tode …

Aber dann kam jedesmal eine große Abkühlung. Wir höhnten wohl über die höhere Tochter und den Regierungsassessor – aber aus ihnen herauskriechen konnten wir doch nicht …

Nach einer längeren Sommertrennung trafen wir uns in Davos wieder.

Da fing es plötzlich an, ihm besser zu gehen. Ach, wie hab' ich jeden kleinen Fortschritt mit ihm erlebt und genossen! Wie hab' ich für ihn gejubelt! Er selbst blieb lange Zeit ungläubig.

Bis eines Tages Dr. Herholz ihn zum Professor rief.

Da kam er denn glühend und mit leuchtenden Augen zu mir, setzte sich an meinen Liegestuhl und sagte in staunender Glückseligkeit nur immer vor sich hin: »Geheilt entlassen – geheilt entlassen.«

Und dann hat er die Lehne meines Stuhls umklammert. Ich habe mich aufgerichtet, seinen Kopf in meine Hände genommen, – und habe ihn küssen wollen … Und da – Aug' in Auge – sah ich in dem seinen plötzlich etwas aufblitzen … Bangigkeit – Furcht – Grauen …

Ein Blick, ähnlich wie jener, der meine Kindheit vergiftet hat, damals, als ich mein Schwesterchen küssen wollte, und mein Stiefvater mich zurückriß …

Er hat sich dann rasch losgemacht und allerlei gesprochen – von der Ehrlichkeit, auf die unsere Freundschaft sich gründete – – er hätte in der Tat eben ein wohl entschuldbares Gefühl von Furcht gehabt – die Furcht des Genesenden vor dem Kranken – das wäre etwas ganz Animalisches und hätte nichts mit unserem Seelenbund zu tun … ich solle das richtig und gütig auffassen …

Nein und tausendmal nein. – Ich habe ihm äußerlich recht gegeben und bin beherrscht und freundlich geblieben bis zum Abschied. Aber nächtelang habe ich gewinselt wie ein geschlagener Hund – und hab' ihn gehaßt und verwünscht und bin doch nicht von ihm losgekommen, wie sehr ich auch nach einem Abschluß gejammert habe …

Nun, der war ja bald da, ein ganz radikaler dazu …

Sechs Wochen später kam seine Todesnachricht … Überarbeitung – Lebensrausch – Erregungen – sagte man uns – alles vernichtende Dinge für einen »geheilt Entlassenen« …

Gilt das nicht auch mir? Ahne ich nicht jetzt eben schon den langsam aufstechenden Schmerz in den kranken Stellen? – Steigt mir nicht eben schon der fade, flaue Geschmack des ausströmenden Blutes in die Kehle? … Nein, ich will nicht … Ich habe mit dem Tode jetzt nichts zu schaffen –, leben will ich – unter Lebenden will ich mir meinen Platz suchen. Fort mit den Toten …

Mamas Freunde sollen kommen – sie haben Fleisch und Blut und werden die Schatten, unter denen ich hause, verscheuchen …

Ich werde keine einsame, mehrtägige Fahrt unternehmen, um ihnen aus dem Wege zu gehen – ich will Stimmen hören, die nicht aphonisch geworden sind, ich will mir von Dingen erzählen lassen, die in der Welt des Lebens vorgehen.

Ich will auch den beiden Abgesandten der Familie zeigen, daß ich zu den Gesunden gehöre.

Und darum hole ich mir jetzt Frische und Klarheit für meinen etwas schwindelnden Kopf … Mein Wagen steht vor der Tür – also hinaus in die Sonne –, und um das neue Leben nicht mit einiger Folgerichtigkeit zu beginnen –, an den schönen Bergsee, den sie zwingen wollen, weitab von seiner heiligen Stille mit 45+000 Pferdekräften für sie zu arbeiten.

* * *

Also die Begegnung mit dem Kommerzienrat Hillman ist mir geradezu ein Erlebnis geworden.

Meine Gedanken schwirren auf allen möglichen Lebensfeldern umher und praktische, bange, kokette, glückverlangende Erwägungen überstürzen sich in mir. Seit einer Stunde laufe ich in dem kleinen hellen Salon, den ich mir habe geben lassen, hin und her, unstet und ruhelos.

Nur wenn ich an dem blumenumrankten Eckspiegel haltmache, schießt ein Gefühl von – ich kann nicht anders sagen – stolzem Entzücken in mir auf. Ich habe eine hohe Freude an meiner Schönheit. Sie ist, mit allem anderen, ein Erbteil meines Vaters. – Und gerade jetzt, wo die Hoffnung neues Leben in mein Gesicht gezaubert hat, dessen Züge ich so genau und so sachlich studiert habe, – muß ich selbst staunen, welche Kraft und welchen Glanz meine blauen Augen bekommen haben.

Ich gleiche genau dem vielbewunderten letzten Bilde meines armen Papa, dem das Schicksal die letzte Grausamkeit, den Verfall durch die gräßliche Krankheit ersparte, indem es ihm einen plötzlichen Tod bescherte.

Merkwürdig übrigens, daß Todesnähe und intensives Lebensbewußtsein so gleiche Ausdrucksmittel haben können …

Vielleicht, weil beide die Blicke für noch Ungeschautes weiten?

Ach, ich fühle ja bei jedem Schritt, den ich im Verkehr mit der lebendigen Welt mich vorwärts taste, daß Neues, Wunderbares auf mich wartet, und ich muß für mich immer wieder auf das Bild zurückkommen, daß ich an einer geöffneten Tür stehe, hinter der viele Wege in das schöne, große, unbekannte Leben führen.

Welchen werde ich wählen unter den sonnen- und mondglänzenden, den dämmerigen und den dunkeln? …

Ob der Freund meines Vaters, der mich vorhin verlassen hat, dieser weltkundige alte Mann mit den jungen, zärtlichen Augen irgendwo als Wegweiser dastehen wird?

Es ist so merkwürdig, wie da plötzlich eine Brücke von dem alten verschollenen Kinderland über die Gegenwart hinweg in die Zukunft führt.

... Als der Kommerzienrat Hillmann pünktlich auf die Minute seiner Anmeldung bei mir eintrat, hatte ich in demselben Augenblick ein ganz deutliches Bild vor mir, dessen ich mir eigentlich nie klar bewußt gewesen bin.

... Ein Balkon, von stark duftenden blauen Blumen überhangen, ein Stückchen grauer Himmel, im Winde raschelnde Wedel einer Dattelpalme, die hoch über das Haus ragt, – ein Liegestuhl mit einem Kranken darin, der schwer atmet und hüstelt. Über ihn gebeugt – dieser Mann, der eben eintrat, meine Hand festhielt und mich anstarrte wie ich ihn.

»Es ist geradezu wunderbar wie Sie ihm gleichen, liebes Kind«, sagte er und nahm auch meine andere Hand.

Mir war's, als tauche hinter dem Forschen seiner herrschenden dunklen Augen etwas wie Güte und Teilnahme auf, aber es rührte mich nicht.

»Ich glaube Sie wiederzuerkennen, Herr Hillmann. Ich muß Sie an der Riviera irgendwo, als kleines Kind gesehen haben«, sagte ich. Wir setzten uns, und ein kleines Schweigen entstand …

»Sehr richtig, in San Remo«, sagte er dann, und das menschlich Herzliche verschwand aus seinem Blick. Er war nun ganz der aufs äußerste soignierte, gut erhaltene ältere Lebemann, ein Typ, den ich – ach wie genau! – kenne, und mit dem ich immer gut fertig werde.

Diese Art Männer, die ihr Leben auf das Weib gestellt haben, scheinen mir in der gewissen Abendbeleuchtung, die über ihrem Wesen liegt, anziehend und rührend; sie sind dankbar für jedes Lächeln, und nehmen jede Augenblicksstimmung als das, was sie ist, ohne Versprechen für die Zukunft … Und sie haben so viel von den schauerlich-schönen Lebensgeheimnissen ergründet, die uns Junge so mit Qual und Erwartung füllen – und sie lieben die Jugend mit einer so schmerzlichen Liebe und wissen ohne Worte darüber zu reden.

Ja, auch mein Gast und ich verständigten uns in diesem Sinne – und ich will es gar nicht leugnen, daß mir bei seinen Blicken voll sanfter und diskreter Bewunderung sehr wohl war.

Und dann gab er in liebenswürdiger und wohltuender Weise der Freude Ausdruck, mich in so blühender Frische vor sich zu sehen. Welche Überraschung das wohl für die Meinen sein würde, deren noch ganz warme Grüße er mir übrigens zu bringen hätte – und die schon jetzt ganz fassungslos wären vor Glück – meine Mutter natürlich am meisten …

»Sie zweifeln doch nicht daran, gnädiges Fräulein?« fragte er vorwurfsvoll auf mein unwillkürliches Lächeln …

»Gott bewahre – aber – pardon, ich bin in Gedanken bei der Depesche meiner Mutter, die mich etwas erregt und neugierig gestimmt hat.« So ging ich nun aufs Ziel los.

»Ihre Frau Mutter hat Ihnen Andeutungen gemacht, um was es sich handelt?«

»Nur über Ihre Jugendfreundschaft zu meinem Vater, und daß Sie mich eigentlich in Zürich aufsuchen wollten.«

»Ja, aber merkwürdigerweise waren wir ohnedies auf dem Wege nach Glarus. Ein großes technisches Unternehmen hier – interessiert uns aus verschiedenen Gründen.«

»Wohl der See?« sagte ich in Gedanken …

»Ah – Sie wissen also doch, um was es sich zwischen uns handelt?«

Ich war ganz betroffen. Nein, ich wußte gar nichts. War es ein Zufall? – oder hatte irgendeine unbekannte Strömung mich mit sich getragen? – Ich konnte mir zwischen den beiden Herren, dem Klönthaler See und meiner armen Person nicht die mindeste Beziehung denken.

Herr Hillmann warf mir wieder einen seiner weichen, schmeichelnden Blicke zu und strich dann mit der feinen, unberingten Hand über die Augen.

»Es ist keine leichte Sache«, sagte er, »mit einer geschäftlichen Angelegenheit über Sie herzufallen. Der Geschäftsmann möchte hinter dem Freund ganz und gar verschwinden.«

»Warum denn? Der Freund kann ja für den Geschäftsmann – wie Sie sagen – sprechen.«

»Sie haben recht, liebes Kind – gestatten Sie mir diese Anrede … Ihr Vater und ich sind wirklich nahe Freunde gewesen … Schul- und Studentenzeit hindurch, bis zu seinem frühen Tode … Und darüber hinaus … Seine sorgende Freundschaft hat mir mein Leben aufbauen helfen … Und nun hören Sie gut zu, um was es sich handelt, damit Sie sich überlegen können, ob Sie meine Bitte gewähren wollen.«

Ich habe gut aufgepaßt, und mir, was ich nicht gleich verstand – denn es war mir alles neu – wiederholen lassen. Die Sache ist folgende, ich mache sie mir im Aufschreiben noch einmal klar:

Mein Vater hat seinem Freunde Hillmann, der damals ein unbekannter und vermögensloser Ingenieur war, und für dessen Pläne er sich lebhaft interessierte – es handelte sich um neue Konstruktionen von Brückenträgern und irgendwelchen Maschinen – kurz vor seinem Tode ein großes Kapital, 200?000 Mark auf zwanzig Jahre, mit vier Prozent verzinsbar, geliehen, – Herrn Hillmann oder seinem Rechtsnachfolger, wie es heißt.

Nachdem er gestorben war, hatte Mama zuerst die Verwaltung des ganzen hinterbliebenen Vermögens, von dem die Hälfte mir gehörte, übernommen, sich aber bei ihrer zweiten Heirat mit meinem Vormund auseinandersetzen müssen. Mein Anteil war auf Wunsch meines Stiefvaters ganz für sich niedergelegt worden. Nur das Kapital, das in den Fabriken des Herrn Hillmann festlag, war von der Teilung ausgenommen geblieben.

Man hat mir, als ich vor drei Jahren mündig wurde, wie ich mich auch ganz dunkel erinnere, davon Mitteilung gemacht. Ich habe aber auf die einzelnen Posten nicht geachtet und alles unterschrieben, was mir auf dem Gericht vorgelegt wurde. Die Zinsen sind nach wie vor an Mama gegangen, die sie dann auf mein Bankkonto eingezahlt hat. Natürlich hat mein Stiefvater das besorgt, denn Mama versteht von diesen Dingen noch weniger als ich.

Nun sind in einem halben Jahre die zwanzig Jahre um, und Herr Hillmann hat auf seine Anfrage von Papa eine Kündigung des Anteils von Mama erhalten. Das ist ihm im Augenblick sehr unangenehm, da er mit seiner ganzen Kapitalkraft auch außerhalb der eigenen Maschinenwerke in großen Unternehmungen festliegt. Er ist darum nach Gastein gegangen, um durch persönliche Rücksprache eine Verlängerung von fünf Jahren zu erwirken.

Mama wäre in Erinnerung an die alte Freundschaft wohl nicht abgeneigt gewesen, seinen Wunsch zu erfüllen, aber mein Stiefvater hätte klipp und klar und mit Gründen, gegen die er, Herr Hillmann, nichts hätte erwidern können, alles abgeschlagen. Meinen Entschluß wolle er in keiner Weise beeinflussen, das Geld seiner Frau müßte er aber unter allen Umständen herausziehen.

Da hätte Mama ihm den Rat gegeben, mit mir zu sprechen, da für mich die Erwägungen, die für sie als Familienmutter ausschlaggebend wären, nicht in Betracht kämen. Vielleicht, so hätte sie gemeint, würde ich gern an die Stelle meines verstorbenen Vaters treten.

Das zu tun, und auch Mamas ihm entzogenen Anteil, wenn irgend möglich, aus meinem anderweitigen Kapital zu ersetzen, wäre, kurz gesagt, seine Bitte an mich. Das Geld stände sicher, ich erhielte es verzinst wie bisher, und ihm erwiese ich eine Gefälligkeit, für die er mir stets dankbar bleiben würde.

»Was soll ich nun antworten?« dachte ich. »Warum stellt man mich vor eine solche Entscheidung? Wer rät mir? Vielleicht ein Rechtsanwalt? Mein Vormund ist tot, mein Stiefvater lehnt es ab, und seine Ansicht liegt ja auch in seinem eigenen Vorgehen.

Dazu brannten die dunklen Augen dieses Mannes – ich kann nicht anders sagen als beunruhigend – in die meinen, und ich muß es vor mir bekennen, daß etwas in mir sich ihm unterwarf.«

»Ich habe ja keine Ahnung, was ich Ihnen antworten soll«, quälte ich mir endlich ab.

Da fing er noch einmal an mit Zahlen und Geschäftsberichten auf mich einzureden, so daß ich fühlte, er machte es wie für ein Kind zurecht.

Ich verstand doch nichts, ich wollte auch gar nicht recht zuhören. Mein Kopf und mein Rücken taten so weh. Und schließlich dachte ich: Wenn du da mit der Hand, die mein toter Vater noch gedrückt hat, meine nehmen oder mein Haar streicheln wolltest, so würde ich wenig nach Zinsen und Kapital, Maschinen, Aktien und Jahresabschlüssen fragen.

»Denken Sie nach, ziehen Sie Erkundigungen ein«, sagte er schließlich, »ich werde Ihnen Adressen dalassen. Sie werden sich ja doch, bis ein Berufener Ihnen diese Sorgen aus der Hand nimmt, damit beschäftigen müssen. Übermorgen bin ich hier und gebe Ihnen selbst noch jede gewünschte Auskunft.«

Dann sah er mich schärfer und voller Mitleid an … »Ich quäle Sie, armes Kind, Sie sind ganz weiß geworden. Vielleicht hat mein Sohn doch recht gehabt.«

»Ja, Ihr Sohn sollte doch auch mitkommen. Wo ist er?« fragte ich gleichgültig.

Herr Hillmann sah etwas verlegen über mich weg. »Mein Sohn, – o, – er ist geschäftlich verhindert, – das heißt, offen gestanden, – mein Sohn ist ein wundervoller Mensch, – aber ein Träumer, – ein Träumer sage ich Ihnen – mit dem man sich oft kaum verständigen könnte, wenn man ihn nicht so liebhaben müßte.«

»Und?« fragte ich nun etwas neugierig.

»Ja, als wir über Sie und die Ihren eingehend sprachen, war er schließlich dagegen, Sie in meine Geschäftsangelegenheiten zu ziehen. Es würde zu weit führen, wollte ich Ihnen erklären, warum.«

Ich konnte nur verständnislos die Achseln zucken.

»Und die Meinen?« fragte ich, da er noch nicht aufstand. »Sie haben mir noch nicht erzählt, wie Sie sie fanden.«

»In vollem, fröhlichem Leben, liebes gnädiges Fräulein. Der Anblick, als wir auf die Hotelveranda geführt wurden, gab ein unvergeßliches Bild. Die immer noch schöne Mama, in jedem Arm eins der bezaubernden Mädels, – alle drei die blonden Köpfe lachend zusammengesteckt, – dazu der vornehme, schöne Vater – Herr v. Hasberg ist eine auffallend distinguierte Erscheinung.« …

Herr Hillmann brach ab. Ich fürchte, er sah, daß meine Augen voll Wasser standen.

»Ich ermüde Sie – Sie leiden«, sagte er, »vergeben Sie mir. Und noch eins, liebes Kind … ich weiß nicht, sind Sie ganz allein hier? – Sorgt man für Sie?«

»O, ich brauche niemand«, sagte ich schnell. »Ich bin sonst ganz frisch, nur das lange Sprechen und Zuhören heute hat mich, ehrlich gestanden, etwas angegriffen.«

»Vergeben Sie mir und hören Sie noch etwas, das mir eben durch den Kopf geht. Ich kenne Ihre Pläne nicht, weiß nur, daß Sie vorläufig noch nicht nach Gastein gehen. Ich kann Ihnen für mich keine Gastfreundschaft anbieten, denn ich führe nur eine Garçonwirtschaft, – ich bin seit Jahren Witwer. – Aber, liebes Kind, ich habe in Heidelberg einen großen und anregenden Kreis. Sie fänden da guten Anschluß und auch meine Freundschaft – von der Sie überzeugt sind, nicht wahr? Ich meine natürlich nur, bis Ihre Verhältnisse geordnet sind … und wenn Sie nichts Besseres wissen.«

»Bis ich nach Hause gehe«, sagte ich bange.

Er sah merkwürdig ausdruckslos zur Seite.

»Sie sind sehr gut, Herr Hillmann, aber ich fühle selbst, daß ich nach dem langen Sanatoriumleben noch eine Zeit für mich sein muß, ehe ich unter Menschen gehe.«

Dann hat er mich endlich verlassen, mit herzlichen Worten und mitleidigen Blicken.

Und ich habe mich auf meine Chaiselongue geworfen und gegrübelt und in Schlaf geweint.

Dann eine Depesche an Papa mit der Bitte um Rat. Ich will äußerlich nichts versäumen, ich muß ja auch irgend jemand fragen. Was fange ich sonst an? Die Antwort lautet:

»Halte es für unpraktisch, größere Kapitalien in Privatunternehmungen zu stecken, doch will deinen Entschluß und Mamas Wunsch nicht beeinflussen. Adresse tüchtigen Rechtsanwalts Heidelberg, Liepelhausener Straße 21, Dr. Pförtner. Alles Gute von uns allen.«

Eine Stunde später noch ein Telegramm:

»Bin mit allen Gedanken und heißer Sehnsucht bei Dir, geliebtes Kind.
Mama.«

Ach, … es schreit wieder etwas in mir ganz jammervoll.

Das Glücksbild, das mir der Fremde geschildert hat, steht vor mir und peinigt mich.

Sie wollen mich nicht – ich habe es geahnt – jetzt weiß ich es.

Ich werde wie ein Gespenst in diesem glücklichen Hause auftauchen. Man glaubt nicht, daß ich gesund bin, man will es nicht glauben.

Ach, ich hasse die Familie … Nein, ich vergehe vor Gram, und Sehnsuchtsschauer machen mich krank.

Was soll ich allein mit dem Gelde? Herr Hillmann soll haben, was er will! Er soll auch wiederkommen, er war gut gegen mich. Ich schreibe ihm gleich und gebe auch der Nationalbank den Auftrag, ihm das Kapital zu überweisen …

So, das wäre geschehen, und ich habe ein leises Gefühl von Erleichterung … Habe ich es?

Schließlich … was hat sich denn seit gestern abend geändert?

Gerade um diese Zeit saß ich auch an diesem Tisch und schrieb unter Glückstränen und voll seliger Ahnungen.

Ich reiße meine Fenster auf. Der Mond fließt wie gestern an dem Glärnisch hernieder, und die Bäche funkeln …

Ich will das stolze Gefühl der Einsamkeit wiederhaben, wie ich es bei diesem Anblick gestern empfand, als ich noch nicht durch die geöffnete Tür gesehen hatte.

Was ist das nur?!

Ich fürchte mich hinauszutreten – es kommt niemand, wenn ich rufe …

Diese grausige Leere wird mich wieder krank machen. Ich soll mich nicht erregen, und ich fühle, das Fieber steigt auf …

Ach – ich habe Sehnsucht nach meinem Bett in Davos – ja, wahrhaftig, auch nach der Schwester und den Ärzten.

Ich brauche die Gesundheit nicht …

Ach, … meine stolze Einsamkeit heißt … Verlassenheit …

* * *

»Wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen.« Drei Tage bin ich allein, und jeder hat mich durch Glück, Ängste, Verlangen, Hass und warmes Empfinden gejagt …

Und jetzt? …

Ich weiß gar nicht, wie mir zu Mut ist … So frei – so gelöst von allem Bitteren und Schweren … Ob ich Fieber messen soll? Meine Gedanken quirlen so merkwürdig durcheinander, und der Puls jagt …

Vorsicht! … Jetzt will ich nicht sterben, auch nicht von neuem hinsiechen.

Ich habe einen Weg vor mir, wenigstens die Andeutung eines Weges … und er führt in heiliges Land. Alles versinkt, was drohend und gespensterhaft vor mir aufgetürmt lag. Ich stehe da wie eine Träumende …

Aber ich will nicht phantasieren. Mich zusammenfassen will ich und mit glücklichem Bewußtsein das Erlebnis der letzten Stunde noch einmal durchleben …

Ich bin ja gesund dadurch geworden. Weg sind die gefährlichen, stechenden Schmerzen nach der furchtbaren Nacht mit ihren Todesängsten, Atemnöten und gierigen Lebenswünschen.

Auch von dem Kummer über Mamas Brief, der mir trotz der Liebesworte doch nur die Bestätigung meiner Verlassenheit brachte, fühle ich mich befreit.

Und war doch so elend. Die öden Stunden den langen Vormittag über, mit beängstigenden Zweifeln ausgefüllt, die ich mit aller Willenskraft nicht bannen konnte, wollten nicht vergehen. Wenn Herr Hillmann doch wiederkäme! So stark, so frisch und so voller Teilnahme!

Nach meinem einsamen Mittagessen lag ich im Halbschlaf und von jagenden Bildern gequält auf meiner Chaiselongue, als meine Madline, das junge Zimmermädchen, eine Karte brachte: Herbert Hillmann, Dr. ing.

Ich fuhr in Enttäuschung auf … Die Worte Herrn Hillmanns über seinen Sohn fielen mir ein.

Gut, des Vaters wegen wollte ich ihn mir ansehen – aber über die Geldangelegenheit würde ich mit ihm nicht sprechen. Dieser elende kaufmännische Jargon sollte mir nicht noch einmal eine Stunde verderben.

Müde und so in Gedanken, daß ich nicht einmal einen Blick in den Spiegel warf, schleppte ich mich in den kleinen Salon, und da stand er, eine dunkle Silhouette gegen den hohen, hellen Wandschirm … Nichts von der Stattlichkeit des Vaters, mich selbst mit seiner schmalen Gestalt nur um weniges überragend. Nichts von dem Fluidum des herrschenden, sieggewohnten Mannes, das gestern von dem Vater wie ein Funke auf mich übergesprungen war.

Ein hageres, durchgearbeitetes Gesicht mit sehr hoher Stirn, ganz beherrscht von hellen Augen voller Stetigkeit und Klarheit – eine feste, kühle Hand, die meine heiße einen Augenblick herzhaft drückt.

»Sie sehen aber gar nicht so übermäßig frisch aus«, sind die ersten Worte, die ich von der hallenden Stimme höre, deren Klangfarbe mich ganz hinnimmt.

Ich wundere mich über diese Aufrichtigkeit und sage ebenso offenherzig: »Daran ist Ihr Herr Vater schuld.«

»Haben Sie trotzdem ein wenig Zeit für mich?«

»Natürlich.«

Er interessierte mich als völliger Gegensatz zu seinem Vater doch zu sehr, als daß ich hätte Nein sagen mögen.

Und so setzten wir uns, und ich wartete. Nach einer kleinen Pause sagte er:

»Ich komme auf eigene Rechnung und Gefahr…«

»Warum Rechnung, und warum Gefahr?« warf ich in meinem üblichen, flirtbereiten Ton hin, mit dem ich immer Anschluß zu finden pflegte.

Das war hier nicht der Fall.

Mein Besuch schien zu überlegen, sah zur Seite und dann wieder mich an. Sehr ernst und forschend.

»Woraufhin prüfen Sie mich, Herr Doktor Hillmann?«

»Auf die Möglichkeit, von Ihnen ausgelacht oder als zudringlich abgewiesen zu werden…«

»Ja, um was handelt es sich denn?«

»Im Grunde um nichts Positives. Ich wollte Ihnen die Hand drücken, Ihnen sagen, daß Sie mir leidtun, daß ich Sie bedaure.«

Mir wurde etwas unbehaglich zumute.

»Ja, vielleicht bin ich zu bedauern, aber, mein bester Herr Doktor, das pflegt man doch, auch wenn man Grund hat, es anzunehmen, den Leuten nicht so ohne weiteres ins Gesicht zu sagen.«

»Das ist wohl wahr, und wenn es Sie verletzt, muß ich um Verzeihung bitten und meinen Hut nehmen.«

»Nein, das werden Sie nun natürlich nicht. Sie werden mir erklären, warum Sie hergekommen sind und warum Sie mich so offen Ihres Mitleids versichern.«

»Ich konnte doch nicht anders.«

»Das ist mindestens etwas ungewöhnlich.«

»Es weicht von den gesellschaftlichen Regeln ab«, sagte er wie in Gedanken und sah mich unverwandt an.

Und dabei glitt über sein junges, scharfes Gesicht ein so seltsam träumerischer, weicher, liebevoller Ausdruck, daß ich mich plötzlich bis ins Tiefste erschüttert fühlte. Und wußte doch nicht, warum. Aber ich konnte ihn nicht mehr ansehen, ich mußte auf den Fußboden starren, weil ich fürchtete, ich würde anfangen zu weinen …

»Ich hatte mir, offen gestanden, das alles anders gedacht«, sagte er dann etwas freier. »Als ich in Gastein von Ihnen sprechen hörte, habe ich mir ein hilfloses, kränkliches, junges Mädchen vorgestellt, und nun finde ich eine schöne, sichere und heitere Weltdame. Nein, heiter sind Sie doch nicht.«

»Welch ein seltsames Gespräch! Mir ist noch niemals etwas Ähnliches begegnet. Gestern mit Ihrem Vater, und …«

»Damit habe ich nicht das mindeste zu tun, wie ich schon bemerkte«, entgegnete er eifrig.

»Nun, die Angelegenheit ist auch ein für allemal erledigt«, sagte ich, eigentlich um festen Boden zu gewinnen. »Ihr Vater hat seine Antwort und meine Bank ihren Auftrag.«

»Sehen Sie«, sagte er, mit einem Ruck sich aufrichtend, »das gerade ist nun auch etwas, das mich in Ihrem Interesse beunruhigt und über das ich mit Ihnen sprechen will, weil ich es mir ungefähr so vorstellte.«

»Ich verstehe kein Wort. Sie meinen vielleicht, daß ich das Geld doch verlieren könnte.«

»Dieses Geld nicht. Dafür bürgt mein Vater. Aber wie durften Sie so schnell entscheiden? Wie kann man Sie in solchen Dingen ganz sich selbst überlassen?«

»Man hat mich wohl immer mir selbst überlassen«, fuhr es mir heraus. »Eigentlich aber müßte ich Ihnen antworten: Ich bin mündig, und mein Entschluß hat seine Gründe.«

Er sah mich wieder zweifelnd und traurig an.

»Es wäre ja immerhin möglich, daß ich mich geirrt habe, daß Sie gar nicht so hilfsbedürftig sind und so allein, wie es mir den Anschein hatte« …

Mir war, als hätte ich einen Peitschenhieb von diesem fremden Mann empfangen.

»Was wollen Sie von mir? Was kümmert Sie mein Alleinsein? Wie kommen Sie zu solchen Reden?«

Ich glaube, ich schrie ihm das zu. Und er war eine kleine Weile still. Dann sagte er:

»Ich wollte Ihnen helfen. Ich wollte mit Ihnen sprechen als Mensch zum Menschen. Und in Ihrem blassen Gesicht liegt etwas, das mir sagt, ich habe recht getan, als ich meiner Eingebung folgte, und ich will auch ohne konventionelle Bedenken reden, wie ich's mir vorgenommen habe.«

»Ja, was denn nur? – was denn?«

»Liebes Fräulein, ich ging mit meinem Vater nach Gastein – übrigens ohne die näheren Verhältnisse zu kennen – um die Geldangelegenheit ordnen zu helfen, von der Sie ja wissen und an der Sie beteiligt sind. Wir kamen in eine Familie, die mit dem ganzen Egoismus der Glücklichen zusammengeschlossen stand – gegen …«

»Gegen mich?!«

»Gegen etwas, das sie als unverdientes Schicksal zu empfinden schien … Die sich wehrte gegen das, was Sie hineintragen könnten, Krankheit, Siechtum, Rücksichtnehmenmüssen.«

»Und das hat man Sie, den Fremden, merken lassen? Mein Stiefvater mit seiner Weltläufigkeit? Meine Mutter – meine Mutter? – ich glaube Ihnen einfach nicht.«

Ach, ich glaubte ihm wohl. Ich hätte ihm von den Einsamkeitsschauern erzählen können, die mich heute Nacht zerbrochen und die Sehnsucht nach meinem Krankenanstaltsleben neu aufgeweckt hatten …

Ich tat es nicht, noch nicht. Aber als ich aufsah, diesem jungen Menschen ins Gesicht, das wie durchleuchtet schien, von etwas Gutem, Hohem, Hilfsbereitem, da stieg plötzlich, mit einem scharfen Herzstich zugleich eine große Gier nach dem Menschen, dem Genossen in mir auf, an den ich mich anklammern konnte in schwarzen Stunden, wenn die eisige Furcht angeschlichen kam.

Dieses Gefühl tauchte auf und ging, wie eine Ahnung, wie ein Traum.

»Einmal, vor ein paar Jahren«, sagte mein Gast dann, »als ich in einer verzweifelten Lage war, aus der ich, weltfremd, jung wie ich war, keinen Ausweg mehr sah – ich will Ihnen später einmal, wenn sich's so fügt, davon erzählen – kam ein großer und guter Mensch ganz unerwartet zu mir. Ein Zufall hatte ihn meine Not ahnen lassen und, ohne mich zu kennen, kam er und half mir, ganz uneigennützig und ohne jede äußere Veranlassung. Das Leben führte uns verschiedene Wege, wir haben uns seitdem nie mehr gesehen, aber ich habe mir damals gelobt, wenn ich je von einem hören würde, dem es nützen könnte, daß man ihm die Hand entgegenstreckte, dann wollte ich es tun. Versuchen, ob ich ihm helfen könnte, wie mir damals geholfen wurde. Nur ihm sagen: da bin ich, ich will mit dir in deiner Einsamkeit beraten, welchen Weg du gehen mußt, wie du dein Leben für dich und deinesgleichen ausnützen kannst, lieber Bruder oder liebe Schwester!«

Wenn ich ein langes, langes Leben vor mir habe, diese Worte werden in mir fortklingen, wie sie jetzt in mir zittern, wie sie vorhin heiße Tränen in meine Augen drängten.

»Und so haben Sie mich gesucht, auch ohne etwas mehr von mir zu wissen, als daß es mir nicht gut gehen dürfte, daß ich allein wäre?«

»Die in die Augen springende innere Kälte Ihres Stiefvaters, seine schroffe Ablehnung, Ihnen in der besprochenen Geldangelegenheit zu raten, machte mich auf Ihre Lage aufmerksam. Dann schlug Ihre Mutter vor, Sie nach Gastein kommen zu lassen. Herr von Herholz wies das unbedingt ab. Sie hätten selbst wohl das richtige Gefühl gehabt, daß es nicht anginge, aus einem verseuchten Hause in eine erholungsbedürftige Familie hineinzufallen. Da müßten vorher noch Übergänge geschaffen werden. Sie wären sicher wohl besser orientiert über Orte, in denen Genesende eine zusagende Unterkunft fänden, an denen es sich herausstellte, ob sie wirklich Genesende wären – und in dem Ton weiter.«

Ich kannte diesen Ton. Der Hals wurde mir trocken. »Und Mama?«

Ich solle versuchen, ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie habe nach etwas bewegtem Hinundher zugestanden, daß sie als Mutter gesunder Kinder Opfer zu bringen hätte, auch wenn sie innerlich auseinandergerissen würde … Von da ab hätte er immer und immer an mich denken müssen! … Das arme Mädchen, wie mag es leiden, wie einsam sein im Vergleich zu den lachenden blonden Schwestern, die mit ihrem blühenden Leben den ganzen Raum füllten. »Nein, sagte ich mir, ganz allein soll die andere nicht bleiben, und sich nicht darum grämen, daß die Familie die Tür vor ihr zuschließt. Meine eigene dunkle Lebensstunde stand wieder vor mir, ich fühlte wieder die Hand meines gütigen Retters auf meinem Kopf, und da war ich auch schon entschlossen: Jetzt versuche ich, ob ich ein Mensch bin, der es wert ist, einem anderen, der es dunkel hat, ein bißchen Licht zu bringen. Die Auseinandersetzung mit meinem Vater habe ich Ihnen nicht ersparen können, so sehr ich mir das auch gewünscht habe – aber – nun – wenn Sie einen brauchen – zum Aussprechen, zum Plänemachen, nur um da zu sein, wenn Sie einen Zusammenhang mit dem Leben suchen…«

Ich griff nach den ausgestreckten Händen und hielt sie fest.

Und dann haben wir lange gesprochen. Zuerst habe ich erzählt von allem, was bisher mein Leben ausgemacht hat, von allem Leid, mit dem wir Armen uns von Anstalt zu Anstalt schleppen, von Wehrawald nach Andreasberg, nach Arosa, nach – lieber Gott, überall hin, wo man ein bißchen Lebensluft aufzusaugen glaubt und wo die gierig um sich greifenden Hände doch schließlich immer nur den einen fassen: den Zerstörer. Von den vielen, die, von der Familie ausgestoßen, wie ich, allein und in jammervoller Sehnsucht nach einem Zuhause in den Tod mußten.

Da hat mein neuer Freund mich unterbrochen: Ich wäre jetzt in der Lage, mich innerlich von der Familie zu lösen oder mein Verhältnis zu ihr auf einer anderen Basis neu zu erbauen, wenn ich den Zusammenhang nicht entbehren könnte.

Es verwirrte und erregte mich zuerst ganz, was er im Anschluß daran sagte, aber als ich ihn begriff, tat sich eine neue Welt vor mir auf, und meine Seele wurde groß und weit.

Die hohen und guten Worte, mit denen er in mich eindrang, vermag ich nicht zu wiederholen, aber ich fühle jedes, und es soll in mir wachsen.

Die klagenden Stimmen hinter den Freuden der Welt vernehmen und ihnen nachgehen, sagt er, den mitleidenden Menschen zeigen ohne Rücksicht auf Alter oder Geschlecht oder Stand. Den Gedanken des Entbehrens ausschalten, – das Bewußtsein des geistigen und gemütlichen Überflusses, von dem man geben und immer geben kann, in sich stärken, – durch das eigene reine Menschentum den Menschen in dem anderen wachrufen, – und so in aller Stille eine menschliche Gemeinsamkeit mitschaffen helfen, die unter der Asche der gesellschaftlichen Einrichtungen tief verschüttet liegt.

»Wieviel selbstverleugnende Güte muß man sich aber erwerben, um solche Wege gehen zu können«, sagte ich endlich. »Ich bin sicher nicht gut genug dazu.«

»Das kann ich noch nicht beurteilen, aber seien Sie es zunächst mit dem Verstande, tun Sie vor sich selbst so, als ob Sie es wären. Nach dem ersten Erfolg wird ein Glücksgefühl in Ihnen erwachen, das mit nichts vergleichbar ist. Und damit zugleich wird Ihre Macht, Irrungen, Trübsal, Einsamkeiten zu bannen, stetig wachsen. Mit Ihren Hilfsmitteln, Schönheit, Temperament, Reichtum, ist sie von vornherein sehr groß.«

Er sah mit seinen lichtvollen Augen über mich weg.

»Sind Sie denn glücklich auf diese Weise, und brauchen Sie nichts anderes?« fragte ich.

»Wenn ich mit der Überzeugung von Ihnen gehe, daß ich den Willen zum Glück, wie ich es verstehe, in Ihnen erweckt habe, daß Sie meiner kleinen heimlichen Gemeinde angehören und dadurch für sie werben wollen, werde ich da unten in einem Rausch herumlaufen und nach Ihrem Licht sehen, als ob es aus einer anderen Welt käme.«

Das Herz brannte in mir. Ich habe die Arme ausgebreitet, mein Gesicht an seines gelegt und ihn fest an mich gepreßt. Und es ist kein Hauch von Liebesverlangen in mir gewesen. Nur ein heiliges, machtvolles Gefühl von Gebundensein an ein Wesen meiner Art.

... Morgen früh kommt er wieder, und wir werden

überlegen, wohin ich gehen, was ich zunächst mit dem Leben beginnen soll.

Leben … Leben … alles ist, wie es war. Draußen ragt der Glärnisch gegen den dunkelnden Himmel. Glocken läuten wie gestern das Ave, und geschäftige Menschen laufen hin und her.

Wer seid ihr, meine Brüder, meine Schwestern? Was freut euch? Wie leidet ihr?

Ich sitze an demselben Platz, allein wie gestern und immer, aber es braust um mich und in mir wie ein mächtiger Orgelklang …

* * *

Man läutete zum Diner.

In dem Speisesaal hatte die Hotelgesellschaft an den kleinen, runden Tischen Platz genommen, die mit ihrem Blumenschmuck und den gelbumschirmten Lichtern lustig und festlich aussahen.

Einer, an dem die junge Dame von Nummer 27 sonst gesessen hatte, war noch leer.

Eben aber fragte man nach ihr.

Eine einsame Nachzüglerin kam mit hastigen Schritten vom nahen Bahnhof und trat in die Vorhalle zum Eßsaal. Mit schriller, kleiner Stimme rief sie der Saaltochter französisch zu, daß sie Fräulein Sargent, deren Gesellschafterin sie sei, zu sprechen wünsche. Geschwätzig erzählte sie dem sie hinaufgeleitenden Mädchen, daß Madame, die Mutter des Fräuleins, sie hergeschickt und daß sie, Edina Petitpierre, Fräulein Sargent sozusagen großgezogen hätte.

Das Zimmermädchen klopfte. Edina Petitpierre trat ein.

In dem Korbsessel am Fenster vor dem Schreibtisch lehnte Lydia Sargent.

Eine große Bogenlampe leuchtete von der Straße her mit milchweißem Schein in ihr Gesicht.

Mit ausgebreiteten Armen lief die alte Französin auf das Fenster zu.

»Chérie, est-ce que tu dors?«

Aber Lydia Sargent schlief nicht.

Sie atmete nicht mehr.

Ein dünner Blutfaden sickerte aus dem linken Mundwinkel.

Aus dem weißen Gesicht mit den weitgeöffneten, blicklosen Augen lag ein Ausdruck verklärten Staunens, als ob sie unsagbar Feierliches und Schönes hörte und sähe.


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