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Siebenundzwanzigstes Kapitel

Während Professor Sieburth sein Leben immer lustvoller gestaltete, ahnte er nicht, daß, durch eine Wand von ihm geschieden, ein junges Menschenwesen in angstvollem Grübeln sich um ihn verzehrte.

Beinahe zwei Jahre waren es, daß Helene Schimmelpfennig neben ihm daherging, ohne daß er mehr als von Gnaden des Zufalls mit ihr in Berührung gekommen wäre.

Mit jenem Weihnachtsabend hatte in seinen Beziehungen zu dem Haushalt, dem er angehörte, die Änderung begonnen, die in das Leben beider Teile immer tiefer eingriff und zu immer schärferer Trennung führte.

Er ging nicht mehr wie früher in das Wohnzimmer hinüber, um dort gelegentlich eine Stunde schweigend und rauchend zu verweilen, und von drüben kam niemand mehr zu ihm, wenn nicht seine Versorgung den Besuch notwendig machte. Klopfte er aber an die Nachbartür, dann war es immer nur die Mutter, deren Kopf rasch in dem Spalt erschien.

Wohl fing sich sein Blick für den Bruchteil einer Sekunde die Umrisse von Helenens Gestalt, wohl klang ihm auch für seinen Gruß ihr kurzer Dank entgegen, doch dann schob sich sofort die Mutter dazwischen, und sie blieb verschwunden.

Auf der Straße sah er sie selten. Hochaufgeschossen, flammenblond, die Wangen in Rot getaucht, so schritt sie ihm entgegen. Die Augen wußten nicht, wohin sich flüchten, die Füße nicht, wie rasch an ihm vorübereilen. Das ganze Mädchen bereit, in Bestürzung und Erschrockenheit sich aufzulösen.

Einmal hatte er sie festgehalten und sie lachend gefragt, ob sie sich vor ihm fürchte, aber sie hatte nur zitternd dagestanden, hatte ein »Nein« gestammelt und war dann weitergerannt.

Darum machte er auch keinen Versuch mehr, sie anzureden, und ließ sie ihrer Wege gehen, als eine, zu der es keine Brücke gibt.

Hätte er gewußt, daß außer der Sorge um ihre Schularbeiten nur ein einziger Gedanke in ihr lebte: der Gedanke an ihn, sein Wohl, seine Werke, seinen Edelmut und – seine Sünden, er würde es sich nicht versagt haben, eine neue Verbindung anzubahnen.

Sie war nun nahe ihrem neunzehnten Geburtstag, hatte zwei Jahre lang die Selekta besucht, und das Lehrerinnenexamen stand vor der Tür.

Sie kannte ihre deutschen Dichter, sie wußte alle Heldentaten der Weltgeschichte herzuzählen. Opfersinn, Selbstverleugnung, Weltentsagung, Todesmut, sämtliche Arten von historisch geeichter Seelengröße waren ihr so geläufig wie »Guten Tag« und »Guten Abend«.

Aber sie kannte auch die Fallstricke, mit denen die Bosheit der Welt gerade die Besten, die Wohltäter des Menschengeschlechts in den Untergang schleift.

Sokrates hatte den Giftbecher getrunken.

Christus war gekreuzigt worden.

Huß hatte den Flammentod erlitten.

Und wenn den Wahrheitsaposteln der Neuzeit nichts Ähnliches geschah, so lag der Grund nur darin, daß dergleichen Strafen inzwischen abgeschafft worden waren.

Aber auf der Lauer lagen die Henker auch jetzt, und wenn ihnen selbst die Macht genommen war, zu martern und Todesurteile zu fällen, so vermochten sie doch immer noch, Mißliebige um Ansehen und Aufstieg zu bringen.

So würde es auch Professor Sieburth ergehen. Schon jetzt schwebte er in höchster Gefahr. Von jenem Flugblatt war selbst bis zu ihr Kunde gedrungen; der Gemüsehändler hatte es der Mutter zu lesen gegeben. Gesellschaftlich war er schon längst in Acht und Bann getan, jetzt sollte auch sein politischer Charakter zugrunde gerichtet werden.

Aber das war noch lange nicht alles. Die schlimmsten Angriffspunkte bot sein Lebenswandel, der mehr und mehr die nötige Vorsicht yermissen ließ.

Nach jener schreckhaften Spätnacht, in der der einstige Studiosus Kühne plötzlich als sein Helfer erschienen war, hatte er verschiedene Male durch die Art seiner Heimkunft das Haus in Alarm gebracht, ja selbst auf das, was im Innern seiner Wohnung geschah, war man schon aufmerksam geworden.

Wie konnte es auch anders sein? Seit die zwei kichernden, quiekenden, kreischenden Stimmen frech durch die Zwischenwand drangen, seit dahinter geträllert, gejodelt, gegluckst, gepiepst und gepfiffen wurde, mußten ja auch die fremden Hausbewohner gestört und beunruhigt werden.

Und richtig: eines Tages hatte die Postsekretärsgattin, die aus dem zweiten Stockwerk, zur Mutter gesagt: »Was ist denn mit Ihrem Herrn Professor los, der hat ja jetzt dauernd lustigen Damenbesuch?«

Die Mutter zitterte vor Angst und Empörung.

»Ich werde die Wohnung aufgeben müssen! Ich werde ihm kündigen müssen! Mein guter Ruf und der Ruf meiner Tochter verlangt das von mir.«

Aber sie würde es doch nicht tun. Das wußte Helene genau. Dazu liebte sie ihn viel zu sehr. Sie liebte ihn so, daß sie selbst sie, die eigene Tochter, nicht mehr in seine Nähe ließ.

Aus dem Zimmer schicken tat sie sie nicht mehr, wenn drüben der Abendbesuch sich meldete. Dazu schien sie ihr schon zu groß und zu klug geworden.

Manchmal, wenn sie sie von der Seite ansah, lag sogar etwas wie ein heimlicher Triumph auf ihren erschlafften und vergrämten Zügen.

Ja, groß und klug war Helene geworden. Sie wußte schon lange, daß, was die Seele der Mutter beherrschte, was sie häufig hart und ungerecht machte und ihrem Reden einen Ton rückhältigen Zuwartens gab, nichts weiter als Eifersucht war.

Und gerade so rückhältig und zuwartend war auch längst schon sie selber.

Sie vermied es, den Namen des Professors in den Mund zu nehmen, und wenn es doch geschehen mußte, dann verstand sie, so viel Gleichgültigkeit – ja selbst Mißachtung – hineinzulegen, daß die Mutter immer mit ihr zufrieden war.

Aber deren Verdacht schlief darum nicht ein, und hätte Helene Miene gemacht, sich dem Professor in dienstbarer Weise zu nähern, so wäre es sicherlich zu einem offenen Zerwürfnis gekommen.

Derweilen wuchs in ihrer Seele die Sorge um ihn zu immer stärkerer Qual. Sie sah ihn bloßgestellt, beschimpft, seines Amtes entsetzt und vielleicht sogar angeklagt und ins Gefängnis geworfen.

Eines Nachmittags war sie mit einer Freundin die Königstraße entlang gegangen. Da kam er von der Bibliothek und grüßte sie. Und noch hatte sie sich von ihrer Verwirrung nicht erholt, da fragte die Freundin:

»Wer war das?«

Der eigentümlich dringende und raunende Ton dieser Worte fiel ihr auf, so daß sie, statt Auskunft zu geben, nur die Rückfrage tat: »Weswegen?«

»Dieser Herr hat mich unlängst abends auf der Straße verfolgt. Wäre ein Polizist in der Nähe gewesen, so hätte ich ihn um Schutz angerufen.«

Helene haßte sie in diesem Augenblick so sehr, daß sie sie schon stehen lassen wollte, aber sie nahm sich zusammen und erwiderte: »Ich kenne ihn auch nicht weiter. Er ist mir mal vorgestellt worden. Aber den Namen hab' ich vergessen. Wenn du willst, kann ich mich ja erkundigen.« – – –

Aber trotz all dem Bösen und Verdächtigenden, das sie von ihm erfuhr, kam es ihr nicht in den Sinn, ihn weniger zu achten und zu verehren.

Was er tat, mußte er tun, weil er so einsam und so welthungrig war – »welthungrig«, das hatte die Mutter schon damals gesagt, als sie noch offen von ihm sprach und ihr, dem dummen Backfisch, sein Wesen zu erklären versuchte – und weil kein guter Engel sich fand, der ihn an linder Hand auf den rechten Weg zurückgeführt hätte.

Mindestens gewarnt mußte er werden. Mußte erkennen, in wie gefahrvoller Weise er am Abgrund entlangschritt.

Ihm schreiben? Alles schreiben, was ihr das Herz zu zerbrechen drohte! Mit verstellter Handschrift natürlich. Und darunter: »Eine ungenannte Freundin.«

Aber pfui doch! So etwas tat man nicht. Anonyme Briefe sandten nur gemeine Ränkeschmiede dem, den man seelisch vergiften wollte, heimlich ins Haus.

Wo war der Helfer, der bereit sein würde, seinen Kopf in den Rachen des Löwen zu stecken?

Ja, einen gab's! Fritz Kühne war wieder im Lande. Aber sie wußte ja seine Adresse nicht. Und hieran ging der Plan in die Brüche.

Da, eines Tages, als sie in schweren Sorgen von der Selekta her ihrem Hause zuschritt, sah sie ihn geradeswegs auf sich zukommen. – Weit älter geworden als bloß um zwei Jahre und männlich und voll ruhiger Sorgfalt in Haltung und Kleidung.

Sie wartete seinen Gruß gar nicht ab.

»Herr Kühne! Ach, Herr Kühne! Wie ist das gut, daß ich Sie treffe!«

Er zog seinen Hut. Staunende Freude leuchtete ihm aus Lächeln und Blick.

»Ich hab' Sie sprechen wollen. Ich hab' Ihnen schreiben wollen. Ich dachte, Sie würden mal den Professor besuchen und dann auch bei uns anklopfen. Aber nichts haben Sie von sich hören lassen. Rein gar nichts.«

Da erst fiel ihr ein, wie sehr er ihr Benehmen mißdeuten konnte, und die Scham überwältigte sie fast. Aber nun galt es tapfer sein.

»Das heißt, Sie müssen nicht glauben – –«

»Nein, nein, ich weiß schon«, fiel er ihr ins Wort. »Wie wir uns damals wiedersahen, das gibt zum Besprechen Anlaß genug. Und wenn ich meinen Wünschen hätte folgen können, dann wär' ich auch längst schon gekommen.«

»Warum haben Sie's nicht getan?«

»Ach, Fräulein Helene, es ist da so manches passiert zwischen ihm und mir, das – das – – kurz, ohne weiteres kann ich mich nicht bei ihm sehen lassen.«

»Und doch müssen Sie zu ihm gehen … Sie müssen zu ihm gehen. Gerade Sie. Denn von Ihnen hat er immer so viel gehalten. Sie müssen ihm sagen – –«

Nun stockte sie doch.

»Was?« fragte er.

»Wissen Sie noch, wie Sie ihm das Zeitungsblatt 'reinbrachten?«

»Wie sollt' ich das wohl vergessen haben?«

»Gerade so müssen Sie jetzt –«

Sie konnte nicht weiter.

Beide standen mitten im Gedränge des Bürgersteigs. Vorübergehende stießen sie an und schauten sich mißbilligend nach ihnen um.

»Kommen Sie 'rüber«, sagte er, nach der andern Seite der Straße weisend. »Dort ist es leerer, und dort können wir in Ruhe eine Strecke zusammen gehen.«

Und als sie unbehelligt des Weges dahinschritten, fuhr er fort: »Ich weiß, was Sie von mir wollen. Und Ihre Besorgnisse teile ich auch. Was ich in jener Nacht mit ihm erlebte, das hat mir zur Genüge bewiesen, wie sehr er sich inzwischen verändert hat. Aber ich bin um gute zehn Jahre jünger als er. Ihm Vorhaltungen zu machen, kommt mir nicht zu. Und selbst, wenn ich den richtigen Ton dafür fände – wie ich schon sagte – was zwischen ihm und mir vorgefallen ist, das hat mir das Recht genommen, noch einmal unaufgefordert in sein Leben zu treten. Er muß schon selber sehen, wie er mit sich fertig wird … Es müßte denn sein, daß – –«

Er hielt inne und ließ, sich zur Seite wendend, einen vollen, fragenden Blick auf ihr ruhen.

» Was müßte – sein?« stammelte sie in ahnender Verwirrung.

»– – – daß sich jemand fände – der einen – mildernden Einfluß auf ihn hätte – der – der – ihn – ich kann das nicht so ausdrücken, Fräulein Helene. Jedenfalls ich bin nicht die geeignete Person dazu … Aber wie ich ihn in jener Nacht beobachtet habe – ich kann nur sagen: es steht nicht gut mit ihm.«

Ein Schweigen kam.

›So wird auch die letzte Hoffnung zuschanden‹, dachte sie.

Und dann fragte er sie nach andern Dingen – wie es ihr solange ergangen sei und wie sich ihre Mutter befinde.

Sie gab kurze, zerstreute Antworten und verabschiedete sich bald. – – –

Nun war sie wieder ganz auf sich selber angewiesen, und der Gedanke, ihm zu schreiben, erwachte von neuem.

Aber was man für recht hielt, das mußte man offen und erhobenen Hauptes tun. Mußte die Verantwortung auf sich nehmen, ob man gleich daran zugrunde ging. Sie machte einen Entwurf nach dem andern, doch jeder Versuch, das heiß Gefühlte in Worte zu kleiden, scheiterte an dem großen Respekt, der ihr die Hand erstarren ließ.

Ja, wenn sie ihm Auge in Auge gegenüberstehen könnte, dann würde der Heilige Geist schon über sie kommen, dann würde sich bittend und mahnend schon ausdrücken lassen, was auf dem Papiere dreist und naseweis wirkte. Ja, selbst das Stummbleiben würde genügen. Ihr bloßes Zu-ihm-getrieben-sein mußte den mildernden Einfluß ausüben, von dem Fritz Kühne gesprochen hatte.

Eines Abends, als wieder einmal die beiden Mädchenstimmen mit der Sünde ihres Hierseins juchzend und trällernd das Haus erfüllten und die Mutter, aufzuckend bei jeglichem Laut, ihren Kummer in sich hineinfraß, da wurde der Entschluß in ihr reif, der ihn zur Selbstbesinnung zurückführen sollte.

Was jene beiden konnten, das konnte sie auch. Den Weg vom Hofe her, die finstere Treppe hinauf und zu der Tür mit dem Klingelzug links, der war ihr seit Jahren vertraut, wenn sie ihn auch schon lange nicht mehr gegangen war, denn die Mutter ließ sie ja nie mehr in seine Wohnung hinein, selbst während der Kollegstunden nicht, wenn sein Heimkommen ganz außer Frage stand.

Mochte er mit ihr verfahren, wie es ihm beliebte!

Mit Freuden würde sie sich opfern, selbst sterben würde sie gern, wenn sie nur wußte, daß er gerettet war.

Um halb acht brachte die Mutter ihm gewöhnlich das Abendessen. Bald nach dreiviertel holte sie das Geschirr. Zugleich bereitete sie ihm das Bett, und von da an ging sie nie mehr zu ihm hinein.

Es war dies die Zeit, da Helene zwei- oder dreimal in jeder Woche den Zirkel aufsuchte, der ihr und einem halben Dutzend ihrer Leidensgefährtinnen zur Eintrichterung des vorgeschriebenen Wissens verhelfen sollte.

Die Mutter, die sonst so sorgsame Wacht hielt, ließ sie ohne Bedenken in den Winterabend hinausziehen, denn sie wußte: von dort her drohte ihr keine Gefahr. Und wenn sie zwischen zehn und elf heimkam, so traf sie noch nicht einmal eine Frage nach dem, was ihr begegnet war.

Diese zwei oder drei Stunden waren ihr Eigentum, und wenn sie zufällig einmal nicht pünktlich in dem Kreise erschien, so konnte ihr von nirgends her ein Vorwurf erwachsen.

Hatten die Besitzerinnen der beiden Stimmen einen Abend bei ihm zugebracht, so pflegten sie an den nächstfolgenden auszubleiben. Der Weg für sie selber wurde dann frei.

Morgen also. Schon morgen sollte es geschehen.

In dieser Nacht schlief sie wenig. Sie überlegte die Rede, die sie ihm halten würde, und prägte sich die Stellen ein, von denen sie sich eine besondere Wirkung versprach.

Gleich einer Priesterin würde sie sich vor ihm aufrichten. Die Hoheit ihres Wollens würde wie eine Gloriole ihr Haupt umkleiden, so daß sie über jedes Gefallen und Begehren ehrfurchtgebietend hinauswachsen mußte.

Und gesetzten Falls selbst, daß er ihr Kommen mißverstand – –. Doch vor dieser Möglichkeit machte die Einbildung halt. Man mochte noch so heftig drumherumsinnieren, es gab kein Licht, das in dieses Dunkel hineinleuchtete.

Nur einen Schauer gab es, der in geheimnisvoller Lockung den Nacken entlanglief.

Den folgenden Tag füllten Lehrstunden und Hausarbeit. Dann nahte der Abend, und die große Stunde trat näher und näher.

Angst hatte sie kaum.

Es war schon alles so fest gefügt, so schicksalhaft gestaltet! Aber ein Glühen kam, das ihren Körper wie mit Fieberflammen durchstach und durchschüttelte.

Daß sie sich frisch frisierte, daß sie ein Sonntagskleid anzog – während man doch sonst im Dunklen immer das Schlechteste trug – das merkte die Mutter gar nicht.

Die Mutter merkte auch nicht, daß ihr Abendbrot unberührt stehen blieb. Nur, als sie beim Gehen die Schulmappe liegen ließ, wurde sie aufmerksam und rief sie zurück. Doch von irgend einem Verdacht war darum noch nicht die Rede.

Der Torweg, der zum Hofe hinführte, stand schwarz geöffnet. Geschlossen wurde er nie. Denn zwischen den kahlen Mauern des Hinterhauses gab es nichts, was Diebe anlocken konnte. Auch die Tür, die zur hinteren Treppe führte, blieb meistens bloß eingeklinkt – bis zehn Uhr gewiß, und wenn niemand sich darum kümmerte, bis an den Morgen.

Aus- und eingehen taten abends nur wenige.

Man hätte schon pfeifen und johlen müssen, um sich bemerkbar zu machen. – – –

Und so geschah's, daß gegen halb neun Sieburth, der an Begriffsreihen bostelnd vor seinem Schreibtisch saß – die Stunden, die heute nacht der Kneipe gehören sollten, lagen noch fern – durch ein plötzliches Läuten über der Schlafzimmertür von seiner Arbeit aufgejagt wurde.

Er nahm die Lampe und ging öffnen.

Da stand sie. Sie, die ihm allezeit nahe war und doch weltenfern ihre unschuldigen Wege ging. Da stand sie, weiß wie der Kalk an der Wand, mit großen, entschlossenen Augen ihm entgegenstarrend.

»Kind, Sie? Was machen Sie hier? Was bringen Sie? Ist was geschehen?«

Sie antwortete nicht. Sie stand nur und sah ihn an, und die Nasenflügel schwangen unter kurzen, mühsam verhaltenen Atemstößen.

»Kommen Sie 'rein. Sagen Sie: was ist?«

Da trat sie über die Schwelle, durchquerte folgsam das Schlafzimmer, und als er die Lampe auf den Schreibtisch gesetzt hatte, stand sie wiederum reglos und starrend.

»Ist Ihrer Mutter was passiert? Ist sonst ein Unglück geschehen? Sagen Sie! Sagen Sie doch! … Ja, wenn Sie nicht reden, dann muß ich die Mutter rufen.«

»Nicht die Mutter rufen! Nicht die Mutter rufen!«

Sie streckte den rechten Arm flehend gegen ihn aus; ihr linker Arm zuckte, um das Gleiche zu tun, aber unter dem trug sie die Mappe, die sonst zu Boden gefallen wäre.

»Dann kommen Sie her, setzen Sie sich und beruhigen Sie sich.«

Er ergriff sie bei beiden Händen, und dann führte er sie zu dem Sofa und drückte sie nieder. Drückte sie nieder, als ob das alles so sein müßte, er, der sie noch niemals anders als mit einem flüchtigen Handschlag angerührt hatte.

Nun saß sie da, ganz in seiner Gewalt.

Wenn er sie an sich gerissen und geküßt hätte, sie würde sich nicht im mindesten gewehrt haben. Alles wäre nur richtig und natürlich gewesen, denn mit den andern verfuhr er sicherlich auch so.

Aber das tat er durchaus nicht. Er setzte sich ihr gegenüber in seinen Drehstuhl, denselben Drehstuhl, den sie früher beim Staubabwischen so oft gestreichelt hatte, und dann zog er ihr mit einer sehr sanften Bewegung die Mappe unter dem Arme fort und legte sie auf den Tisch.

Nun wäre der Augenblick dagewesen, die Rede zu beginnen.

Aber solch eine Dummheit war gar nicht auszudenken. Wie hatte man wagen können, so etwas auszudenken?

Was sagte, was tat man nur, um dieses Eindringen zu erklären?

»Also?« fragte er. »Jetzt Mut gefaßt! Was verschafft mir die Ehre?«

Da – in höchster Not – fiel Fritz Kühne ihr ein und wie er vor drei Jahren zum ersten Mal gekommen war, sich für seine Zukunft einen Rat zu erbitten. Das konnte man ebenso machen.

»Früher, Herr Professor«, begann sie, »wenn Sie abends bei uns saßen, da sagten Sie mir manchmal dies und manchmal das … Und jetzt, wo ich es so nötig brauchen könnte, da sind Sie nie mehr da.«

»Ja, warum bin ich eigentlich nie mehr da?«

»Das weiß ich auch nicht«, stammelte sie.

»Nun, einen Grund wird es wohl geben. Und mir scheint, der wird nicht fernab von dem liegen, der Sie heute zu mir führt. Ist es nicht so?«

Sie schlug die Augen nieder, um nicht bejahen zu müssen.

»Eine Frage vorerst: Wie lange haben Sie Zeit?«

Nun hätte sie sagen müssen: »Ich muß fort«, oder: »Ich werde erwartet«, aber es saß sich so sicher und so wohlig hier, und er war so zart und so rücksichtsvoll, und darum erwiderte sie tapfer: »Ach, Zeit hätt' ich schon.«

»Dann nehmen Sie mal gleich Ihren Hut und Ihren Mantel ab. Sonst erkälten Sie sich.«

Sie tat gehorsam, was er begehrte, und er half ihr auch noch.

Und dann saß sie wieder in ihrer Sofaecke und blickte groß und vertrauend zu ihm hinüber.

Es war dieselbe Sofaecke, in der Herma damals gesessen hatte.

Daran dachte er und dachte weiter:

›Die erste zwischen diesen vier Wänden, die ihrer nicht unwürdig ist.‹

Und als er für eine halbe Sekunde die Augen schloß, war's ihm, als säße Herma statt ihrer dort, und in seinen Ohren klangen die Worte: »Das Nichtsein tut nicht weh.«

Er streckte die Hände aus und streichelte leise Helenens behandschuhte Rechte. Dabei schwor er sich zu: ›Ich will sie halten wie jene.‹

Sie aber schämte sich wegen des runzligen, rissigen Leders und zog eilends den Handschuh herunter.

Dann drehte sie langsam die innere Handfläche nach oben, und als er sie wieder streichelte, geschah es von selber, daß ihre Finger die seinen umschlossen.

»Wenn ich Sie recht verstehe, Kind«, sagte er, »so möchten Sie über Ihre künftige Lebensgestaltung etwas von mir erfahren.«

»Ja«, sagte sie eifrig, »das ist es. Ach ja.«

»Aber dazu müßte ich erst wissen, wer Sie sind. Ich kenn' Sie ja gar nicht.«

Das war richtig. Er kannte sie gar nicht. Was als Schönstes und Tiefstes in ihr lebte, davon ahnte er erst recht nichts. Und durfte auch nicht.

»Wenn – wenn Sie sich – die Mühe geben wollten, mich – kennenzulernen«, sagte sie stockend.

»Ihre Mutter weiß nichts davon, daß Sie hier sind?«

Sie schüttelte voll Entsetzen den Kopf.

»Dann könnten Sie wohl auch manchmal wiederkommen. Könnten Sie das?«

»O ja«, sagte sie und erzählte von dem Zirkel, den sie abends oftmals besuchte und der ab und zu wohl zu entbehren war.

Aber dann fielen plötzlich die beiden Stimmen ihr ein, die sie schon ganz vergessen hatte, und alles andere, das jemals verräterisch an ihr Ohr gedrungen war.

»Nein, ich kann nicht«, sagte sie hart und schoß in die Höhe.

»Was ist? Was ist?« fragte er ganz bestürzt.

»Ich muß gehen«, sagte sie, »und ich kann auch nicht wiederkommen. Nie mehr kann ich wiederkommen. O nein. Nie mehr.«

»Das ist alles so widerspruchsvoll«, meinte er nachsinnend, »da muß noch allerhand dahinterstecken, was Sie mir jetzt sagen werden.«

»Nein, das werde ich nicht.«

»Ja, das werden Sie«, befahl er, »und zwar auf der Stelle.«

Damit faßte er sie um den Oberarm und drückte sie auf ihren Sofaplatz zurück. Und diesmal war es Gewalt, die er übte und gegen die es keinen Widerspruch gab.

In ihrer Wehrlosigkeit fing sie zu weinen an.

»Ich werde warten, bis Sie sich ausgeweint haben«, sagte er durchaus ungerührt.

Und weil es doch nichts half, versiegten die Tränen sofort.

»Also?«

»Wie kann ich denn wiederkommen?« maulte sie. »Man muß ja immer fürchten, daß schon ein Besuch da ist.«

Ein leiser Pfifflaut bezeugte sein rasches Verstehen. »Was wissen Sie von meinen Besuchen?«

»Man hört ja genug durch die Wand«, stieß sie hervor.

Nun war es heraus – ganz anders, als sie es sich vorgenommen hatte – aber nun war es heraus.

Er stand auf und machte durchs Zimmer zweimal die Runde, dann blieb er vor ihr stehen.

»Das hab' ich nicht gewußt«, sagte er. »Und das tut mir leid. Viel mehr tut es mir leid, als Sie sich in diesem Augenblick vorstellen können.«

Dann ging er wieder schweigend umher und machte von neuem halt.

»Wie lange fällt Ihnen das schon auf?«

Sie zuckte die Achseln.

»Nun?«

Wenn er so kurz fragte, gab es kein Ausweichen und kein Verhehlen.

»Ach, jahrelang schon«, stammelte sie.

»Auch Ihrer Mutter?«

»Meiner Mutter – erst recht.«

»Warum hat sie mich nicht gewarnt – um Ihretwillen gewarnt?«

»Ihnen gegenüber – traut man sich – so was doch nicht.«

»Aber Sie haben sich's getraut?«

Da erst wurde ihr klar, wie unmädchenhaft, wie ganz ohne jedes Schamgefühl ihr Betragen soeben gewesen war. Und darum fing sie von neuem zu weinen an. Aber diesmal flossen die Tränen immerfort. Gar nicht zu bändigen waren sie.

»Wenn die Wand so indiskret ist«, sagte er, »dann werden Sie sich wohl zusammennehmen müssen. Und sprechen dürfen wir auch nur leise. Sonst merkt Ihre Mutter schon heute, wer da ist.«

Der Schreck fuhr ihr eiskalt durch die Glieder.

»O Gott«, flüsterte sie, »daran hab' ich gar nicht gedacht.«

»Hören Sie mich an, mein Kind«, sagte er, gleichfalls die Stimme senkend. »Ihr Kommen ist ein großes Geschenk, das das Schicksal mir macht. Wieviel es für mich bedeutet, das kann ich heute noch nicht übersehen. Und auch für Sie wird es nicht ohne Bedeutung sein, vorausgesetzt, daß Sie Vertrauen zu mir haben. Und darum frage ich Sie: Wenn fortan niemand außer Ihnen jene Schwelle überschreitet, werden Sie dann wiederkommen?«

Sie antwortete nicht, aber in ihrem dankbar aufstrahlenden Lächeln las er alles, was er zu lesen begehrte.

»Ich will Ihnen ein Geständnis machen«, fuhr er fort. »Das sind nun Weihnachten zwei Jahre her, und Sie standen hier dicht neben dem brennenden Baum, da wünschte ich mir das, was heute geschieht, zum erstenmal.«

In wohliger Betäubung hörte sie ihn reden. Sie wußte: Seit jener Weihnachtsnacht war manches anders geworden. Wodurch? Weshalb? Danach hatte sie sich niemals gefragt. Aber über alles Fremdsein hatte sein Wunsch gesiegt.

Sein Wunsch und der ihre!

»Wie wird's diese Weihnachten werden?« fragte sie.

»Ich werde in meinem Zimmer sitzen und ihr in dem euren, wie es im vorigen Jahre war.«

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, diesmal soll's anders sein. Ich werd's schon möglich machen. Ich werd' schon.«

»Und wann kommst du wieder?«

Nein, sie hatte sich nicht verhört. Er hatte »du« gesagt. »Du« hatte er gesagt, wie man zu seiner Braut oder seiner Geliebten redet.

Bin ich nun schon so gut wie seine Geliebte?‹ dachte sie, denn daß sie seine Braut nicht sein konnte, verstand sich von selbst. Dazu war sie zu unreif und seiner zu wenig wert.

Hätte er sie jetzt in den Arm genommen, sie wäre sehr glücklich gewesen, aber er berührte kaum ihre Hand, als er fragte: »Warum antwortest du nicht, mein Kind?«

»Ich weiß nicht … Ich weiß gar nichts. Und – warum sagen Sie ›du‹ zu mir?«

Sie ahnte nicht, wo sie den Mut zu dieser Frage hergenommen hatte, aber da ja doch alles ganz unwirklich, ganz wie im Traume war, so kam es auch darauf nicht an.

»Soll ich nicht?« fragte er zurück.

»Doch, doch! Immer! Immer!«

»Und jetzt mußt du gehen«, mahnte er.

»Ja, ich muß gehen«, echote sie. Sie wäre noch gerne viel länger geblieben, aber das zu verraten hätte einen abscheulichen Eindruck gemacht.

Darum ließ sie sich willig den Mantel anziehen, stülpte den Hut über die Zöpfe und glitt auf Zehenspitzen zur Tür.

Erst als sie auf dem finsteren Hofe stand, fiel ihr ein, daß nun doch kein nächster Besuch verabredet war.

Aber sie grämte sich deswegen nicht.

›Wenn er mich haben will, wird er's mir schon zu verstehen geben‹, dachte sie. Und es war auch so schön gewesen, daß ein nächstes Mal gar nicht vonnöten war. Von dieser einen Stunde konnte man zehren, solange man lebte.

Und sie ging auch nicht mehr in den Zirkel, sondern lief nur noch eine Weile in den weniger belebten Straßen umher, um sich von der Frostluft die glühenden Backen abschminken zu lassen. Aber die glühten nur umso ärger.

Die Mutter merkte nichts. Nein, nicht das mindeste. Sie sagte nur: »Du kommst ja so früh.«

Und Helene dachte: ›Dann kann ich ja nächstes Mal noch länger bei ihm bleiben.‹

Am folgenden Tage war sie mit ihrer Ungewißheit nicht mehr ganz so zufrieden, und am folgenden gar begann sie ungeduldig zu werden. Aber von allein zu ihm zu gehen wie das erstemal, das war nun unmöglich. Das wäre dreist und zudringlich gewesen.

So wartete sie also noch zwei weitere Abende, besuchte auch einmal wirklich den Zirkel und wurde derweilen immer unglücklicher.

›Gewiß hat er an dem einen Male genug‹, dachte sie, ›und will mich nun gar nicht mehr. Ich bin ja auch viel zu dumm.‹

Aber da ereignete es sich durch einen günstigen Zufall – vielleicht hatte sie auch ein wenig nachgeholfen –, daß er ihr auf dem Roßgärtner Markte entgegenkam. Geradeso wie damals, als die abscheuliche Freundin an ihrer Seite gegangen war.

Sie erschrak wohl heftig, aber eine so furchtbare Angst wie früher hatte sie nun nicht mehr.

Er lüftete den Hut, und ohne im mindesten anzuhalten, sagte er gleichsam im Selbstgespräch: »Heut abend!«

Also heut abend!

Und da war sie. Gar nicht viel zu klingeln brauchte sie erst. Die Tür tat sich von selber auf, und er stand im Dunklen dahinter und ließ sie herein.

Sie sagte kein Wort, und er sagte kein Wort. Es war alles ganz selbstverständlich und wie im voraus bestimmt.

Die Mappe legte sie auf seine Bücher, dann zog sie den Mantel aus und nestelte den Hut aus den Haaren.

Dabei dachte sie: ›Ich bin schon ganz zu Hause hier.‹

»Nun noch die Handschuhe«, sagte er.

Und als ihre Hände bloß waren, nahm er sie wärmend zwischen die seinen und sah ihr lieb ins Gesicht.

Dann fragte er: »Wenn ich dich nicht aufgefordert hätte, wärst du wohl nie mehr gekommen?«

»Vielleicht doch!« erwiderte sie und fühlte dabei mit Beschämung, daß sie ihn recht kokett ansah. »Koketterie« aber galt als etwas höchst Verwerfliches bei den strengen jungen Damen des Zirkels.

»Wir wollen uns heut einen andern Platz aussuchen«, sagte er, »denn wir müssen jetzt arbeiten.«

»Arbeiten?« fragte sie erstaunt und beinahe erschrocken. An so etwas hatte sie gar nicht gedacht.

»Natürlich!« sagte er. »Ich darf dir ja deine Lernstunden nicht wegstehlen. Wenn du dann schließlich durchs Examen fällst, trag' ich womöglich die Schuld.«

Darin hatte er recht. So ganz war sie hingenommen gewesen durch die Hoffnung auf dies Wiedersehen, daß sie an eine solche Möglichkeit noch gar nicht gedacht hatte.

Er stellte ihr einen Stuhl vor den runden Tisch, an dem er sonst seine Mahlzeiten einnahm, und setzte sich ihr gegenüber. Ein weiter Raum lag zwischen ihnen, der jeder Vertraulichkeit feind war.

Und dann mußte sie ihre Mappe auskramen und ihm zeigen, wie das heutige Pensum aussah. In der Weltgeschichte waren die Kreuzzüge dran, in der Geographie Mittelamerika. Außerdem gab es da noch ein englisches Exerzitium und allerhand Lehrsätze der Pädagogik.

Bei dem Worte »Pädagogik« lief ein Schmunzeln um seinen Mund, das ihr verriet, wie wenig er sie diesem Lehrfach gewachsen glaubte.

Hiegegen verteidigte sie sich sofort.

»In einem Vierteljahr werde ich vielleicht schon zu unterrichten haben. Und dann muß ich doch die Grundsätze kennen, nach denen ich meine Schüler erziehen soll.«

»Nach denen du deine Schüler erziehen sollst – gewiß – gewiß!« bestätigte er und spitzte vor lauter Ernst die Lippen.

Als er dann ans Überhören ging und die Jahreszahlen der Kreuzzüge sich abhaspelten, ergab sich die spaßhafte Tatsache, daß sie alles weit besser wußte als er. Von der Belagerung der Stadt Damaskus im Jahre 1148 hatte er nur eine ganz verschwommene Vorstellung, und des Normannenkönigs Roger von Sizilien entsann er sich überhaupt nicht mehr.

Aber er schämte sich durchaus nicht, sondern lachte nur herzlich, und sie lachte womöglich noch mehr. Etwas Lustigeres ließ sich nicht denken.

Dann aber wies er plötzlich warnend nach der trennenden Wand, und beide verstummten.

Bei der Durchnahme der mittelamerikanischen Staaten erhob er gar keinen Anspruch mehr, die Grenzen und die Hauptstädte zu kennen, und sah einfach im Lehrbuch nach, genau so, wie die Mutter es machte.

Von den englischen Syntaxregeln wußte er überhaupt nichts, aber den Text las er so fließend wie Deutsch.

»Nächstes Mal wirst du mich besser beschlagen finden«, sagte er beim Abschied. »Auch deine Lehrer präparieren sich meistens, und mir wird es sehr gesund sein, das alles noch einmal zu lernen.«

Ja, so viel Mühe gab er sich mit ihr, und sie bedankte sich mit feucht werdenden Augen.

Überhaupt: die Tränen kamen ihr viel zu oft. Sie fragte sich immer, weshalb. Denn so glücklich war sie noch nie im Leben gewesen. – –

Die Dezemberwochen gingen dahin.

In der Selekta war sie mit einem Male die Beste, und alle staunten, wenn sie ihrer Weisheit die Zügel schießen ließ.

Ab und zu suchte sie auch den Zirkel auf, aber das war kaum noch nötig, denn was da vorkam, hatte sie alles schon vorher gewußt. Sie tat es auch hauptsächlich aus Klugheit, denn ihr gänzliches Ausbleiben wäre der Mutter vielleicht durch einen Zufall zu Ohren gekommen.

Und plötzlich war der Weihnachtsabend da.

Es war stillschweigend abgemacht, daß er wie früher um die Dämmerung mit seinen Geschenken erscheinen würde, um auch gleichzeitig die Gaben der Hausgenossen in Empfang zu nehmen.

An eine gemeinsame Feier war seit jener Nacht vor zwei Jahren nicht mehr gedacht worden.

Statt dessen wollten Mutter und Tochter zur Kirche gehen, wo zwischen sechs und acht ein Gottesdienst für die Armen stattfand. Helene sang ja im Kirchenchor – jetzt schon seit anderthalb Jahren.

Die Dunkelstunde nahte, und der Baum stand geputzt wie gewöhnlich. Aber die Mutter wich nicht aus dem Zimmer. Augenscheinlich fürchtete sie, den Augenblick zu verpassen, in dem der Professor eintreten würde.

Und da kam er.

Seine Pakete trug er unter dem Arm. Es war genau so wie immer. Aber in Helenens Seele jubelte es: ›Er, er!‹ und: ›Mein, mein!‹

Und ihr Geheimnis hing wie der Stern von Bethlehem über der Erde.

Was er ihr brachte? Viel zu viel! Beschämend viel! Da waren Bücher. Da war ein Bild. Auch ein Tintenwischer war da, weil sie unlängst mit verfleckten Fingern bei ihm erschienen war. Und wie hatten sie beide beim Abwaschen gelacht!

Was sie ihm gearbeitet hatte, war nicht der Rede wert. Zwei Schonerchen für die Sofalehnen. Mehr nicht. Zu einer Stickerei hatte die Zeit nicht gereicht.

Und während sie ihm mit zaghaftem Stottern die armen Läppchen hingab, gewahrte sie, wie die Mutter ihn argwöhnisch und voll neidischer Ungeduld nicht aus den Augen ließ.

Was er ihr selber geschenkt hatte, beachtete sie kaum. Und es war doch reichlich und schön. Eine Nachtuhr in Alabaster und Bronce, leuchtend von innen heraus, und dergleichen noch mehr. Aber das galt ihr nichts. Nur eines schien ihr von Wichtigkeit: Wie ihre Tochter und er miteinander verkehrten.

Gott sei gelobt, daß die Qual alsbald zu Ende war.

Er ging, und nach dem Baume, der schon fertig geputzt in der Ecke stand, fiel nicht ein Blick.

Aber sie hatte noch einen andern. Von dem wußte keiner. Der steckte zwischen dem Trödel des Hängebodens wohlverwahrt. Groß war er nicht. Man konnte ihn auf den Arm nehmen und zu ihm hinübertragen.

Aber wann? Frech müßte man sein, dann würde der Plan schon gelingen.

Die Zeit zum Kirchgang drängte. Erst nach der Heimkehr sollte die Bescherung vonstatten gehen.

Die Mutter zog schweigsam den Mantel an, und sie tat das gleiche.

In Schweigen verlief auch der Gang. Oh, es war recht ungemütlich! Aber jedes Weihnachtsgespräch wäre zur Lüge geworden, und darum gab sie sich drein.

Vor der Kirchentür trennten sie sich. Helene rannte die Treppen hinauf. Die Mutter blieb unten bei der Gemeinde. Zahlreich war die nicht. Auch von den Frommen hatten heute nur wenige Lust, in dem leeren Kirchenraume zu sitzen, der noch dazu dunkel und kalt war.

Vor der Orgel, rings um den Kantor geschart, ballten sich schwarz die Teilnehmer des Chores … Männlein und Weiblein – junge und alte. – Man begrüßte sich, man nahm die Notenblätter in Empfang und verteilte die Kerzen, die, auf eiserne Gestelle geklebt, nicht mehr als den nötigsten Lichtschimmer spendeten.

Der Kantor gab rasch noch etliche Weisungen, damit die Einsätze klappten, und Helene, deren Gehör sich selten beirren ließ, wurde fehlender Mitglieder wegen in die vorderste Reihe beordert, wo sonst nur Damen von Wichtigkeit standen.

Aber sie wehrte sich tapfer.

»Ich fühle mich sehr erkältet, Herr Kantor«, sagte sie, »ich fürchte, ich werd' Ihnen Schande machen.«

Da ließ er sie an ihrem gewöhnlichen Platze, dicht vor den Tenören, die immer von großer Beflissenheit waren.

Der Weihnachtsbaum war angezündet. Der Kantor gab die Stimmen an – C.E.G.C. – und dann konnte es losgehen.

»Vom Himmel hoch – da komm' ich her.« Nun hieß es fix sein!

»Verzeihung, Herr Lemke«, sagte sie würgend zu dem Meister des hohen C, der sonst Musseline und Tuche abmaß, »ich krieg' meinen Hustenanfall.«

Und damit schlüpfte sie in das Dunkel der Hintergründe.

Im Laufschritt nach Hause. Zum Bodenverschlag empor.

Da stand er – da stand er, der süße kleine Baum, von dem Mama keine Ahnung hatte.

Jetzt, hier anzünden? Oder bei ihm anzünden?

Nein, hier anzünden.

Und so geschah es.

Und so geschah es, daß Sieburth, der mit aufgestützten Ellenbogen vor sich niederstarrte, ungewiß, was mit des Abends Einsamkeit beginnen, ein Schlürfen, ein Rascheln vor seiner Zimmertür vernahm, die sich langsam auftat und einem schräg gestellten Lichterkegel Platz machte, der, den Türrahmen streifend, sich in das Zimmer hereinschob. Dahinter ein in lachendem Triumph strahlendes Angesicht.

»Helene – du!«

Rasch sprang er auf, hinter ihr die Tür zu schließen, und als er sich umwandte, da stand der Baum schon auf der Schreibtischplatte.

Die aber, die ihn gebracht hatte, hing jauchzend an seinem Halse.

»Du, du, du!«

So war auch sie zu dem »Du« gekommen – oder das »Du« zu ihr.

Er hatte es nicht erlaubt, er hatte es nicht erbeten.

Er hatte auch den Kuß nicht erbeten, der wie der Flügel eines huschenden Vogels seine Lippen gerade nur streifte.

›Sie schenkt, was sie hat‹, dachte er und nahm sie zärtlich in seine Arme.

›Ich will sie heilig halten!‹ schwor er auch heute.

Und dann war sie schon draußen.


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