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Der Obsidianarbeiter hatte vor seinem Hause gestanden und trat mit ihnen in die Werkstatt. Während er dem Prinzen Ohrring-Schlange behilflich war, den Korb zu öffnen, bewachte Guatemoc die Tür und ließ Coxtemexi nicht aus den Augen. Im Korbe befand sich, eingeschnürt in Decken, gefesselt und geknebelt, ein etwa zehnjähriger Knabe. Als man ihn aus den Hüllen herauswickelte, war er nahezu erstickt und lag wie tot da. Bei seinem Anblick entsann sich Prinz Ohrring-Schlange der Nachtfahrt auf dem schwimmenden Garten des jungen Königs von Tlacopan. Das ohnmächtige Kind war Menschen-Puma, jener kleine Opfersklave auf dem Inseltempel der Liebesgöttin, den Perlmuschel geschützt und an sich genommen hatte, als der Vom-Himmel-Gestiegene im Begriff war, ihn mit Pfeilen zu durchbohren.

Die Steinsplitter, mit denen der Boden der Werkstatt bedeckt war, betteten Menschen-Puma unsanft. Daher nahm ihn der alte Arbeiter auf seine sehnigen Arme und trug ihn ins Nachbarhaus zu den Federarbeiterinnen. Von weiblichen Händen gepflegt und ins Leben zurückgerufen werden sollte das regungslose, leichenfahle Kind.

Ohrring-Schlange hatte den Herabstoßenden Adler aufgeklärt über den Eingriff seiner Schwester in das Los Menschen-Pumas und die Vermutung geäußert, er werde Perlmuschel gestohlen worden sein, rätselhaft war nur –: in welcher Absicht? ... Auch der Herabstoßende Adler entsann sich, den Knaben als Begleiter der Prinzessin gesehen zu haben. Coxtemexi, befragt von den Prinzen, verweigerte trotzig jede Auskunft. Er wurde bedroht. Und als er eines der umherliegenden Obsidianmesser ergriff, sich zur Wehr zu setzen, entriß es ihm Guatemoc, und mit einem Edelsteinriemen, den er sich vom Nackenschmuck nahm, band er ihm die Hände. Haßerfüllt schlugen ihre Blicke aufeinander. Der Herabstoßende Adler konnte niemals verwinden, daß dieses Menschen Ränke die Schändung der Prinzessin Maisblüte begünstigt und ermöglicht hatten. Sein unverlöschlicher Haß rang einen stummen Ringkampf mit dem Haß des von ihm Geschändeten, dessen schönes Antlitz durch ihn in ein scheusäliges, nasenloses verwandelt worden war. Doch der Haß des einstigen Schönlings unterlag, sich selbst zwang er, diesmal zu unterliegen. Eine Entdeckung nämlich, eine nicht unwichtige, hatte Coxtemexi eben gemacht: das Haus, wo sie sich befanden, war ohne Zweifel das Versteck des verschollenen, totgeglaubten Ohrring-Schlange, den er, seiner huaxtekischen Verkleidung ungeachtet, nicht verkennen konnte ... Jetzt galt es, den Prinzen zu willfahren, – denn ließen sie ihn am Leben, so war ihm der Dank des Zornigen Herrn gewiß. Scheu senkte er den Blick vor dem Blick des Herabstoßenden Adlers und bequemte sich, die Wahrheit zu sagen.

Die Geschwisterehe des Vom-Himmel-Gestiegenen und der Prinzessin Maisblüte sei keine glückliche, erzählte er. Die Prinzessin verachte ihren Gatten und versage sich ihm. Um seine Schwermut abzuschütteln, habe der Königssohn andere Liebschaften angeknüpft und in einem wilden Leben, zügelloser noch als vor seiner Ehe, Zerstreuung gesucht. Doch sei bei Tänzerinnen und Flötenspielerinnen sein Herz nicht gesundet. Verflucht fühle sich der Vom-Himmel-Gestiegene von der Liebesgöttin Xochiquetzal, weil er ihr das geweihte Opfer vorenthalten habe, den kleinen Menschen-Puma. Die Furcht vor der Rache der Göttin habe in ihm den Wunsch geweckt, das Kind in seine Gewalt zu bekommen, um es auf dem Inseltempel mit Pfeilen zu durchbohren. Ihm, Coxtemexi, war der Auftrag erteilt worden, den Knaben zu fangen. Doch alle bisherigen Versuche mißglückten, da das Kind unbewacht den Palast nie verließ. Erst die heute nacht durch das Gebrüll des Rauchenden Berges und das Erdbeben verursachte Verwirrung hatte es ihm ermöglicht, in den Schloßgarten der Herrin von Tula einzudringen, wo er den aus dem Palast geflüchteten Menschen-Puma schutzlos vorfand, ihn knebeln und forttragen konnte, ohne daß die Hilferufe im allgemeinen Gewirr und Getöse beachtet wurden.

»Die Krankheit wird dich besuchen für diesen Frevel!« knirschte der Herabstoßende Adler.

Doch Coxtemexi beteuerte, schuldlos zu sein, er habe nur ausgeführt, was ihm aufgetragen war, ein größerer Frevel wäre es gewesen, dem Sohn des großen Montezuma den Gehorsam zu verweigern.

»Darum gabst du ihm die Flöte in die Hand und kleidetest ihn in die Gewänder des hinkenden Gottes!« schrie der Herabstoßende Adler. »Mit deiner Nase hast du jene Tat bezahlt ... Womit wirst du diese bezahlen?«

»Nicht mit meinem Leben!« sagte Coxtemexi. »Meine Schönheit konntest du mir nehmen, meine Häßlichkeit wirst du mir nicht nehmen!«

Der Herabstoßende Adler lachte. Doch Coxtemexi fuhr unbeirrt fort:

»Ein kostbarer Smaragd ist meine Häßlichkeit nicht – was kann dir an ihr gelegen sein! ... Wenn ich lebe, kann ich dir den Mann nennen, der statt meiner das Flötenspiel Tezcatlipocas mit seiner Nase hätte zahlen müssen, denn ein anderer träufelte dem Vom-Himmel-Gestiegenen den giftigen Rat ins Herz. Entkomme ich heil dieser Gefahr, so nenne ich dir jenen ... Die Toten aber sind stumm.«

Aufgehorcht hatte der Herabstoßende Adler, verändert war sein Gesicht. Ein undurchspähbarer, unergründlicher, bodenloser Schlund schien sich vor ihm zu öffnen.

»Nenne mir den Mann!« flüsterte er heiser.

Den Kopf schüttelnd, antwortete Coxtemexi:

»Meine Häßlichkeit ist kein Smaragd, – auch mir ist nichts an ihr gelegen! Nimm sie, wenn du magst. Doch jenen nenne ich nur, nachdem ich dieser Gefahr entronnen und frei bin! ...«

Da begriff der Herabstoßende Adler, daß er diesen Menschen nicht zwingen konnte.

Leise besprachen sich die beiden Prinzen. Es mußte verhindert werden, daß Coxtemexi, der Prinz Ohrring-Schlange gewiß erkannt hatte, das Geheimnis seiner Anwesenheit in Tenuchtitlan verrate. Die Freunde beschlossen, Menschen-Puma bei den Arbeiterinnen zu lassen und seinen Räuber in den Huei-Tecpan zu bringen, wo der Vorsteher des Hauses der Edelsteine einen Flügel bewohnte. Unauffällig konnte Coxtemexi dort in Gewahrsam gehalten werden.

Und so führten sie es aus, während in Tenuchtitlans Gassen weißer Aschenregen herniederflockte.


Ein Mal von Verheerung hatte das Erdbeben nicht hinterlassen, Menschen waren nicht zu Schaden gekommen, nur wenige Häuser wiesen Risse auf. Dennoch mußte, alter Sitte gemäß, sich der Herrscher Mexicos in den Schlangenberg-Tempel begeben, das Baumorakel zu befragen.

Das zu tun, hatte Montezuma Ursache genug – nicht nur des Erdbebens wegen. Oft seit Urzeiten hatte die Erdkröte gezuckt – denn als ein lichtschlingendes Ungetüm, eine Kröte, in deren aufgesperrten Rachen das Feuersteinmesser des Lichtes glitt, wurde die Erde gedacht. Daß aber gerade in diesen Tagen die Erdkröte zuckte, war nicht nur ein Zeichen göttlichen Mißvergnügens, vielen überhandnehmenden Prognostiken gliederte dieses letzte sich an, und sie alle offenbarten einen Aufruhr im Volke der Sterngötter. Die himmlischen und die irdischen Throne wankten. Das Gerücht von einem Friedensschluß in TIascala wollte unter den Bewohnern Mexicos nicht verstummen. Und bei Tag und Nacht verfolgte den Zornigen Herrn das schweifende Haupt, der fliegende gespenstische Schädelkopf, rollte auf dem Estrich, hohl und dumpf summend wie eine rollende leere Kalebasse ...

Obgleich vom Großen Palast bis zum Schlangenberg nur wenige Schritte zu gehen waren, ließ sich Montezuma in einer mit Goldblech beschlagenen und im Inneren mit blauen Kotingafedern austapezierten Sänfte, einem Meisterwerk der im Huei-Tecpan wohnenden »Federarbeiter des Königs«, in den Haupttempel Mexicos tragen.

Genau in der Mitte der Laguneninsel nahm das quadratische Gelände des Schlangenberg-Tempels einen Raum von so überwältigender Größe ein, daß die Stadt ringsher mit ihren steilaufragenden Teocallis, ihrem Gewirr von Kanälen und Gassen, Marktplätzen und Adelswohnungen, alten und neuen Königspalästen nur wie eine Umbordung dieses eigentlichen, gottbewohnten Mexicos sich ausnahm. Hier war der Weltmittelpunkt, die Behausung des Stammgottes der Azteken und Chichimeken, des Wunderbaren Huitzilopochtli, die älteste, grausige, blutgetränkte Kultstätte des Kolibrigottes.

Gleich allen Tempeln Anahuacs hatte auch diese Tempelburg eine hohe, festungartige, zinnengekrönte Mauer – die altberühmte Schlangenmauer – aus Steinquadern erbaut, mit je einem Toreingang nach Osten, Süden und Westen. Auch die Anordnung der Heiligtümer unterschied sich nicht von der anderer Tempelbezirke. Aber während des Schlangenberges Stufenpyramide, trotz ihrer Bergeshöhe, die im Stadtviertel Tlatelolco befindliche Speerhaus-Pyramide Tezcatlipocas, des Unheimlichen, nicht überragte und verglichen mit den Riesenpyramiden Teotihuacans und Cholulas kaum überhoch erschien, häuften sich hier die Bauten, Altäre und Betplätze in einer so verwirrenden Fülle, wie sie nirgendwo sonst anzutreffen war. Außer der mächtigen Stufenpyramide ragten innerhalb der Schlangenmauer nicht weniger als fünfundzwanzig kleinere Tempelpyramiden empor. Statt einer Schädelstätte gab es deren sieben, statt eines Badeplatzes blinkten drei jaspisumrandete Badeteiche. Auch sah man hier ein Gefängnis der fremdländischen Götter, etliche Gärten und Fontänen, zwei Ballspielhäuser, in welchen zu spielen dem Wunderbaren Huitzilopochtü vorbehalten war, einen mächtigen Scheibenstein für den Gladiatoren-Opfertod – der Irdene Krug hatte auf ihm geblutet –, mehrere große Tanzhöfe, Gartenhäuschen für Fastende und, neben zahllosen Priesterwohnungen, ein Adlerhaus mit Rüstkammern voll Speeren, Pfeilen, Keulen und Opfermessern und mit Schlafsälen, darin die jungen, in die Mysterien einzuweihenden Adler und Jaguare übernachteten.

Am südlichen Tempeltor wurde der Zornige Herr, da sein Besuch nach dem Erdbeben selbstverständlich war, von der versammelten Priesterschaft, dem hohen und niederen Klerus, erwartet und ehrerbietigst empfangen. Sie alle hatten Gesicht und Körper schwarz geschminkt, und als Nasenschmuck flirrten in ihren durchlöcherten Nasen schimmernd weiße Totenknochen. Die Neophyten gingen unbekleidet. Die Unterpriester – die Brennholzschlepper, Kerzenbündelträger, Tempelsänger, Flurfeger, Räucherer und Feuerbohrer – waren in tiefschwarze Meßgewänder gehüllt, ihre verfilzten, nie gekämmten Haarwülste starrten struppig auf, gleich finsteren Aureolen die Stirnen umbuschend, ihre Ohren waren ausgezackt und zerfetzt, denn sich kasteiend, mußten sie sich Zunge und Ohren mit Knochendolchen durchstechen, sie hatten Tabaktäschchen auf dem Rücken, hielten in den Händen Kopalbeutel, Opfervögel und Papierfähnchen. Ebenfalls schwarz war das Ornat der höheren Priester und Obersten in der Hierarchie – »des Herren des schwarzen Hauses«, des »Furchtbaren Opferers«, des »Blutvergießers«, des »Sich in Blut Kleidenden« und wie sie heißen mochten – Mitglieder des Königshauses befanden sich unter diesen –, doch unterschieden sich ihre Priestergewänder dadurch, daß sie schmutzstarrend waren, klebrig und stinkend von verharschtem, dunkelrotem Blut und mit weiten wallenden Ärmeln versehen aus gegerbter Menschenhaut. Der Fürst der Priester aber–das Mexikaner-Priesterchen genannt – ging in schlohweißem Talar und lang herabhängendem Zopf, einen Federstab haltend, wie gleichfalls eine Priesterin, über deren Tätigkeit der Name ihres Ranges keinen Zweifel ließ, denn sie wurde als die »Frauenköpfe sammelnde Weiße Frau« bezeichnet.

Die Trommelschläger und Trompeter mit großen Muschelhörnern erhoben einen ohrenbetäubenden Lärm, als der Zornige Herr den Tempelbezirk betrat. Die Tempelsänger, geleitet vom Vorsänger, sangen in rauhem Baß uralte, ihnen selbst kaum mehr verständliche Kultlieder von der Geburt des jungen Kriegers Huitzilopochtli.

Ich bin Huitzilopochtli, der junge Krieger,
Niemand kommt mir gleich.
Nicht ohne Grund nahm ich den Toztlifedermantel,
Durch mich wurde es Tag!

Das Mexikaner-Priesterchen war ein hoher hagerer Greis mit düsterem Gesichtsausdruck. Schon zur Zeit des furchtbaren Königs Molch war er Hoherpriester gewesen; und Montezuma, der kurz vor seinem Regierungsantritt noch als Unterpriester das dunkelrote Edelsteinwasser von den Marmorstufen der großen Schlangenberg-Pyramide abwusch, hatte oft seine unbeugsame Strenge erfahren, war auch einmal, einer kleinen Übertretung wegen, auf Befehl dieses Mannes von Mitpriestern auf den Schilfsee hinausgebracht, untergetaucht und mit Keulenschlägen übel zugerichtet worden, bis er wie tot am Seeufer lag. Aber kein Rachegefühl hatte dies Strafgericht im Herzen des Zornigen Herrn zurückgelassen, und obgleich das blaue Herrscherstirnband ihn schmückte, empfand er auch jetzt noch eine fast kindliche, unerklärliche Scheu und Ehrfurcht vor dem Mexikaner-Priesterchen. Diese Scheu war der Grund, daß er in letzter Zeit, obgleich von Sorgen zermartert, es vermieden hatte, den Vertreter der Staatsreligion um Rat anzugehen, und bei Eulenmenschen, Maiskörnerstreuern, Kristallbeschauern und Fadenknüpfern Trost gesucht hatte. Aber ungetröstet durch den Aberglauben und dem Einfluß seines abwesenden Doppelgängers – des Tempel-Fegers – entzogen, nährte Montezuma, sich selbst kaum bewußt, die Hoffnung, daß der heutige unfreiwillige Besuch eine Annäherung bringen und eine Brücke schlagen könnte zum vernachlässigten Götterhimmel.

Die gleiche Hoffnung hegte das Mexikaner-Priesterchen. Sein Ziel war es, die einstige Macht über den leicht beeinflußbaren König zurückzugewinnen. Lange genug hatte er mit scheelen Augen mit ansehen müssen, ohne es ändern zu können, daß bei Hofe Zauberer ihr Unwesen trieben und die Einnahmen der wahrsagenden Priesterschaft beeinträchtigten. Mehr aber noch als an den Einnahmen seines Tempels war ihm am Einfluß gelegen, der dem obersten Priester des Kriegsgottes im Rate des Drei-Städte-Bundes zukam.

Obwohl ihm bekannt war, mit wie demütigender und eingefleischter Scheu seine Gegenwart den Zornigen Herrn erfüllte, begrüßte er ihn mit der devoten Anrede:

»O großer König, o du von aller Welt geliebter Sohn! Du bist das wiederherstellende Wasser und das zerfressende Feuer, redend hältst du in deinen Händen unser Leben und unseren Tod. Huitzilopochtli hat dich erwartet, hat dich herbeigesehnt: der Gott jubelt, daß du den Weg zu ihm fandest!«

Montezuma überhörte den Vorwurf, der nicht einmal gerecht war, denn erst vor kurzem, als der Irdene Krug auf dem Scheibenstein die Todeswunde erhielt, war der König mit dem Hofstaat im Schlangenberg-Tempel gewesen, wenn auch die Zeremonien des Opferfestes und der nicht endende Gladiatorenkampf Zeit zu einem Zwiegespräch nicht gelassen hatten.

»O mein Oheim und Vater«, sagte Montezuma, »unser mächtiger Gott Huitzilopochtli hält, wenn er redet, Leben und Tod. Ich komme, ihm die Füße und die Hände zu küssen. Mein Silberthron ist sein. Möge er uns alle unter den Schatten seines Erbarmens nehmen! ... Nun aber führt mich zum Orakelbaum, damit er mir sage, damit er mir verkünde, was die Erde zittern macht – wenn ich mich auch für unwürdig halte, das Geheimnis der Götter zu erfahren! ...«


Die Hunderte von Unterpriestern blieben am Tempeleingang zurück, nur vom höheren Klerus wurde Montezuma durch das Gelände geführt. Sie mußten die große Stufenpyramide umschreiten, da sich die Orakelkapelle dahinter befand. Sich verjüngend, in fünf terrassenartigen Absätzen, ragte die Pyramide in die Wolken hinauf, und ein um ihre vier Seiten herum in eckigen Spiralen sich aufwärts windender, kaum ellenbreiter steinerner Steg verband Terrasse mit Terrasse und führte bis zur obersten – Menschenwürgeplatz genannten – Plattform empor. Dieser äußere Steinsteg wurde jeweils von den todgeweihten Opfern und den sie begleitenden Prozessionen beschritten, so daß von jedem Stadtteil aus die Bewohner Tenuchtitlans imstande waren, den Todesgang der mit Daunen beklebten ins Land des Morgensterns Wandernden zu sehen. Außerdem führte zur Plattform eine überaus steile Marmortreppe, deren Treppenwangen mit dem seltsamsten Geschlinge gemeißelter Fabelwesen verziert waren. Und senkrecht war die Treppe in zwei Hälften geteilt durch eine handbreite Marmorrinne, über welche an Festtagen die Bäche des karminroten Edelsteinwassers zur Erde herabströmten.

Die Blicke Montezumas hefteten sich an die Treppe. Dort hatte er gekniet und demütig den Marmor gescheuert, als das Schicksal nahte, ihm ein Diadem aufs Haupt zu setzen ... Und weiter aufwärts schweiften seine Blicke. Dort auf der Plattform hatte er, ein blutgewohnter Priester, Arm oder Bein manches unglücklichen Opfers halten müssen ... Ja, damals war er schon blutgewohnt, aber reinen Herzens damals ...

Zwei große goldglitzernde Sanktuare standen auf der Plattform dem Treppenaufgang gegenüber. Rechts ein hohes, Huitzilopochtli geweihtes, und links, an dieses angebaut, eine um etwas niedrigere Kapelle des Regengottes Tlaloc. Über den mit rotbemaltem Holz eingefaßten Eingängen strebten die beiden Sanktuare als viereckige Türme empor, überreich an der Vorderseite verziert, der Turm des Regengottes mit stilisierten, blau-emaillierten Wasserstreifen, der Turm Huitzilopochtlis aber mit einem funkelnden Sternhimmelfries, zwischen dessen erhaben skulpierten und leuchtend metallisch gefirnißten Sternbildergruppen riesenhafte, aus Alabaster gemeißelte Totenköpfe schneeweiß hervorschimmerten. Wie nachts hier das ewige Feuer, so brannte und flammte strahlend am Tage der Sternhimmelfries einem Fanal ähnlich über der Wasserstadt, aus großer Ferne sichtbar noch, wenn die Häuser im Sonnendunst verschwammen, ein Nachtweiser und Tagesweiser zugleich den Bootfahrenden und Wandernden, ein Drohungszeichen den Feinden, das Symbol der tributerraffenden Königin aller Städte und ihrer Weltbedeutung, der höchste Stolz ihrer Erbauer.

Montezumas prüfendes Auge entdeckte, daß die Mörtelschicht des bunten Firnisses an einigen Stellen abgelöst und abgebröckelt war. Er fragte den Hohenpriester, ob das Erdbeben diesen Schaden verursacht habe. Das Mexikaner-Priesterchen sagte:

»O du von aller Welt geliebter Sohn! Das Zucken der Erde kann an den Sternenhimmel nicht rühren. Doch nie beiseite legen wird mein Herz, daß das Haus des Furchtbaren Huitzilopochtli verwittert und verblaßt ist ...«

Als sie vor die auf einem kleinen Felsen stehende Orakelkapelle gelangt waren, blieb die Gefolgschaft zurück, und der König, der Hohepriester und ein Orakelkünder klommen den Felspfad empor und traten ein.

Die dachlose Kapelle war ein uralter, schmuckloser, weißgetünchter Bau, vier mit einer niedrigen Tür versehene glatte Wände, aufgerichtet rings um einen zeitzermürbten Nopalbaum. Hier war der Mittelpunkt der blauen Erdscheibe. Um dieses älteste Bauwerk herum war im Laufe von Jahrhunderten der weite Komplex des Schlangenberg-Tempels entstanden, und auch das große Mexico war emporgewachsen aus diesem unscheinbaren Kern. Die Geschichte des Nopalbaumes und seiner Ummauerung war die Geschichte der Gründung des Aztekenreiches. Eine ellenbreite, weithin duftende weiße Silberreiherblume in der Hand haltend, hatte der Stammgott, der blaubemalte Huitzilopochtli, den in der siebenten der Urmenschenhöhlen zurückgebliebenen Azteken befohlen, aus dem Reiherland auswandernd, denselben Weg einzuschlagen, den vor ihnen die Tolteken, Chalken, Tepaneken, Culhuas, Tlalhuiken und Tlascalteken gezogen waren. Als sie nach Mechoacan kamen, hüpften die aztekischen Weiber vor Freude in einem Wassertümpel, die hinzukommenden Azteken aber beraubten sie der Röcke, Hemden und Schamgewänder, so daß sie hüllenlos zurückbleiben mußten. Da ging Malinalxoch, die Schwester des Wunderbaren Huitzilopochtli, die Nackten zu trösten, und erregte dadurch den Zorn ihres Bruders. »Ich stieg herab, der Welt den Krieg zu bringen und mich mit Bogen, Pfeil und Schild zu schmücken. Meine Schwester aber, die Zauberin, raubt den Männern die Waden«, sprach der Gott. Und den seiner Schwester dienstbaren Greisen verbot er, fürderhin ihre Sänfte zu tragen. Nachts, während Malinalxoch schlief, brach das aztekische Heerlager heimlich auf. Erwachend, sah sich Malinalxoch ausgesetzt, nur wenige Frauen und Greise waren bei ihr geblieben. Umsonst klagte sie weinend die Heimtücke ihres Bruders Huitzilopochtli an – von den Fortgezogenen fand sie keine Spur, und sie mußte mit den Leidensgefährten sich in öder Kaktussteppe ansiedeln. Die Azteken zogen von Land zu Land, weilten an einigen Orten Jahrzehnte, an anderen nur wenige Wochen, und ihr Gott beherrschte sie, aus einer Urne redend, welche von Priestern in einer Lade umhergetragen wurde. Den erlahmenden Mut seines durch Not und Krankheit hinschwindenden Volkes aufzufrischen, zauberte Huitzilopochtli in der Umgebung Tulas seinen schimmernden Schilfsee hin, der sich vor den Augen der staunenden Azteken mit silbrig beschuppten Fischen füllte, sich mit Wasserrosen, Zypergras und Kolbenröhricht bedeckte und überflogen und durchschwömmen war von zahllosen blinkenden Wasservögeln, Edelreihern, Ibissen, Seeraben, Sichlern und Blauflügelenten. In der folgenden Nacht aber schnitt Huitzilopochtli allen Kleinmütigen das Herz aus der Brust, und den Überlebenden versprach er, sie an den seligen Ort zu führen, den er ihnen als Luftspiegelung gezeigt hatte. Er führte sie nach Chapultepec, dem Heuschreckenhügel, und sie sahen den Schilfsee und erkannten, daß er an Schönheit seinem Zauberbilde gleichkam. Doch obgleich die mächtigen Tepaneken ihnen für geringe Abgaben gestatteten, Lehmhütten am Seeufer zu bauen, gerieten sie alsogleich in Lebensgefahr und Bedrängnis. Copil, der Sohn der Gottesschwester Malinalxoch, nahte mit einer bewaffneten, durch aufgestachelte Nachbarvölker vergrößerten Horde, um die seiner Mutter angetane Schmach zu rächen. Vor ihm flüchtend, setzten die Azteken auf Flößen nach einer der unbewohnten Laguneninseln über. Copil folgte ihnen dahin, erlag jedoch im Kampf, sein Herz, ihm aus der Brust gerissen, wurde Huitzilopochtli dargebracht und sein Leichnam zwischen Röhricht im See versenkt. In der Nacht aber sprach der Gott aus der Urne: »Ich habe euch gehalten, was ich euch versprochen. Ich habe euch an den Schilfsee und an den Ort geführt, wo ihr bleiben werdet, um Gold und Silber, Perlen und Edelsteine, Edelfedern und kostbare Mäntel, Söhne und Töchter allen Völkern der Welt zu rauben. Das Herz Copils, das ich euch herauszuschneiden befahl, brachtet ihr mir auf einem kleinen Felsen dar. Sein Blut verwandelte ich in eine Quelle; und aus dem Herzen ließ ich einen Nopalbaum wachsen, auf dessen Spitze ein Adler horstet und die schönen Flügel spreitet, gewärmt von der Sonne und erfrischt von Morgenwänden. Wenn es tagt, werdet ihr ihn sehen und die vielen grünen, blauen, roten und weißen Federn der Edelvögel sehen, von denen er sich nährt, und den Felsen mit dem Nopalbaum sehen, dem ich den Namen Tenuchtitlan verleihe.« Und als im Frührot die Azteken sich erhoben, gewahrten sie eine wunderschöne weiße Quelle am Fuße des Felsens und neben der Quelle einen Sadebaum, weißglitzernd wie Salz, die Rinde seines Stammes, seine Äste und Zweige und sämtliche Blätter waren salzweiß. Und sich umschauend, sahen sie, daß ringsher alles Gras und alle Büsche und Stauden salzweiß waren. Und aus dem Quellwasser stiegen wunderschöne salzweiße Frösche. Auf dem Felsen aber, der mit Edelfedern bestreut war, ästete sich ein stachelumpanzerter Nopal, ein Feigenkaktusbaum, empor, ebenfalls salzweiß, und ein weißer riesenhafter Adler horstete auf dem Nopal und zerkrallte eine wütend sich wehrende weiße Schlange ...


Die von Montezuma betretene Kapelle war von jenen ersten Ansiedlern zum Schutz des Nopals aufgerichtet worden, und noch immer war es derselbe jahrhundertealte Baum, den sie umfriedete. Ein abgerichteter Adler, mit einer Goldkette an die oberste Abzweigung des Kaktusstammes gefesselt, hatte die Aufgabe, dem Orakelpriester das Baumorakel zu offenbaren, der dann, in einen Rauschzustand versetzt, den Orakelsinn deutete.

Das Mexikaner-Priesterchen – in dessen Blute das Lebensblut des heiligen Baumes fortlebte – hatte, als er in die Kapelle trat, sich ein etwa einjähriges Kind reichen lassen, wie solche zu Opferzwecken auf den Märkten Mexicos zu kaufen waren, und hielt es dem Raubvogel hin. Dieser nahm das Kind in die Krallen und bewegte den Kopf, ihn herabsenkend, langsam hin und her. Es konnte als eine Begrüßung des Königs gedeutet werden.

Der Orakelpriester, ein durch Kasteiungen ausgemergelter, hohlblickender Mensch, hatte inzwischen seine Gewänder abgelegt und sich auf einen niedrigen Ast des Kaktus gesetzt, so daß ihm das Blut von den Schenkeln und Waden herabtroff. Aus einer Ledertasche nahm er eine Giftsalbe und beschmierte seinen nackten Oberkörper damit, bis er in einen Traumzustand geriet. Unablässig starrte er nach dem Adler hinauf. Doch das Erwartete blieb aus. Der Adler fraß das Kind nicht.

Von einer fiebrigen Erregung wurde Montezuma ergriffen. Auch das Mexikaner-Priesterchen konnte seine Besorgnis nicht verbergen.

»Warum verschmäht er die Speise?« fragte endlich Montezuma flüsternd.

»Der Baum zürnt!« ließ sich die schwebende Stimme des Orakelpriesters vernehmen. Sie klang wie von anderswoher.

Mit pochendem Herzen fragte Montezuma weiter: »Wie kann ich den Baum beschwichtigen? ...«

»Laß den Sternhimmel am Turm des höchsten Heiligtums mit Edelsteinen überdecken! – sagt der Baum.«

»Ich habe so viel Edelsteine nicht!« rief Montezuma entsetzt aus.

»Du hast den Schatz von Tezcuco – sagt der Baum.«

Da verstummte Montezuma.


Den folgenden Tag fastete der Zornige Herr. Er tat es, um, in seinen Gemächern oder im kleinen Tempel der Trauer verweilend, Guatemoc nicht zu begegnen, um ihm den Befehl noch nicht erteilen zu müssen. Wieder einmal fürchtete er sich vor den Augen seines Vetters, der als Vorsteher des Hauses der Edelsteine die Verantwortung für den Goldhort trug. Er fürchtete seine harten Augen mehr als die Vorwürfe, die Wut, die Raserei seines leidenschaftlichen Schwiegersohnes Cacama. Diesen, den er berauben wollte, konnte er mit dem Hinweis auf Mexicos Not beschwichtigen – aber nicht den unbestechlichen Hüter des Schatzes.

Wichtige Geschehnisse kürzten indes das Fasten ab, gaben auch dem Sorgensinn des Zornigen Herrn ein anderes Ziel, so daß er sich Zeit lassen konnte, die Antastung des fremden Goldes noch einige Tage länger zaudernd zu erwägen.

Der Tempel-Feger war nach Tenuchtitlan aus Cholula heimgekehrt und überbrachte unheilvolle Nachrichten. Die weißen Götter weilten in Tlascala, setzten Opfersklaven in Freiheit, verschwägerten sich mit dem Adel, verlobten sich mit den Töchtern der Tetrarchen, die Schwarze Blume hatte sich in Tlascala eingefunden und kniete vor dem Holzkreuz der Gelbhaarigen. Und selbst Prinz Kriegsmaske willigte ein, daß das Volk den neuen Glauben annahm. Beunruhigend war auch, was in Cholula vorging. Dort rieten Verängstigte bereits, dem Bunde der weißen Götter, der Tlascalteken und der Schwarzen Blume beizutreten, das Alte Raubtier und seine Berater und Mitpriester, wenn auch nach wie vor geneigt, die Fremdlinge in den Hinterhalt zu locken und zu vernichten, erklärten jetzt, die heimliche Aufforderung Montezumas genüge ihnen nicht, sie erwarteten eine öffentliche Aufforderung und müßten darauf bestehen, daß Mexico die Verantwortung für alle Folgen der Tat auf sich nehme.

Die höchsten Würdenträger, den Rat der Alten und alle Großen seines Reiches ließ der Zornige Herr zu einem Kronrat in den Saal der Dämonen rufen. Dazu war auch noch ein anderer Anlaß.

Aufgegriffen vom Schwelenden Holz an der Ostküste, waren die entlaufenen Sklaven Julianillo und Melchorejo nach Tenuchtitlan gebracht worden, und da sie nur die Mayasprache und einige Brocken Spanisch reden konnten, hatte, auf Anraten Guatemocs, der Rote Jaguar den Auftrag erhalten, ihre Aussagen beim Verhör zu übersetzen. Er tat es wörtlich, gab ungeschminkt ihre schamlosen Übertreibungen wieder, mit welchen sie den Mexikanern dartun wollten, die weißen Götter seien Feiglinge, entzweit untereinander, gering an Zahl, ein Haufe stelzfüßiger Verwundeter, ungefährlich und machtlos. Von sich aus aber klärte der Rote Jaguar den Herabstoßenden Adler auf, was hieran Wahres und was Lüge sein mochte.

Auf Montezuma und mehr noch auf den König Tezcucos, den Edlen Traurigen, übten die Aussagen der beiden Sklaven eine befreiende, bestimmende, richtunggebende Wirkung aus. Erwiesen sich die weißen Götter als ein Häuflein von Krüppeln – welch eine Schmach war es dann, daß Mexico vor ihnen gezittert hatte, nicht bald genug konnte dieser Ehrenflecken ausgewischt werden ... Ganz anders dachten Guatemoc und der Bruder Montezumas, der Überwältiger, und stillschweigend mißbilligten sie es, daß Montezuma den beiden Prahlern eine ehrenvolle Behandlung zuteil werden ließ, wie sie solche Sklaven nicht verdienten. Der Vorsteher des Hauses der Teppiche hatte nämlich Auftrag erhalten, Melchorejo und Julianillo mit je zwei Mänteln, Schambinden und Sandalen zu beschenken, sie mit Chilipfeffer, Maispasteten und Honigäpfeln zu beköstigen und ihnen sogar die Freilassung in Aussicht zu stellen, falls sie sich weiterer Einzelheiten entsännen, die geeignet wären, die Fremdlinge ihrer Göttlichkeit zu entkleiden ...


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